Zum Vorschlag von Brandt, Funke, Kujat und Teltschik von August 2023
In „Zeitgeschehen im Fokus“ wurde am 28.8.2023 ein Verhandlungsvorschlag von Professor Dr. Peter Brandt, Professor Dr. Hajo Funke, General a. D. Harald Kujat und Professor Dr. h. c. Horst Teltschik veröffentlicht.
Einleitend stellen die Autoren fest, dass die Ukraine einen legitimen Verteidigungskrieg führe. Dennoch habe die Regierung der Ukraine die Pflicht, „Vernunft walten zu lassen, sich der Steigerung von Gewalt und Zerstörung nicht hinzugeben und die Erlangung eines gerechten und dauerhaften Friedens politisch zu befördern“. Dies gelte auch für alle waffenliefernden Staaten, für Deutschland insbesondere auch aufgrund des Friedensgebotes des Grundgesetzes. Ebenfalls werde in zwei UNO-Resolutionen zu diplomatischen Anstrengungen zur Kriegsbeendigung aufgefordert. Allerdings lehne die Ukraine aktuell Verhandlungen ab. Die Autoren betonen, dass „die Entscheidung darüber, welche Aufwendungen geleistet werden müssen, damit der Krieg gegen jede Vernunft und trotz der Unerreichbarkeit der politischen Ziele weitergeführt wird“, nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden dürfe. Weder Russland noch die Ukraine könnten die selbstgesteckten Ziele militärisch erreichen. Angesichts der hohen Zahl von getöteten Soldat*innen und Zivilist*innen und der extremen Kriegsziele bestehe die Gefahr, dass die Ukraine fordern werde, dass zusätzlich zu den Waffenlieferungen auch westliche Soldat*innen eingesetzt werden sollen. Das Risiko einer Eskalation zu einem Krieg zwischen NATO und Russland bis hin zur Gefahr eines Atomkrieges in Europa steige ständig, zumal die Ukraine zunehmend auch Ziele in Russland angreife.
Die Autoren sehen auf der russischen Seite eine wiederholt vorgetragene Bereitschaft zu Verhandlungen. Für Optionen auf geplante Angriffe gegen weitere Staaten durch Russland oder gar die Wiederherstellung der Sowjetunion gebe es keine Belege. In einer Erklärung Putins vom 21.9.2022 heiße es: „Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äußerten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. […] Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichte zu machen.“ In einer Erklärung zur Annexion der östlichen Regionen der Ukraine forderte Putin die Beendigung aller Kampfhandlungen und die Rückkehr der Ukraine an den Verhandlungstisch und fügte hinzu: „Wir sind dazu bereit, das haben wir bereits mehrfach erklärt.“ Erneut habe Putin am 17.6.2023 unter Verweis auf den Vertragsentwurf von Istanbul gegenüber der afrikanischen Friedensdelegation erklärt: „Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Berücksichtigung der legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht.“
Die Autoren konstatieren: „Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert – wozu Selenkskij anfangs durchaus bereit war – , auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt. Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des «kollektiven Westens» und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.“ Es sei nun „dringend geboten, die Eskalationsschraube anzuhalten, bevor sie eine nicht mehr politisch kontrollierbare Eigendynamik entwickelt“.
Im Folgenden stellen die Autoren die aktuellen Positionen der Kriegsparteien dar und fordern eine Aufnahme von Verhandlungen ohne Vorbedingungen und ein Anknüpfen an die Ergebnisse von Istanbul. Insbesondere die USA müssten die Ukraine zu solchen Verhandlungen drängen. In einer ersten Phase müsse dann ein Waffenstillstand vereinbart werden, dessen Einhaltung dann von UN-Truppen zu überwachen wäre. In Phase II sollten dann unter Vorsitz des UN-Generalsekretärs Friedensverhandlungen beginnen.
Elemente einer Verhandlungslösung wären die Einrichtung einer UN-überwachten entmilitarisierten Zone von jeweils 50 km beiderseits der ukrainischen Ostgrenze und eine Neutralitätserklärung der Ukraine mit Sicherheitsgarantien durch andere Staaten. Zu den Konflikten hinsichtlich der Zugehörigkeit der umstrittenen ostukrainischen Gebiete und der Krim müsse dann eine langfristige Verhandlungsphase eingeleitet werden. Sollte keine bilaterale Lösung gefunden werden, solle die UNO in den betroffenen Gebieten Referenden abhalten, an denen alle dortigen Einwohner*innen mit Stand vom 31.12.2021 zu beteiligen wären. Für Regionen, die dann im Staatsverbund der Ukraine bleiben, müssten Minderheitenrechte entsprechend dem Minsk-II-Abkommen gewährleistet werden.
In einer 3. Phase solle dann an einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung gearbeitet werden: „Langfristig kann nur eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung die Sicherheit und Freiheit der Ukraine gewährleisten, in der die Ukraine und Russland ihren Platz haben. Eine europäische Sicherheitsarchitektur, in der die geostrategische Lage der Ukraine keine Schlüsselrolle mehr für die geopolitische Rivalität der Vereinigten Staaten und Russlands spielt. Der Weg dorthin führt über eine Konferenz im KSZE-Format, die an die grossen Fortschritte der «Charta von Paris» anknüpft und diese unter Berücksichtigung der gegenwärtigen sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen weiterentwickelt.“
Es lohnt sich, den Verhandlungsvorschlag insgesamt zu lesen – siehe den o.a. Link! General a.D. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, hatte kurz vor Veröffentlichung dieses Verhandlungsvorschlags in einem ebenfalls sehr lesenswerten Interview auf die besondere Verantwortung der Bundesregierung hingewiesen und am Ende resümiert: „Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung weiterhin das Friedensgebot der Verfassung ignoriert, das Risiko der Eskalation und Ausweitung des Krieges durch immer weitere Waffenlieferungen bis zum «Point of no Return» fördert und keine Anstrengungen zu einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden unternimmt.“
Martin Singe ist Mitglied im Redaktionsteam des Friedensforums und bei pax christi aktiv. Vorstehender Artikel erscheint im Friedensforum 6/2023 und kann vorab genutzt und verbreitet werden.
@extradienst für mich sieht die Erklärung so aus, dass die Ukraine die Krim und ggf. andere Gebiete aufgeben soll. Damit wird imperiales agieren belohnt. Es wird eine ehrliche Verhandlungs- und Friedensbereitschaft Putins angenommen, dieser fehlt die Grundlage.
Der Vorschlag sieht vor, dass sich die Ukraine und Russland in einem sehr langen Zeitraum (bis 15 Jahre) bilateral über die Zugehörigkeit oder Autonomie der Territorien einigen bzw. UN-beaufsichtigte Referenden der Bevölkerungen stattfinden. Es steht ja das Selbstbestimmungsrecht der Völker immer wieder dem Souveränitätsanspruch von Staaten gegenüber. Wäre Minsk II mit seinem relativen Autonomieversprechen umgesetzt worden, wäre es wohl kaum zum Krieg gekommen. Die Alternative zum VErhandlungsvorschlag ist die Kriegsfortführung mit Zehntausenden von weiteren Kriegstoten und Verstümmelten. Auch in der Ukraine wird zwangsrekrutiert. Der Grenzschutz hat über 20.000 Männer an den Grenzen abgefangen. Sieht so die Verteidigung “westlicher Werte” aus?