Steckt dahinter eine demografische Trendwende? – Seit 2020 ist in Deutschland eine Übersterblichkeit zu beobachten. Die Pandemie hatte komplexe Auswirkungen auf den demografischen Wandel.

Das Phänomen Übersterblichkeit, das wir gegenwärtig beobachten, ist keineswegs neu. Bereits vor einem halben Jahrhundert beschäftigte sich der Schweizer Sozialhistoriker Arthur E. Imhof in seinem Buch „Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit“ mit den Veränderungen der Lebensdauer in den zurückliegenden 400 Jahren.

Die Lebensdauer der Menschen im 17. und 18. Jahrhundert war sehr unsicher, in der Folge vielfältiger exogener Krisen wie Kriege, Epidemien, Naturkatastrophen und einsetzender Hungersnöte. Ihren Ausdruck fanden diese Krisen in sogenannten Sterblichkeitsgipfeln, dem raschen und plötzlichen Anstieg der Sterbezahlen. Die Lebensdauer war aus heutiger Perspektive mit 25 bis 30 Jahren denkbar kurz.

Mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert gelang es allmählich die verheerenden Wirkungen von Pest und Hunger zurückzudrängen und spätestens im 20. Jahrhundert für die Mehrheit der Bevölkerung aus dem Alltagsleben zu verdammen. Die Zahl der Menschen, die seither 60, 70, 80 oder gar 90 Jahre alt wurden und werden, ist in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten deutlich gewachsen. Bislang galt es für Heranwachsende als gewiss, nach abgeschlossenem Schul- und Berufsabschluss etwa 50 Jahre erwerbstätig zu sein. Und im Anschluss als Senioren den Lebensbeginn ihrer Enkel zu begleiten.

Diese Gewissheit gilt seit kurzem nicht mehr. Denn spätestens mit dem Auftreten des Phänomens Übersterblichkeit seit 2020 empfinden nicht wenige Menschen ihre Lebenszeit als unsicher und kaum überschaubar. Solche oder auch ähnliche Entwicklungen lassen sich in einer Vielzahl von europäischen und außereuropäischen Ländern beobachten. Wir blicken hier aber vor allem auf Deutschland.

Beim statistischen Begriff der Übersterblichkeit geht es um eine über den Erwartungen der Statistik liegende Anzahl von Sterbefällen. Diese ergibt sich, indem wir den Mittelwert der vorpandemischen Jahre (2016 bis 2019) mit dem der pandemischen Jahre (2020 bis 2022) vergleichen. Die Zahl der „an oder mit“ Covid-19 gestorbenen Menschen in Deutschland belief sich von 2020 bis Ende Mai 2023 auf etwa 174.000. Auf den ersten Blick erscheint diese Zahl sehr hoch. Setzt man sie allerdings insgesamt ins Verhältnis zu den jährlichen Sterbefällen, so entspricht das etwa 5,2 Prozent aller Verstorbenen innerhalb von mehr als drei Jahren.

Demografischer Wandel in Deutschland

Die Zahl relativiert sich noch weiter, wenn man die in der demografischen Analyse gebräuchliche Kategorie der Letalitätskennziffer hinzuzieht. Bei ihr geht es um das Verhältnis der Sterbefälle einer Krankheit (Covid-19) zu allen von dieser Krankheit betroffenen Personen, sprich aller auf Covid-19 positiv getesteten Personen. Die Letalitätsrate für die Jahre 2020 bis 2022 weist das Statistische Bundesamt mit 0,4 Prozent aus.

Um das gesamte Ausmaß der sich abzeichnenden Veränderungen im Sterblichkeitsgeschehen zwischen 2020 und Mai 2023 zu ergründen, müssen wir die absoluten Sterbezahlen mithilfe der bevölkerungsstatistischen Analyse genauer hinterfragen. Der sich in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten vollziehende demografische Wandel bildet hierbei einen Ausgangspunkt. Er ist an zwei Faktoren festzumachen. Das ist zum einen die rückläufige Geburtenentwicklung seit Beginn der 1970er-Jahre, zum anderen ist es der beständige Sterblichkeitsrückgang, der im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzte und sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter ausprägte.

Die durchschnittliche Lebenserwartung nahm dadurch bei Frauen und Männern kontinuierlich zu. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) von 2019 ist seit Beginn der 1990er-Jahre die Lebenserwartung im Verlauf von knapp drei Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen: um 4,2 Jahre bei den Frauen auf 83,2 Jahre und um 5,9 Jahre bei den Männern auf 78,4 Jahre. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung nahm kontinuierlich ab, während der Anteil der Älteren beständig wuchs. Der Begriff der Bevölkerungsalterung fand seinen Eingang in die Demografie und Politik.

