Warum „Du sprichst aber gut Deutsch“ kein Kompliment ist – Dass sie gut Deutsch sprechen könne, hat unsere Autorin schon häufig gehört. Für sie ist der Satz aber kein Lob – sondern im Gegenteil eine Herabsetzung.

Im Laufe meiner Jugend bin ich häufig damit konfrontiert worden, dass ich für eine „Ausländerin“ sehr gut Deutsch spreche. In dieser unscheinbaren, vermeintlich nett gemeinten Behauptung stecken weitreichende Implikationen, die ich vorsichtig aufzeigen will.

Es liegt mir dabei fern, jedem, der eine solche Aussage tätigt, rassistische Motive vorzuwerfen. Für mich sind die psychosozialen Mechanismen dahinter von Interesse.

Es geht nicht nur um Sprachkenntnisse

Zunächst will ich den französischen Psychologen und Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon bemühen, der zu Recht hervorgehoben hat, dass eine Sprache zu sprechen nicht nur bedeutet, in der Lage zu sein, sich zu verständigen, sich der Sprache gleich einem Mittel zum Zweck zu bedienen, um einen Platz in der Gesellschaft zu finden; es heißt vielmehr: „eine Welt, eine Kultur auf sich zu nehmen“.

Was heißt es mit Blick darauf, dass ich für eine „Ausländerin“ sehr gut Deutsch spreche? Es heißt, dass ich nicht nur der Sprache mächtig, sondern ebenso der deutschen Kultur teilhaftig bin. Ich werde auf den teils schmerzhaften Prozess zu sprechen kommen, den ich für die Assimilation in die deutsche Gesellschaft durchlaufen musste.

Mit Fanon gesprochen bedeutet die Behauptung, jemand spreche überraschend gutes Deutsch („für eine Ausländerin“) im Umkehrschluss, dass die anderen – der deutschen Sprache weniger Mächtigen – der Kultur weniger habhaft und auch weniger deutsch seien als ich.

Hinter der Aussage verbirgt sich darüber hinaus ein Überraschungsmoment: Es wird von nicht-deutschen Personen nicht erwartet, dass sie so gut Deutsch sprechen. Manchmal schwingt vielleicht sogar ein unausgesprochenes Wenn-doch-nur-jeder-so-gut-Deutsch-sprechen-würde-wie-du mit.

Eine Herabsetzung?

Durch meine Sprachkenntnis mutiere ich gleichsam zu einer Schablone, an der sich „die anderen“ gerne orientieren könnten. Für mich fühlte sich dieser Satz nicht wie ein Kompliment an, sondern wie eine Herabsetzung der anderen Migrant:innen, die möglicherweise der deutschen Sprache weniger mächtig sind, als ich es bin.

Die Aussage, dass ich für eine Nicht-Deutsche sehr gutes Deutsch spreche, kann bedeuten, dass ich weißer, kultivierter und dadurch vielleicht sogar kulturell verständiger bin als meine Landsleute und alle Migrant:innen, die schlecht oder gar kein Deutsch sprechen. Gewiss, eine derartige Auslegung eines unscheinbaren Satzes wie „Du sprichst aber gut Deutsch!“ mag radikal anmuten, aber sie ist aus meiner Erfahrung gewachsen.

Ich habe erlebt, wie Sprache Türen und den Zugang zu Lebenswelten eröffnet, die für all jene verschlossen bleiben müssen, die es nicht schaffen, „so gut Deutsch zu sprechen“ wie ich es tue. Es mag sein, dass dies ein Phänomen ist, das im Allgemeinen für Nicht-Deutsche genauso gilt wie für Deutsche; der Unterschied in der Ausdrucksweise zwischen akademisch gebildeten Menschen und jenen, die wenig Bildung genossen haben, kann eklatant ausfallen.

Doch darum geht es mir nicht. Es geht mir vielmehr um die Gefühle der Unzulänglichkeit, die ursächlich aufgrund ungenügender Sprachkenntnisse hervorgerufen werden können.

