Schwierig ist “nur” die Bündelung und Organisierung eines politischen Willens

Tom Strohschneider war vor vielen Jahren einer der Freitag-Redakteur*inn*e*n, die Texte (zumindest von mir) nicht totredigierten, sondern besser machten. Heute ist dort das Meiste von Augstein digital vermauert – die alten Texte bleiben aber zugänglich. Sein eigener Text, den bruchstuecke.info aus linksdings übernommen hat, ist – mit unzähligen hilfreichen Links – nun auch sehr gut geworden: Große Transformation/Klimakatastrophe: Klimanotizen: ‘Reichere Länder drohen in Zukunft ärmere zu grillen’ – Vor 70 Jahren formulierte Gilbert Plass eine wichtige 1,5-Grad-Prognose. Vom Treibhauseffekt wissen wir noch länger, aber ganze Gesellschaften versagen. Auf Kosten anderer Länder. Die sind aber nicht gemeint, wenn hierzulande darauf verwiesen wird, »die Menschen dürfen nicht überfordert werden«.”

Was Tom da behandelt hat, ist derzeit mit weitem Abstand die wichtigste Menschheitsfrage. Er weist nach und erinnert, dass das kein Problem mangelnder Informationen ist. Die liegen seit Jahrzehnten vor. Es ist ein Problem der Politik. Ob Bildung-, Wissenschaft- oder Medien-, immer: -Politik.

So ist es auch Politik, wenn die Mehrheit der reichsten und mächtigsten Länder der Welt sich und ihre Öffentlichkeiten stattdessen lieber mit Kriegsführung beschäftigen. Dieter Reinisch hat für die Wochenendausgabe der Jungen Welt Jeffrey D. Sachs interviewt: Globale Chancen: »Wir brauchen eine multipolare Welt« – Über Gespräche zur Verhinderung einer weiteren Eskalation des Kriegs in der Ukraine, die Stellung des Westens und einen Ausweg aus der US-Hegemonie.”

Sachs’ einleuchtende “Lösung” für den Ukrainekrieg: “Erstens sollte die NATO endlich anerkennen, dass ihre Ausweitung auf die Ukraine und Georgien eine rücksichtslose Idee der USA war. Es war ein Plan, von dem klar war, dass er die roten Linien Moskaus überschreiten wird, wie die russische Führung schon lange gewarnt hatte. Zweitens sollte die Ukraine erkennen, dass sie einen Fehler begangen hat, als sie das Minsk-II-Abkommen nicht umgesetzt hat. Drittens sollte Russland im Rahmen eines Friedensabkommens sein Militär aus der Ukraine abziehen. Viertens sollte Europa, einschließlich Russland und der Ukraine, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, OSZE, neu beleben, um ein wirklich europäisches Sicherheitssystem zu haben und nicht ein von den USA geführtes NATO-System, das die Sicherheitsarchitektur Europas bestimmt.”

Interviewer Reinisch liess ihn auch nicht aus dem Schwitzkasten, in der er durch seine frühere Tätigkeit selbst gehört: “Als Berater waren Sie am Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft in der Sowjetunion und in anderen süd- und osteuropäischen Staaten beteiligt.” Sein Befreiungsversuch lautet: “Meine Empfehlungen, Russland zu helfen, wurden zwischen 1991 und 1993 vom Weißen Haus abgelehnt, was den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Russland noch verstärkte. Das war ein schwerer Fehler des Westens. Das habe ich auch damals immer wieder betont.” Hat es ihn etwa damals überrascht? Ich habe mal nachgesehen: bis ’93 amtierte George Bush sen.; ihm folgte ’93 Bill Clinton. Von einem Bruch habe ich damals nichts bemerkt, ich hatte eher eine Wahrnehmung von Kontinuität. Eine neue Politik hätte den Russ*inn*en viel Elend ersparen können. Vielleicht sogar Putin.

Zur Bündelung und Organisierung der hier präsentierten Vernunft fühle ich mich mittlerweile zu alt. Erschreckend klar vor Augen steht, dass die gegenwärtigen demokratischen Parteien vor dieser Aufgabe kapitulieren. Das ist eine Parallele zur Lage der Friedens- und damals noch “Umweltbewegung” genannten Klimaschutzbewegung der 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die wurden damals gross und stark, weil die “Boomer” viele waren. Die Jugend in den reichen kapitalistischen Ländern ist leider nur eine marginale Minderheit. Wie sollen sie ihre Eltern und Grosseltern zum “Arsch huh”-kriegen motivieren?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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