Erste Veränderungen traten mit Beginn der pandemischen Jahre auf. Bei der Analyse betrachten wir die Sterblichkeit nach Altersgruppen und Geschlecht. Dass vor allem die jüngeren Altersgruppen seltener an schweren Verläufen von Covid-19 litten, setzen wir als bekannt voraus. Das Phänomen der Übersterblichkeit trat jedoch beim weiblichen Geschlecht in den jüngeren Altersgruppen (von 0 bis unter 15 Jahre, von 15 bis unter 30 Jahre) im dritten Pandemiejahr zutage. 2022 registrierte die amtliche Statistik eine Übersterblichkeit von durchschnittlich 2 Prozent. Ein anderes, keineswegs unproblematisches Bild offenbart sich bei den 30- bis unter 35-jährigen Frauen mit einer Übersterblichkeit von 1,9 Prozent (2021) und 3,5 Prozent (2022).

In ähnlicher Weise fielen die Werte für die 35- bis unter 40-jährigen Frauen mit 4,8 Prozent (2021) und 11,25 Prozent (2022) aus. In dieser Altersgruppe betrug der Mittelwert (2016 bis 2019) der gestorbenen Frauen 1313. Im Jahr 2021 starben 1379 und im Folgejahr 1480 Frauen. Diese Tendenz setzte sich im ersten Quartal 2023 fort. In den nachfolgenden Altersgruppen, das heißt den 40- bis unter 45-Jährigen, den 45- bis unter 50-Jährigen und den 50- bis unter 55-Jährigen setzte die Übersterblichkeit bereits 2020 ein und erreichte ihren bisherigen Höhepunkt im Jahr 2022 mit Werten von 10 bis 15 Prozent.

Männer stärker betroffen als Frauen

Es sei daran erinnert, dass der erste und zweite Lockdown (ab 13. März 2020 und ab 13. Dezember 2020) diese verhängnisvolle Tendenz doch gerade vermeiden sollte. Hinzu kommt, dass sich die Impfkampagne in der Zwischenzeit voll entfaltet hatte. Im Dezember 2022 waren bereits über 190 Millionen Impfungen in Deutschland verabreicht. Außerdem führten die Mutationen des Sars-CoV-2-Virus zu Varianten, die deutlich weniger gefährlich waren, zum Beispiel zur Omikron-Variante, die sich seit Anfang 2022 ausbreitete. Trotzdem registrieren wir ein signifikantes Ansteigen der Übersterblichkeit.

Die Berliner Zeitung hat erst jüngst über mögliche Gründe für eine Übersterblichkeit 2021 und 2022 geschrieben. Diese reichen von schweren, auch langfristigen Corona-Folgen (auch bei vielen jungen Menschen) über andere Infektionswellen (Grippe), die Folgen des Lockdowns (verschobene Operationen, nicht behandelte Notfälle, weniger Bewegung, mehr Alkoholkonsum, Vereinsamung, Stress, Angst und Suizide) bis hin zu Impffolgen (Post-Vac). Empirisch lässt sich ein Zusammenhang zwischen der erhöhten Morbidität und steigenden Mortalität schwer nachweisen. Hierzu wäre die Einsicht und Analyse der Morbiditäts- sowie der Todesursachenstatistik notwendig, die jedoch nur bis zum Jahr 2021 vorliegen.

Wir können festhalten: Junge Frauen im gebärfähigen Alter (in der Regel 15 bis 45 Jahre alt) sind etwas stärker von der Übersterblichkeit betroffen als die gleichaltrigen Männer. Diese Übersterblichkeit stimmt nachdenklich, denn durch ihren „plötzlichen und unerwarteten Tod“ fallen sie aus den gebärfähigen Altersgruppen heraus. Festzustellen ist auch, dass die Männer von der Übersterblichkeit, deren Intensität von 2020 bis 2022 zunahm, insgesamt zahlenmäßig stärker betroffen waren als Frauen.

Erstmals trat sie beim männlichen Geschlecht in der Altersgruppe der 35- bis unter 40-Jährigen auf. Für 2020 betrug sie 8 Prozent, stieg im Folgejahr auf 10 Prozent und erreichte ihren bisherigen Höhepunkt mit 14 Prozent im Jahr 2022. In ähnlicher Weise entwickelte sich die Übersterblichkeit in den Altersgruppen der 40- bis unter 45-Jährigen, der 55- bis unter 60-Jährigen und allen nachfolgenden Altersgruppen bis zu den 80-Jährigen und Älteren. Auffällig ist vor allem, dass sich der Anstieg der Gestorbenen in den Altersgruppen über 80 in den ersten vier Monaten 2023 weiter fortsetzte.

Der Befund, dass sich die Übersterblichkeit bei den älteren Frauen und Männern ab 65 beziehungsweise 67 Jahre und der Alten ab 80 Jahre manifestierte, überrascht insofern, dass doch genau diese Übersterblichkeit durch Lockdown und Impfungen verhindert werden sollte. Mögliche Ursachen müssen auch hier wissenschaftlich diskutiert werden. Jedenfalls „bescherte“ das Ableben vieler älterer und alter Menschen der Deutschen Rentenversicherung für 2022 einen Überschuss von 2,1 Milliarden Euro. Die Pandemie legte, wenn man so will, den Grundstein für ein Einnahmehoch. Zu bejubeln ist dies aber zweifellos nicht.