Und andererseits um mögliche Schwierigkeiten, die bei dem vergeblichen Versuch einer vollständigen Assimilation in die deutsche Gesellschaft entstehen können – nicht zuletzt auf Kosten der Verleugnung der eigenen Herkunft.

Gefühl der Minderwertigkeit

Obschon sich meine Welt mit dem Umzug nach Deutschland auf der geografischen Ebene erweiterte, schrumpfte sie auf der psychischen. Ich war zehn Jahre alt, als wir unsere Heimat verließen. Und je länger wir in Deutschland lebten, umso mehr wuchs das Gefühl der Minderwertigkeit in mir.

Es begann in der fünften Klasse der Hauptschule. Erst kurz zuvor bin ich von der Sprachschule in die Regelklasse gewechselt, mitten in den sogenannten Lesewochen, im Rahmen derer die Schüler jeweils ein Buch vorstellen mussten. Die besten Vorlesenden wurden zum alljährlichen Lesewettbewerb zugelassen.

Mir imponierten die Auserwählten und gleichzeitig empfand ich so etwas wie Neid auf sie; nicht von der missgünstigen, aber von der wehmütigen Art. Und an diesem Tag begriff ich auf schmerzliche Weise, dass Sprache mit gewissen Vorteilen verbunden ist, die in meinen Kinderaugen ins Unermessliche stiegen.

Vielleicht war das ein Schlüsselerlebnis, das mich dazu gebracht hat, die deutsche Sprache schnell und gut zu erlernen und schließlich den Beruf der Journalistin zu ergreifen. Ich lernte innerhalb weniger Jahre, akzentfrei und flüssig Deutsch zu sprechen.

Von da an überraschte ich die Menschen um mich herum häufig, wenn ich sagte, dass ich erst seit zwei, drei oder vier Jahren in Deutschland lebte. Fortan sollte der Satz „Du sprichst aber gut Deutsch!“ mein ständiger Begleiter werden.

Gute Sprachkenntnisse reichen nicht aus

Das oben erwähnte Minderwertigkeitsgefühl, zunächst hervorgerufen durch die Reaktion auf mangelhafte Sprachkenntnisse, blieb trotz des guten Deutsch bestehen. Es blieb, weil ich ernüchtert feststellen musste, dass einfach nur gut Deutsch zu sprechen nicht ausreichte, um von den anderen als Ihresgleichen anerkannt zu werden.

Wenngleich Fanon recht damit hat, dass eine Sprache zu sprechen immer auch bedeutet, eine Kultur und eine Welt auf sich zu nehmen, heißt es im Umkehrschluss nicht, dass man von den Menschen in der Kultur und der Welt, in die man sich assimiliert, angenommen wird.

Ich merkte, dass viel mehr geschehen musste, wollte ich nicht nur als eine Migrantin angesehen werden, die gut Deutsch spricht. Zwar fühlte ich mich zunehmend der deutschen Kultur zugehörig. Aber ich war weiterhin Teil der Unterschicht, der im Übrigen eine überwältigende Mehrheit der Migrant:innen angehört.

Doppelt marginalisiert bewegen wir uns an der untersten Grenze der Möglichkeiten; von wo aus man gerade noch erkennen kann, was möglich ist und zugleich einsieht, dass es einem selbst verschlossen bleiben wird. Wir, das heißt, meine nicht-deutschen Freunde, ich und unsere Eltern genossen aus meiner Sicht weder Gleichberechtigung noch Chancengleichheit.

Es schien mir, als sei es gar nicht erwünscht, dass wir erfolgreich werden, dass einer von uns „es zu irgendetwas bringt“. Wir waren vielmehr für all die Jobs vorgesehen, für die sich die Deutschen zu fein waren. Der Satz „Jeder kann es schaffen“ ist ein schlechter Witz, gemessen daran, dass „es“ nur die Wenigsten von uns schaffen können.

Denn den meisten fehlt schlicht das Wissen um die institutionellen Strukturen, das nötig wäre, um voranzukommen, um den Kreis des ewigen Stillstandes zu durchbrechen, um mehr als nur zu überleben. Selbstverwirklichung war anderen vorbehalten. Und wer unter seinen Möglichkeiten blieb, war selbst schuld.

