Die Rechten direkt hier nebenan

Über die AfD im Westen der Republik ist verhältnismäßig wenig in den gängigen Medien zu erfahren. Im September 2019 war zu lesen: „Naja, Freunde aus NRW: Da sollte doch noch was gehen, oder?“ So der thüringische Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner laut FAZ. Damals verzeichneten die Wahlforscher sieben Prozent für die AfD in Nordrhein-Westfalen.

Tatsächlich ging da auch etwas. In NRW würden gegenwärtig etwa 15 v.H. der AfD ihre Stimmen geben. Das löst „Echos“ aus. Zusammenfassend erklärte INSA-Chef Hermann Binkert in Bild: „Wenn die AfD stark bleibt und die Linke es über die Fünf-Prozent-Hürde schafft, könnte es zu Koalitionen kommen, die es bisher im Bund noch nie gab.”

Nur muss man gegenüber Binkerts Angaben zur AfD Vorsicht walten lassen. Er gilt als AfD- nahe. Wie nahe, kann Mensch beispielsweise in der Zeit nachlesen: „Eine von Binkerts Firmen hat sogar Reden für die AfD geschrieben: 2014 bot sein Unternehmen DO Dienstleistungsoffice der thüringischen AfD-Landtagsfraktion die ‘Ausarbeitung von Redeentwürfen’ an, wie der Spiegel bereits 2015 berichtete. Auch ein ‘Arbeitsprogramm’ und Pressemitteilungen entwarf Binkerts Firma demnach gegen Geld für die Thüringer AfD-Fraktion. Die DO Dienstleistungsoffice heißt heute nicht mehr so, sie wurde 2017 umbenannt in Insa Field GmbH – einer der Namen auf dem Schild am Eingang.“

Welche Leute sind das, die im Westen für die AfD werben und sich für die stark machen? Einige Beispiele aus der Region. Der in Bonn lebende Musiksoziologe Professor Hans Neuhoff, ein AfD-Repräsentant aus der ersten Reihe dieser Partei hat dem Bonner General-Anzeiger ein aufschlussreiches Gespräch gewidmet („Gute Chancen aufs Europaparlament“, GA vom 23.8.2023. Seite 15). Neuhoffs Position wurde von der Zeitung so wiedergegeben: „…um es mit den Worten von Björn Höcke …. zu sagen: Die EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.“ Höcke, auf den sich Neuhoff laut GA bezieht, ist ein offen extremistischer, thüringischer Provinzpolitiker, der wegen seiner Auffassungen vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Der Sender Phönix hatte Höcke einige Zeit zuvor ein mehr als neunminütiges Interview gegeben. EU- Kritik Höckes gipfelte im Satz: „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann.” Da ziehen zwei offenkundig am selben Strang.

Höckes Sätzlein vom Leben und Sterben wird beim einen oder der anderen etwas klingeln lassen. Der Satz ist Abwandlung einer Zeile aus dem Gedicht Heinrich Lerschs Soldatenabschied – 1916 publiziert, in dem es heißt: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“

Ich kann mir vorstellen, dass es Höcke wie seinen politischen Freundinnen wie Freunden warm ums Herz wurde, als sie bei Lersch lasen:

„Nun lebt wohl, ihr Menschen, lebet wohl! Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen: Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!“

Lersch war Rheinländer. Er wurde in Mönchen-Gladbach geboren (damals München-Gladbach), er wohnte viele Jahre in Bad Bodendorf, gestorben ist er in Remagen. Er gilt in seinen frühen Jahren als Arbeiterdichter, als Repräsentant der katholischen Kritik an den Verhältnissen im Kapitalismus. Nach 1930 war er dem Nationalsozialismus immer fester verbunden. Er mutierte zum Nazi. Im Portal Rheinische Geschichte heißt es über ihn, mit der erwähnten Verszeile habe er sich „in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeschrieben“

„Kollektives Gedächtnis“ – die meisten heute hier Lebenden werden von Lersch nie gehört haben. Lersch hat eine Menge geschrieben. Martin Walser hat für seinen Roman „Hammerschläge“ ein Nachwort verfasst. Was aus Lerschs Feder floss, geriet zu oft ins Aufgeblasene, es färbte sich zum nationalistischen Herz-Schmerz-Gedöns: Reinen und heiligen Herzens sein, dennoch Schuld auf sich laden, aber „sein Kreuz tragen“ und irgendwie Erlösung finden. Im Kreuz, in der Nation, im Deutschtum. Das sind Muster in seinem Schaffen. Lersch irrte in seiner Zeit umher. Wie jemand, der sich lebenslang als zu kurz gekommen wähnte, als übersehen, zu wenig gewürdigt, jemand dem Anerkennung verweigert wurde. Es wundert nicht, dass Verse aus Lerschs Wort-Schmiede und seine Gefühlsmuster nun in den Repertoires bestimmter Männer auftauchen.

