Vor rund drei Wochen hat die Venedig-Kommission der ukrainischen Regierung eine Rüge erteilt und sie aufgefordert, das sogenannte Anti-Oligarchengesetz, mit dem die Ukraine den übermäßigen Einfluss von Personen mit großem wirtschaftlichen oder politischen Gewicht einschränken will, vorerst nicht anzuwenden. Die Venedig-Kommission ist ein Fachorgan des Europarats, das die Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich berät und Gutachten zu Verfassungs- und Gesetzesvorhaben erstellt.
Aufgrund des neuen Gesetzes sollen künftig sogenannte Oligarchen in einer eigenen Datenbank erfasst werden. Über die Aufnahme entscheidet der ukrainische Sicherheits- und Verteidigungsrat anhand von vier Kriterien, von denen drei erfüllt sein müssen: Beteiligung am politischen Leben, Besitz eines Monopolunternehmens, Einfluss auf Medien, Besitz von (umgerechnet) mindestens 83 Mio. $. Personen, die in diese Liste eingetragen werden, ist es dann verboten, politische Parteien oder Veranstaltungen zu finanzieren. Zudem müssen sie Rechenschaft über jedes Gespräch mit Regierungsbeamten ablegen und einmal jährlich ihre Einkommensverhältnisse offenlegen.
Die Venedig-Kommission begründet ihre Rüge damit, dass die vorgesehenen Maßnahmen „ernste Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention aufwerfen“ und mit pluralistischen Grundsätzen und Rechtsstaatlichkeit nur schwer vereinbar seien. Zuständigkeit und Auswahlkriterien deuten auf willkürliche Verfahren hin. Zu befürchten ist, dass das Gesetz dazu dient, missliebige Personen mundtot zu machen und zumindest in ihren Handlungen einzuengen. Es gibt bereits Meldungen, wonach Oligarchen ihre Geschäftsfelder neu ordnen, um der Liste zu entgehen.
Gewiss ist es überraschend, dass die ukrainische Regierung gerade jetzt in Kritik gerät, obwohl sie doch im aktuellen Konflikt auf die Sympathien einer überwältigende Mehrheit in Politik, Medien und Bevölkerung Westeuropas rechnen kann. Aus der Sicht der Venedig-Kommission sieht das offenbar etwas anders aus. Sie will dokumentieren, dass sie ihre Rolle objektiv und unabhängig von äußeren Einflüssen ausübt. Andernfalls würde sie ihr Ansehen und ihre Erfolgschancen gefährden.
Auch andere Sachverhalte und Entwicklungen in der Ukraine sind bereits beanstandet worden. Schon 2020 befasste sich die Kommission mit der verfassungsrechtlichen Lage in der Ukraine. Anlass war die Entscheidung des ukrainischen Verfassungsgerichtshofs, große Teile der geltenden Rechtsvorschriften zur Korruptionsbekämpfung außer Kraft zu setzen. Hierzu legte die Kommission dem Parlament Reformvorschläge vor.
Strenge Kritik übte die Venedig-Kommission an dem 2019 schrittweise eingeführten Sprachgesetz der Ukraine, das den Angehörigen nationaler Minderheiten das Recht auf den freien und ungehinderten Gebrauch ihrer Muttersprache im privaten und öffentlichen Bereich in Wort und Schrift einschränkt. Die Kommission sieht darin „eines der strengsten und repressivsten Gesetze, die eine europäische Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg gegen einheimische Minderheiten erlassen hat.“ Sie betont, dass „alle Bürger der Ukraine das Recht haben, frei zu entscheiden, ob sie einer Nationalen Gemeinschaft angehören wollen oder nicht“, dass sie nicht diskriminiert werden dürfen und dass sie entsprechende Rechte und Freiheiten genießen müssen.
In Kriegszeiten gilt wohl manches als akzeptabel, was sonst für Kritik und Protest sorgen würde. Selenskyj versucht, nicht nur militärisch Russland zu bekämpfen, sondern auch innenpolitisch. Bei manchen Maßnahmen muss allerdings gefragt werden, ob sie noch legitim sind oder Zensur. So hat Präsident Selenskyj im März 2022 die Aussetzung der „Aktivitäten einer Reihe von politischen Parteien für die Dauer des Kriegszustands“ verfügt. Da überrascht es nicht, dass die betroffenen Parteien dieses Dekret als illegal betrachten.
Diese Maßnahme stieß ebenso auf Kritik der Venedig-Kommission wie die Tatsache, dass Selenskjy zwei oppositionelle Fernsehsender schließen ließ und alle nationalen TV-Sender zu einem Sendekomplex vereinigte. Da liegt der Vorwurf der Informationskontrolle nahe. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung waren Freiheit und Pluralismus der Medien schon vorher beeinträchtigt. Einerseits, weil die privaten Medien überwiegend Oligarchen gehören, andererseits, weil es beim Öffentlichen Rundfunk Finanzprobleme gibt.