Doch dass wir statt offener Türen schier unverrückbare Steine auf unseren Wegen vorfanden und weder Unterstützung noch Hinweise darauf bekamen, wie man sich in der deutschen Welt zurechtfindet und ein gelingendes Leben führt, machte es für die meisten unmöglich, ihr Potenzial auszuschöpfen.

Scham als ständiger Begleiter

Überwältigt von der ständig spürbaren, aber nicht benennbaren Asymmetrie in Bezug auf meine Lebensweise und der meiner nicht-deutschen Freunde und ihrer Eltern, begann ich, mich auch für meine Herkunft zu schämen. Ich schämte mich für alles, was nicht deutsch an mir war – und das war beachtlich viel.

Ich schämte mich so sehr, dass ich meine deutschen Freunde nie zu uns nach Hause einlud. Denn meine Eltern sprachen brüchiges Deutsch, aßen andere Speisen, besaßen andersartige Möbel als die Eltern meiner deutschen Freunde.

Ich schämte mich dafür, dass wir kein Weihnachtsfest feierten, sodass ich eines Tages meine Eltern dazu nötigte, einen Weihnachtsbaum zu kaufen und Geschenke darunterzulegen. Nicht, weil mir Weihnachten am Herzen lag, sondern bloß, um dazuzugehören.

Meine Scham mag daraus resultieren, dass ich mich damals – wie fast jeder Pubertierende, der die eigenen Eltern mit einer gewissen Scham besetzte – abgrenzen wollte. Aber es war mehr als nur ein Generationenkonflikt. Ich begann, praktisch alles abzulehnen, was afghanisch an mir war.

Ich wollte deutsch werden, oder zumindest europäisch, und das durch und durch. Dafür musste ich alles in mir unterdrücken, was anders war. Anderssein, so dachte ich, ist unmöglich, wenn ich in dieser Gesellschaft als ein gleichberechtigter Teil und nicht bloß als ein Anhängsel, ein Mensch zweiter Klasse, ankommen will.

Im Alltag unterschätzt werden

Wenngleich es rückwirkend schwer zu bestimmen ist, welche Motive mich beim Spracherwerb getrieben haben, glaube ich, dass ich schnell begriffen hatte, dass ich nur dann eine Chance habe, ernst und wahrgenommen zu werden, wenn ich der Sprache mächtig bin.

Ich tat es zu gleichen Teilen aus Neugierde und aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus. Eine besondere Form der Unterlegenheit, die ich gegenüber dem weißen, dem deutschen, ja sogar dem weißen nicht-deutschen Teil der Gesellschaft empfand.

Nicht zuletzt, weil ich bemerkte, dass die Menschen – von Fahrkartenkontrolleuren, über Bäckereiangestellten hin zu Lehrern – mit meinen Eltern, die sich nur in gebrochenem Deutsch verständigen konnten, anders umgingen als miteinander oder mit Personen, die einwandfrei Deutsch sprachen.

Mir fiel also auf, dass die Sprachkenntnis oft mit der Weise korrelierte, wie uns andere begegneten. Wenn die Grenze meiner Sprache die Grenze meiner Welt markiert, wie es Ludwig Wittgenstein einmal formuliert hat, dann musste ich die Grenzen meiner Sprache sprengen, um meine Welt um einen größtmöglichen Horizont zu erweitern.

Und doch: Das alles genügte nicht. Ich blieb die Ausländerin, die gut Deutsch spricht. Sehr gut Deutsch für eine Nicht-Deutsche zu sprechen, weist wie in meinem Fall auf einen schmerzhaften Prozess der Selbstverleugnung hin, geprägt von dem Wunsch, dazuzugehören. Es zeigt auf, dass wir – und damit meine ich die deutsche Gesellschaft – zwar von Diversität und Pluralität sprechen, beides in der Realität aber kaum aushalten. Es zeugt nicht zuletzt von einer Selbstüberhöhung und der Unterschätzung des Anderen.

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