Schließlich sind Lerschs Satz und die Ausweitung auf Europa in sich unsinnig. Metaphern kritisch betrachtet stellte Lersch eine existenzielle Verbindung zwischen einem unerbittlichen Land im Angriffskrieg (das Kaiserreich im ersten Weltkrieg) und dem möglichen Sterben seinesgleichen her. Das ist ebenso unsinnig wie der immer noch auf Kriegerdenkmalen zu findende Satz: „Ihren gefallenen Söhnen Die dankbare Vaterstadt.“ Die AfD-Aktivistin Irmhild Boßdorf aus dem Siebengebirge hat diesen Text nebst Relief eines nackten Mannes mit dem Schwert in der Hand und dem Stahlhelm auf dem Kopf, auf einem Pferd reitend, in ihrer Facebook Fotogalerie gewürdigt: „bewegend“. Es handelt sich um ein Kriegerdenkmal in Ansbach. Figur und Komposition stammen von Professor Georg Müller, der in der „großen Deutschen Kunstausstellung“ von 1937 bis 1944 vertreten war, in welcher Nazideutschland das kulturelle Bild von sich selber entwarf.

So fügen sich die alten und die neuen Dinge bei manchen.

Höcke will ein von Parlamenten ratifiziertes Vertrags- und Normensystem vor die Hunde gehen lassen, um einem weitgehend unbestimmten Gegenstand (er nennt den „das wahre Europa“) zum Sieg zu verhelfen. Dieses wahre Europa soll eine Festung sein, so viel ist mittlerweile klar. Es hat wie eine Festung nach außen harte Grenzen, es will die europäischen Kulturen vor anderen Kulturen schützen. Neuhoff warnte in mehreren Interviews vor einem Europa etwa um das Jahr 2080, in dem Muslime gut 40 Prozent der Bevölkerung stellten. Er sagt von sich selber, er sei in der Welt weit herumgekommen, in Afrika und Asien und er wisse, wovon der rede.

Und wenn das nicht so läuft, wie man sich das in der AfD vorstellt? Da hilft Irmhild Boßdorf aus dem Siebengebirge weiter. Zu ihrer Person ist auf t-online zu lesen: „Ihr Vater war rechts, ihr Mann war rechts, ihre Kinder sind rechts: Irmhild Boßdorf mögen viele Parteibeobachter als neues Gesicht empfinden, sie ist aber seit Jahrzehnten Teil der Neuen Rechten in Deutschland.“

Die Frankfurter Rundschau berichtete über sie vom AfD-Parteitag: „In ihrer Bewerbungsrede forderte sie eine ‘millionenfache Remigration’ und sprach von einem ‘menschengemachten Bevölkerungswandel’, wohl in Anlehnung an den menschengemachten Klimawandel. ‘Was wir brauchen, sind Pushbacks, egal, was der Europäische Gerichtshof dazu sagt’, sagte Boßdorf in ihrer Rede. Für diese Worte erntete sie viel Applaus. Unter Remigration versteht man in der extremen Rechten die zwangsweise Rückführung von Menschen ausländischer Abstammung in die vermeintlichen Heimatländer, also in die Herkunftsländer der Vorfahren. Der Begriff wurde maßgeblich von der schon lange als gesichert rechtsextremistisch eingestuften ‘Identitären Bewegung’ (IB) etabliert. Boßdorfs Tochter Reinhild Boßdorf ist eine szenebekannte Aktivistin der IB.“

Boßdorf warb bis vor wenigen Tagen auf Xing für sich mit den Angaben: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro eines AfD- Bundestagsabgeordneten, „Stadtführerin für die Stadt Bonn“ und „Museumsführerin“ im Haus der Geschichte. Aus der Stadtführung ist sie seit 2021 raus, aus der Museumsführerin seit 2018.