Bleibt die Frage, wie sich künftig der demografische Wandel gestalten wird. Bis zum Jahr 2019 wuchs die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen jährlich um 0,2 Jahre, die der Männer um 0,3 Jahre. Maßgeblich befördert wurde diese Entwicklung durch medizinisch-technische Innovationen, verbesserte Hygiene und Ernährung sowie ansteigenden materiellen Wohlstand. Seit 2020 beobachten wir keinen Zugewinn mehr. Das Statistische Bundesamt vermeldete am 26. Juli 2022, dass die Lebenserwartung für den Zeitraum 2020 bis 2022 um 0,4 Jahre in Deutschland gesunken sei.

Das Phänomen könnte sich verstetigen

Die vor allem in den höheren Altersgruppen sichtbare Verringerung der Lebenserwartung, so unsere These, bleibt nicht folgenlos für die Alterszusammensetzung beziehungsweise auch für den Alterungsprozess der Bevölkerung. Bei fortgesetzter Entwicklung könnte erwartet werden, dass der Anteil der Älteren (ab 65 Jahre) und der Hochbetagten (ab 80 Jahre) abnimmt und in Folge davon der Alterungsprozess an Dynamik verliert.

Auch scheint es so, als könnte sich möglicherweise das Phänomen Übersterblichkeit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter verstetigen. Zu diesem Schluss gelangen wir unter Berücksichtigung einer neuen versicherungsmathematischen Prognose der Deutschen Rentenversicherung, die kürzlich unter dem Titel „Die demografische Belastung steigt – aber weniger als in der Vergangenheit“ der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Der Begriff der „Belastung“ bezieht sich nur auf die Erwerbstätigen. Sie tragen mit ihren monatlich zu entrichtenden Rentenversicherungsbeiträgen maßgeblich zur Absicherung der Rentenbevölkerung bei.

Eine 2019 vorgenommene Vorausberechnung bis zum Jahr 2060 ermittelte für das Jahr 2020, dass auf 100 Erwerbspersonen etwa 47 Personen in den Altersgruppen ab 65 beziehungsweise 67 Jahre kommen. In einer neuerlichen Berechnung von 2022 verringerte sich diese Zahl auf 43,7 Personen. Dieser sinkende Anteil der Älteren und Alten im Verhältnis zur Erwerbsbevölkerung wird mit der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre begründet. Zu hinterfragen ist, ob er möglicherweise durch die auch weiterhin anhaltende Übersterblichkeit beeinflusst wird.

Auch die Geburtenentwicklung wird beeinflusst. In der Altersgruppe der 30- bis unter 35-jährigen Frauen starben 2021 18 Frauen und im Folgejahr 33 Frauen mehr als im Durchschnitt 2016 bis 2019 (891). Für die nachfolgende Altersgruppe (35- bis unter 40-jährige Frauen) zeigte sich die Übersterblichkeit mit 65 Frauen (2021) und 2022 mit 166 Frauen über dem Mittelwert der Jahre 2016 bis 2019 (1314 gestorbene Frauen). Diese Altersgruppen sind mittlerweile extrem bedeutsam für die Geburtenentwicklung, weil die Mehrzahl der Frauen ihr erstes Kind mit dem 30. Lebensjahr und ihr zweites Kind häufig nach Erreichen des 35. Lebensjahres zur Welt bringt.

Die amtliche Statistik vermeldete für 2022 einen Rückgang der Geburten um circa 10 Prozent. Wurden im Durchschnitt in den vorpandemischen Jahren noch durchschnittlich zwischen 1,5 und 1,6 Kinder pro Frau geboren, sank dieser Wert auf 1,3 bis 1,4. Erste Thesen sprechen von einem zeitlichen Aufschub von Nachwuchsplänen im Zusammenhang mit der Pandemie, aus Angst vor der Krankheit, aufgrund der Entscheidung: Impfung statt Schwangerschaft – und aus verschiedenen anderen Gründen.

Es dämmert also langsam auf, dass die Covid-19-Pandemie offenbar komplexere Auswirkungen auf verschiedene Faktoren des demografischen Wandels und des Alterungsprozesses in Deutschland hatte und haben wird. Das Phänomen Übersterblichkeit wird uns zweifellos noch längere Zeit beschäftigen. Die Pandemie hat möglicherweise eine demografische Trendwende eingeläutet: mit einem Übergang von der gesicherten Lebenszeit der vorpandemischen Jahrzehnte zu einer neuen, unsicheren Lebenszeit in den kommenden Jahren. Die uns bevorstehenden tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und technologischen Umwälzungen werden existenziell in das Bevölkerungsgeschehen in Gegenwart und Zukunft, das heißt, in den demografischen Wandel eingreifen.

Jochen Fleischhacker ist Demograf, arbeitete mehr als 20 Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin und war einer der ersten Mitarbeiter des 1997 gegründeten Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, Arbeitsgruppenleiter „History of demographic Thinking“. Andrée Türpe studierte Philosophie und Mathematik und lehrte und forschte an der Humboldt-Universität. Er war Direktor des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung und arbeitete Jahrzehnte in der freien Wirtschaft. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Jochen Fleischhacker, Andrée Türpe / Berliner Zeitung:

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