Die ukrainische Gegenoffensive hat offensichtlich begonnen
Die Lektüre von ukrainischen und russischen Militärbloggern – die mit manchmal sehr skurrilen oder ultranationalistischen, manchmal aber auch erstaunlich differenzierten Botschaften hervortreten – deutet darauf hin, dass die ukrainische Gegenoffensive nun wirklich begonnen hat. Das wäre ein neuer Abschnitt in diesem Krieg, der weitere dramatische Stunden und auch neue bedrückende Bilder bringen wird.
Die russische Seite wartet sehnlichst auf Bilder mit abgeschossenen westlichen Panzern. Wo diese sich nicht einstellen, produziert man sie selbst. U.a. der „Abschuss“ eines John-Deere-Mähdreschers in der Ukraine, der der russischen Öffentlichkeit als Leopard-2-Panzer verkauft wurde. Die psychologische Kriegsführung der Russen braucht dringend Erfolgsmeldungen, um ihre demotivierte Truppe wieder aufzurichten. Die Angst ist, dass die russischen Soldaten vor ernsthaften Attacken der ukrainischen Armee einfach Reißaus nehmen könnten, so wie es in der Ostukraine letztes Jahr geschehen ist.
Es ist nicht klar, welchen Verlauf die ukrainische Offensive nehmen wird. Die Führung der Armee wird ihre Soldaten in keinen „Fleischwolf“ werfen, so wie die Wagner-Gruppe es mit ihren Soldaten vor Bachmut getan hat. Dennoch wird es Verluste geben, womöglich auch hohe. Das unmittelbare Ziel dürfte darin bestehen, die (erste) Verteidigungslinie der Russen zu durchbrechen, um den Durchbruch weiter zu öffnen und schnell und massiv ins Hinterland der Front zu gelangen. Das wäre dann ein typischer Reißaus-Moment für die russischen Truppen, mit dem der Krieg sich schnell wenden könnte. Die Alternative dazu, auf die die Ukraine sich nicht einlassen wird, wurde im 1. Weltkrieg durchgespielt, wo von beiden Seiten für die Idee des „Durchbruchs“ eine menschliche Angriffswelle nach der anderen verheizt wurde. Das ungefähr war Verdun.
Die bis heute ziemlich Smarte ukrainische Militärführung wird vor allem auch auf die schwache Logistik der Russen zielen, das heißt, sie wird mit kleinen Vorfeldangriffen die russische Seite zum Abfeuern ihrer Munition drängen und so auch die Lage von deren Stellungen eruieren, um dann im Moment eines nur schleppend nachkommenden russischen Nachschubs mit dem Angriff wirklich ernst zu machen. Das Ganze ist alles andere als ein primitives Haudrauf, es ist ein komplexes Zusammenspiel von ganz vielen Aktionen.
Aber bei aller taktischen Klugheit wird der Angriff vielen Ukrainern das Leben kosten. Dass er erfolgreich ist, können wir der Ukraine – und übrigens auch uns selbst und dem restlichen Europa – nur wünschen. Die Alternative wäre ein Dauerkonflikt auf viele Jahre hinaus.
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