Die Ursprungsmetapher aufs Leben durch Sterben ist übrigens einige tausend Jahre alt. Sie steht im Johannesevangelium, Kapitel 12 Vers 24. Aus der Elberfelder Bibel: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ Es war ein bildhafter Vorgriff auf den kurz darauf folgenden Mord am Religionsgründer Jesus von Nazareth. In der Religionsgeschichte der Christen ergibt das einen Sinn. Aber sonst?

Neuhoff hat ein kuriose Erklärung für Höckes Bezeichnung des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Höcke nannte das ein „Denkmal der Schande“. In der Rede, in der dies vom Höcke gesagt wurde, forderte der auch eine Wende bezogen auf unsere Art des Erinnerns um 180 Grad – also ins Gegenteil des Heutigen. Neuhoff meinte im GA, das Mahnmal so zu bezeichnen, wie Höcke das getan habe, sei als „Bewunderung“ zu werten. Wer das glaubt, der hält Richard Wagner auch für einen Sänger der Comedian Harmonists.

Manches sagen AfD- Repräsentanten offen. Sie tun das, weil die eigenen Leute wissen und verstehen sollen, was gemeint ist; die anderen können später nicht sagen: Wenn wir das gewusst hätten! Bestes Beispiel ist das Sommerinterview, das Höcke am 9.8. dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) gab. Höcke sagte, in der Bildungspolitik werde die AfD, sofern sie die entsprechende politische Macht in die Hände bekomme, zuerst einmal das Ideologieprojekt Inklusion beenden. Eine „gesunde Gesellschaft“ benötige eben auch „gesunde Schulen“, meinte Höcke zur Begründung, offenbar darauf anspielend, dass die Inklusion beeinträchtigte, behinderte Kinder in den allgemeinen Schulablauf in allgemeinen Schulen und Klassen integriert.

Inklusion ist kein Gewähren, kein Gnadenrecht sondern ist Grundrecht. Seit 1994 ist im Grundgesetz zu lesen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Daraus folgt, dass Menschen mit Behinderung nicht anders behandelt werden dürfen als alle anderen Menschen. Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nannte Höckes Ankündigung folglich einen „Tabubruch“. „Angesichts dieser menschenfeindlichen Haltung“, fuhr sie fort, „können wir nur ahnen, wie Herr Höcke mit Menschen mit Behinderung umgehen möchte“. Von im Bildungsbereich tätigen AfD- Leuten wie Neuhoff ist keine Kritik an Höckes Worten bekannt. Die Ankündigung eines ungeheuerlichen Rechtsbruchs wird goutiert.

Anderes ist irgendwie rätselhaft – oder auch nicht. Dem GA sagte Neuhoff nach Darstellung der Zeitung: „Deutschland und die europäischen Staaten allein seien zu klein, um künftig zu bestehen“. An anderer Stelle bekennt er, dass sein „Vorbild“ Viktor Orbans Ungarn sei. Orban, der ungeschminkt revisionistische Forderungen gegen Nachbarstaaten erhebt. Da scheint sich in der AfD etwas aufgetan zu haben in der Folge der Extremisierung dieser Partei, das für uns alle brandgefährlich ist.

Nichts vor dem, was aus der AfD im Westen oder auch anderswo quillt, hilft Probleme zu lösen. Aus der EU aussteigen – das würde die Bundesrepublik wirtschaftlich ruinieren und isolieren.

Kein Vorschlag aus der AfD hilft, die Umweltkrise abzuwenden. Dabei ist mit den Händen zu greifen, dass diese Krise nur mit mehr internationaler Kooperation abzuwenden ist, nicht durch weniger Zusammenarbeit.

Die AfD hat keinerlei Lösung, um die nach Millionen zählende Arbeitskräftelücke in den kommenden Jahrzehnten zu schließen.

Man findet nichts, um die Produktivität im Land zu heben, nichts um mehr Mitsprache und mehr sozialen Zusammenhalt zu schaffen. Wer den Neuhoffs und den Boßdorfs im Westen folgt, setzt auf eine Exit- Strategie, die in die Katastrophe führt. Da passt denn auch kein Heinrich Lersch mehr, freilich Friedrich Schiller:

„Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“ (Die Jungfrau von Orleans – 3. Aufzug, 6. Auftritt)

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.