Mitten in der EU

Selten ist es, dass Georg Seeßlen in der Jungle World ohne digitale Bezahlmauer erscheint. Nun ist es geschehen, und eine Fundgrube intellektueller Erkenntnis, nur leider komplett spassfrei: Gesellschaft als Beute – Giorgia Melonis Kürzung der Sozialhilfe als faschistischer Krieg gegen die Armen Italiens – Ein Lehrstück der Faschisierung in Europa.” Bekanntlich wiederholt Geschichte sich nicht – und wenn, dann als Farce. Wie könnte die dieses Mal aussehen?

Deutsche Faschisten werden das italienische Beispiel als Vorbild ansehen. Aber “dem Deutschen” widerstrebt es, sich von Italien was vormachen zu lassen. Der Ehrgeiz treibt ihn an, Italien ein für allemal zu übertreffen. Ich kenne mich im Fussball aus, und weiss davon. Die Demütigungen im Sport sitzen tief. Ist das Chance? Oder – wie im 20. Jahrhundert – eine Drohung? Ich neige zu Letzterem.

Einen entscheidenden Punkt in Seeßlens Diagnose erkenne ich hierzulande wieder: “Die Erschöpfung, Lähmung und Selbstbeschränkung der gesellschaftlichen Mehrheit. … Selbst denjenigen in der Mitte der italienischen Gesellschaft, die sich von diesem Totalangriff fernhalten, fehlt die Kraft, fehlen aber auch die Medien, die Diskurse, die Ideen zum Widerstand. Diese Gesellschaft, das aus einem jeweils in sich widersprüchlichen Lager der Linken und der katholischen Gemeinde, aber auch aus den drei Landesteilen Norden, Mitte und Süden besteht, ist zerbrochen, alle gesellschaftlichen Fortschritte, auch die im Kampf gegen die Mafia, gegen die Steuerflucht, gegen den Zerfall von Bildung und Infrastruktur, werden abgewickelt. Italien heute, das ist vor allem Beute. … Der dritte Grund – auch das ein Phänomen, das in ganz Europa beobachtet werden kann – ist der desolate Zustand der demokratischen Zivilgesellschaft und der linksliberalen Milieus. … “

Und was machen die Deutschen?

Erstens mal machen sie in Italien zwar gerne Urlaub, interessieren sich aber nicht wirklich für das Land. Hauptsache, alle sind nett zum zahlungskräftigen Touristen. In Deutschland selbst dagegen werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es so ähnlich kommt. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens zur Bekämpfung von Kinderarmut, stattdessen Raufereien in einer berlinmittigen vom Kern der Dinge ablenkenden Medienblase.

Mittlerweile bin ich vom Deutschlandfunkhören so abgehärtet, dass ich mich über nichts mehr wundere. Aber das vermeintlich “andere” telepolis, hat es dann doch geschafft, mich noch zu überraschen. Wobei: bei diesem Autor, im Hauptberuf Filmkritiker, überrascht es mich nicht mehr. Ein schlechtes Live-Interview eines Grünen-MdB – ich habs mir nicht angehört, und werde es auch nicht tun – genügte dem Herrn Suchsland, die ganze schlechte Performance noch einmal detailgetreu nachzuerzählen – für alle, die es wie ich nicht hören wollten.

Was lernt uns das? In der Sache Kinderarmut nichts, null, nada, niente, wie es Peter Kramer jüngst so schön formulierte. Darüber hinaus lehrt es, dass nicht nur gut bezahlte DLF-Redakteure, sondern auch schlecht bezahlte telepolis-Autoren gerne und bereitwillig auf FDP-Agendasetting hereinfallen.

Dass sich die Grünen in der Hauptstadt dumm genug dafür anstellen, dass das so mannigfach passieren kann, will ich nicht abstreiten. Satisfaktionsfähige Journalisten sollten es allerdings auch ohne Grünen-Assistenz schaffen, die Strategien der Neoliberalen zu erkennen und zu durchschauen.

Seeßlen schafft es doch auch.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net