Die ukrainische Regierung hat zu den Beanstandungen zwar zügig Stellung bezogen, allerdings alle zurückgewiesen (chat-gpt). Änderungen seien nicht erforderlich. Die Maßnahmen wurden gerechtfertigt, die Vorwürfe wurden bestritten und verniedlicht. Allerdings wurde eine Kooperation mit der Venedig-Kommission angeboten bzw. angekündigt.
# Das Anti-Oligarchengesetz sei notwendig, um die Korruption zu bekämpfen und die Macht von Oligarchen einzudämmen. Das Gesetz stehe im Einklang mit internationalen Standards.
# Korruptionsbekämpfung werde weiterhin als Priorität betrachtet. Die umstrittenen Änderungen sollen das System effektiver machen und Überregulierungen reduzieren. Die Empfehlungen der Kommission würden jedoch geprüft
# Nationale Minderheiten: Das Gesetz sei nicht diskriminierend, sondern solle lediglich Ukrainisch als Hauptsprache des Landes schützen. Ethnische Minderheiten würden integriert und gefördert. Das Gesetz entspreche internationalen Standards.
# Politische Parteien: Das Verbot stehe im Einklang mit der ukrainischen Verfassung, es solle extremistische Kräfte eindämmen und die nationale Sicherheit gewährleisten. Die Bedenken der Kommission würden jedoch geprüft.
# Fernsehsender: Die Schließung der Sender sei aus Gründen der nationalen Sicherheit nötig; sie hätten pro-russische Propaganda verbreitet. Die Bedenken der Venedig-Kommission würden jedoch geprüft.
Man erkennt, dass die Venedig-Kommission nur geringes Durchsetzungsvermögen hat und nur wenig Wirkung entfalten kann, wenn die betroffenen Staaten nicht mitziehen. Die Kommission hat nämlich keine Weisungsbefugnis und keine Exekutivrechte, ihre Funktion ist die der verfassungsrechtlichen Beratung und Begutachtung, sie muss durch fachliche Arbeit überzeugen.
Die Venedig-Kommission, offiziell ‘Europäische Kommission für Demokratie durch Recht’, wurde 1990 vom Europarat gegründet. Sie sollte vor allem der Unterstützung der osteuropäischen Staaten bei der Ausarbeitung von Verfassungen dienen, die den europäischen Verfassungsrechtsnormen entsprechen. Später entwickelte sie sich zu einem international angesehenen und unabhängigen Beratungsorgan. Ihr gehören derzeit 62 Staaten an, darunter alle Mitglieder des Europarates und – als Vollmitglieder – 16 externe Länder.
Die festgeschriebenen Grundsätze der Kommission sind Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Üblicherweise wird sie nicht nur zur nachträglichen Begutachtung von Verfassungs- und Gesetzestexten herangezogen, sondern schon bei den verschiedenen Phasen der Ausarbeitung solcher Dokumente. Auch bei der Erarbeitung von Wahlverfahren und -gesetzen wirkt sie mit. Mit den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten pflegt sie eine enge Zusammenarbeit.
Mitwirkende der Venedig-Kommission sind unabhängigen Sachverständige aus dem Verfassungs- und Völkerrecht, sie stammen aus Universitäten, Verfassungsgerichten, Verwaltungen und Parlamenten und werden von den Mitgliedstaaten ernannt. 5) Die Kommission wird entweder auf Anfrage eines Staaten oder im Auftrag eines Organs des Europarates tätig. So hat sie z.B. die Prüfung der Verfassungen Russlands und der Ukraine bei deren Beitrittsverfahren zum Europarat übernommen (1995/1996).
Die Tätigkeit der Kommission ist vielfältig, gelegentlich spannend und oftmals – unabhängig von ihrer fehlenden Exekutivgewalt – von tiefgehender Bedeutung: Auch wenn ihre Ausarbeitungen zumeist sehr fachspezifisch sind, hätten sie eine größere Aufmerksamkeit verdient. So hat sie sich mit dem Schutz nationaler Minderheiten in Belgien befasst, mit umstrittenen Verfassungsregelungen in Bosnien-Herzegowina, mit Konflikten zwischen Moldawien und Transnistrien oder mit ungarischen Gesetzen, die gegen Menschenrechtsnormen verstoßen.
Auch die Neufassung des deutsche Bundeswahlgesetzes war Beratungsthema. Deren Kernpunkte hat die Venedig-Kommission gebilligt. Anders war es bei der umstrittenen Regelung, dass die französische Regierung ohne Parlamentsabstimmung Gesetze in Kraft setzen kann. Hier hat die Kommission Kritik geübt und festgestellt, dass der betreffende Verfassungsartikel „Fragen mit Blick auf die Gewaltenteilung aufwirft“. Er ermögliche eine “erhebliche Einmischung der Exekutive in die Zuständigkeiten und die Rolle der Legislative”. Die Regierung habe auf diese Weise eine eigene gesetzgeberische Gewalt.
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