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Jede Blockade tut mir leid

Bekenntnis eines Aktivisten der Letzten Generation: „Jede Straßenblockade tut mir leid“ – Was geht in einem Klimaaktivisten vor, der die Straße blockiert, während eine Berliner Schulklasse zum Schwimmunterricht will? Ein Geständnis.

Ungefähr ein Jahr müsste es her sein, genau weiß ich es nicht mehr, aber die Bilder habe ich nicht vergessen. Ein kurzer Videoclip auf Twitter: Der Mann trägt Arbeitskleidung, irgendetwas Handwerkliches, steigt aus seinem Transporter aus, rennt auf die Straßenblockade der Letzten Generation zu, brüllt: „Ich habe keine Zeit, ich habe keine Kohle, wir sind alle pleite wegen Corona, ich muss jetzt hier durch.“

Ich dachte: „Fuck, das könnte auch mein Dad sein.“ Er wäre nicht so ausgerastet, nicht so aggressiv geworden, aber er war auch Handwerker, hatte auch nie Zeit, nie Kohle, im Zweifel stand immer schon der Betonmischer bereit an der Baustelle, und wenn die Bodenplatte nicht gleich gegossen würde, wäre der Tag gelaufen.

„Lasst uns doch bitte durch!“

Jetzt sitze ich selbst auf Straßen und blockiere den Verkehr, lasse mich dafür anpöbeln, wegzerren, verhaften, aber was viel schwieriger auszuhalten ist: Die Lehrerin, die vor uns steht und sagt, sie und ihre Schülerinnen konnten seit Monaten nicht zum Schwimmunterricht, jetzt ginge es mal endlich wieder, lasst uns doch bitte durch.

Der Umwelttechniker, der auf dem Weg zu einer Begehung ist, weil eine Fassade energetisch erneuert werden soll für besseren Klimaschutz, jetzt zu spät kommt. Die Leute aus dem Linienbus, die wegen uns alle aussteigen und zur nächsten S-Bahn-Haltestelle laufen müssen. Jedes Mal ist da der Impuls, doch einfach aufzustehen und die Leute durchzulassen. Nur dieses eine Mal. Als Ausnahme. Und ich weiß, den meisten, die mit mir in den Blockaden sitzen, geht es ähnlich – jedes Mal gehen fragende Blicke hin und her: „Sollen wir?“

Die Klimaprobleme des Globalen Südens

Manchmal ergibt sich die Chance auf ein Gespräch mit einem Autofahrer, auf gegenseitiges Verständnis, aber meistens sitzen wir nur stumm da, schlucken all die Wut und all den Frust, der auf uns einprasselt, bis sich innen drin alles zusammenzieht. Und gleichzeitig will ich mich nicht entschuldigen. Das wäre witzlos, unehrlich. Ich sitze ja vorsätzlich da, werde wieder da sitzen, weil ich daran glaube, dass es richtig ist.

Als Reporter für den Spiegel war ich 2019 im Irak, habe einen Bauern getroffen, dessen Ernte aufgrund von anhaltender Trockenheit so oft eingegangen war, dass er sich einer bewaffneten Miliz angeschlossen hatte und in den Krieg gezogen war, weil er den Sold brauchte. Bei einem Angriff schlug eine Granate neben seinem Unterstand ein, zerfetzte seine Freunde.

Die globale Erwärmung bedroht unsere Lebensgrundlagen

Bevor der Krieg in Syrien ausbrach, habe ich eine Weile dort gelebt. Zu der Zeit herrschte in der Region die schlimmste Dürre seit 900 Jahren. 1,3 Millionen Menschen verloren ihr Auskommen, zogen vom Land in die Stadt. Wissenschaftler sagen: Es war auch ihre Verzweiflung, die zu Revolution und dann zum Bürgerkrieg führte, der ein Land zerstörte, das ich zuvor lieben gelernt hatte.

Das deutsche Verteidigungsministerium bereitet sich schon seit Jahren auf Klimakonflikte in der europäischen Nachbarschaft vor. Ich will das nicht. Krieg.

Doch der Weltklimarat sagt: Die globale Erwärmung bedroht unsere Lebensgrundlagen, und wenn Essen und Wasser knapp werden, brechen vermehrt Kriege aus, und der Weltklimarat sagt auch: „Rapide und weitreichende Veränderungen in allen Sektoren und Systemen sind notwendig, um eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern.“

Das Idiotischste, was ich seit langem gelesen habe

Rapide und weitreichend in allen Sektoren. Das sagt die Wissenschaft, unsere Regierung sagt: „Juckt uns nicht.“ Sie sagt: „Wir opfern eine lebenswerte Zukunft der gemütlichen Gegenwart. Kilmaschutz ist uns schnuppe, geht zur Hölle ihr Menschen im Globalen Süden, ihr jungen Menschen, ihr Senioren, die jetzt schon Jahr für Jahr in Hitzewellen dehydrieren und sterben.“

Kanzler Scholz hat das kürzlich noch mal klargemacht, als er sich im Koalitionsausschuss auf die Seite der FDP schlug. Jener Partei also, deren Klimareferent sagt: „So wie ich die Studien lese, werden wir selbst in den Worst-Case-Szenarien in einer Welt mit viel mehr Wohlstand leben.“

Das ist das Idiotischste, was ich seit langem gelesen habe, und die Politik, die daraus folgt, ist schlichtweg falsch. Das kann nicht sein. Das dürfen wir nicht zulassen. Das will ich nicht zulassen. Deswegen blockieren wir Straßen.

Wir machen weiter, bis Kanzler Scholz sich bewegt

„Protestiert doch bei den Ministerien, was haben wir Autofahrer denn damit zu tun?“ Fast jedes Mal kommt dieser Satz. Und ja, ich weiß, aber wir haben das probiert, haben den Bundestag, das Kanzleramt, Konzernzentralen und Lobbyverbände blockiert. Aber die Erfahrung zeigt: Das baut nicht auf die gleiche Weise Druck auf, wie es Straßenblockaden tun.

Und deswegen machen wir weiter, bringen Städte zum Stillstand, bis Kanzler Scholz sich endlich, endlich bewegt.

Ich bin der Erste, der dann fröhlich nach Hause geht. Als freier Journalist hat man auch nie Zeit, nie Kohle. Aber alles lieber, als auf dreckigem Asphalt sitzen und Straßen blockieren.

Raphael Thelen arbeitete als Journalist unter anderem für den Spiegel und die Zeit, berichtete mehrere Jahre über die Klimakrise, bevor er 2023 zur Letzten Generation wechselte.

Über Raphael Thelen / Berliner Zeitung:

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2 Kommentare

  1. Dr. Hanspeter Knirsch

    Natürlich ist Blockade Mist, weil auch Menschen davon betroffen sind, die nichts oder wenig dafür können, dass wir unsere Lebensgrundlagen nach wie vor ungebremst zerstören. Als Jurist frage ich in Anwendung des sog. Übermaßverbots, ob mildere Formen des Protests zur Verfügung stehen, die geeignet sind einen Politikwechsel zu bewirken. Und natürlich heiligt der Zweck nicht die Mittel. Handeln wider besseres Wissen ist das Übel, das es zu überwinden gilt. Dazu reichen offensichtlich wissenschaftliche Studien und Manifeste nicht aus. Es bedarf einer emotionalen Verstärkung der rationalen Erkenntnisse. Ob Straßenblockaden dabei hilfreich sind, kann man bezweifeln. Immerhin erzeugen sie Aufmerksamkeit. Greenpeace und andere Umweltverbände nutzen Regelverstöße schon lange, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Mehr Druck würde erzeugt, wenn es zu gemeinsamen Aktionen käme, wie es z. B. in Frankreich vorgemacht wird. Ideologisch motivierte Alleingänge sind dann eher kontraproduktiv.

  2. w.nissing

    “Aber alles lieber, als auf dreckigem Asphalt sitzen und Straßen blockieren.” Tipp von einem Ewiggestrigen: mal mit einem Büro und Schreibtischplatte probieren bei denjenigen die die Gesetze mach bzw nicht machen?

    “Aber die Erfahrung zeigt: Das baut nicht auf die gleiche Weise Druck auf, wie es Straßenblockaden tun.” Tja, sollen oder machen jetzt die Autonutzer die Gesetze ?
    Je mehr ich aber von F³ Aktivisten lese bzw höre um so verständlicher wird mir warum meine Brut mittlerweile einen großen Bogen um diese Truppe macht und ( u.a. auch in diesem Kontext)wo das Versagen der Post90er(Babyboomer) zu verorten ist.
    Nicht das hier der Eindruck entsteht, ich würde solche Aktionen verwerflich finden, ne kann man machen, die Verhältnisse werden aber damit nicht verändert (Erfahrungswerte aus 40 Jahren Straße).

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