Warum Altsein nicht toleriert wird – Das Phänomen „Altersrassismus“ ist nicht neu. Dagegen muss unsere Gesellschaft dringend etwas tun, findet unsere Autorin.
Sicher denken viele, dass es Altersrassismus erst seit wenigen Jahrzehnten gibt. Dem ist nicht so. Die Soziologin und Psychologin Betty Friedan beschreibt in ihrem im Rowohlt-Verlag Hamburg erschienenen Buch „Mythos Alter“, dass dieses gesellschaftliche Phänomen schon in den 30er-Jahren in den USA existierte.
Und da man in Deutschland vieles aus den USA übernimmt, kam diese hässliche Art des Denkens über ältere Menschen und den Umgang mit ihnen schon vor vielen Jahren auch zu uns und pflanzt sich bis heute fort.
Die falsche Sicht auf ältere Menschen
Menschen in hohem Alter werden nur noch über ihr Altsein definiert. „Bei der Stereotypisierung des Alters sind die gleichen Kräfte am Werk wie bei den Stereotypisierungen von Rasse und Geschlecht“, schreibt Friedan. So wird zwischen Jung und Alt gern nach unterschiedlichen Maßstäben bewertet: Vergisst ein junger Mensch beim Einkauf zum Beispiel das Brot, dann hat er es nur vergessen. Ein älterer Mensch gilt in diesem Fall als senil.
Rassismus und Geschlechterungerechtigkeit werden in unserer heutigen Gesellschaft hart bekämpft. Bei Altersrassismus hat man dagegen den Eindruck, dass dieser immer mehr zunimmt. Alte Menschen gelten als gebrechlich, pflegebedürftig, einsam und senil.
Dass sie sich auch in höherem Alter noch weiterentwickeln und neue Interessen, Erfahrungen und Fertigkeiten erlernen können – ja, ihre Intelligenz auch im Ruhestand nicht verloren geht, sofern sie aktiv bleiben, wird ihnen von Jüngeren schnell abgesprochen.
Da sie nach ihrem Erwerbsleben und der Sorgearbeit für den Nachwuchs nun endlich Zeit für Dinge haben, die früher viel zu kurz kamen, können sie sich viele neue Felder erschließen: Sprachen lernen, Sport treiben oder aber kulturelle Aktivitäten entwickeln. Ohne die alten Menschen würde es auch in vielen Bereichen mit ehrenamtlichen Tätigkeiten heute sehr schlecht aussehen.
Ich kenne viele 70- bis 90-Jährige, die auf so hohem Niveau in einem Berliner Seniorenchor mitsingen, dass sie vor einem Jahr als Sonderpreisträger des Berliner Chorwettbewerbes zum Konzert der Preisträger live im RBB auftraten und im Großen Sendesaal viel Beifall bekamen. Seniorenchöre waren eigentlich vom Wettbewerb ausgeschlossen und durften nur außer Konkurrenz mitsingen. Ist das nicht auch schon Altersrassismus?
Selbstbestimmung statt „erlernter Hilflosigkeit“
Als sehr wichtig für ein gesundes Altern hat Friedan die Selbstbestimmung hervorgehoben. Es sei wichtig, dass Ältere so lange wie möglich in ihrer selbstgewählten Umgebung verbleiben, in der sie Pflichten und Aufgaben zu erledigen haben.
In diesem Zusammenhang schreibt sie von „krankmachender Betreuung“ und „erlernter Hilflosigkeit“ durch eine Rundumpflege. „Alle Unterstützungseinrichtungen für Senioren müssen sich daran messen lassen, ob sie Unselbstständigkeit verstärken und die Abgrenzung alter Menschen fördern, oder ob sie auf Integration und Unabhängigkeit hinarbeiten“, schreibt sie.
Dazu gehört auch die Freiheit der Entscheidung, seinen Tagesablauf selbst zu gestalten oder Risiken eingehen zu dürfen und sich nicht einer „Überbehütung“ unterwerfen zu müssen, die Inaktivität fördert.
Betty Friedan stellte fest, dass „Leute, die sich für etwas einsetzen und viele Interessen haben, eher gesund bleiben und dann einfach sterben, also nicht lange kränkeln und gebrechlich oder senil werden“. Dass das so ist, habe ich selbst erlebt.
Ein früherer Sportkamerad von mir, der regelmäßig zum Schwimmtraining kam und dreifacher Weltmeister in seiner Altersklasse war, starb im Schlaf im Alter von 91 Jahren in einer Nacht, nachdem er am Abend noch trainiert hatte.
Er gehörte einer Masters-Mannschaft an, die regelmäßig zu Wettkämpfen fuhr – auch deutsche, Europa- und Weltmeisterschaften gehörten dazu. Dieser Mann hatte erst mit Ende 60 mit dem Schwimmsport angefangen, was anschaulich zeigt, dass man auch im Alter Neues beginnen kann.
Leider erfährt man aus der Welt des Master-Sports, der in vielen Disziplinen ausgeübt wird, nichts in den Medien. Auch das ist Altersrassismus.
Sozial aktiv bleiben
Menschen, die ihr eigenes Altern realistisch sehen, kommen damit viel besser zurecht als solche, die ihre zunehmenden Jahre zu verbergen suchen. Für Letztere stehen zahlreiche kosmetische und operative Mittelchen bereit, die ihnen viel Geld aus der Tasche ziehen können.
Viel wichtiger als eine Fassadenaufhübschung ist jedoch nach Friedan „ein Netz enger sozialer Bindungen und Beziehungen vor allem auch außerhalb der Familie“.
Außerdem vermutet sie, dass das Alter „Entwicklungsmöglichkeiten bietet, die in der Jugend nicht gesehen oder nicht vollständig ausgeschöpft werden“ und dass die höhere Lebenserwartung des Menschen einen evolutionären Sinn haben kann, um neue Möglichkeiten für die Gesellschaft zu erproben.
In diesem Kontext kann man auch das Redaktionskollegium des Seniorenmagazins Treptow-Köpenick sehen, das aus ehrenamtlich tätigen Ruheständlern im Alter von Ende 60 bis über 90 besteht, die aus den verschiedensten Berufen kommen und nicht nur gelernte Journalisten sind. Genauer gesagt: Ohne diese aktiven Seniorinnen und Senioren würde es diese Zeitschrift, die nicht nur gern von älteren Bürgerinnen und Bürgern gelesen wird, gar nicht geben!
Der Wert älterer Menschen für unsere Gesellschaft
„Erst wer sich nicht mehr zu Konkurrenz und Perfektion getrieben fühlt, kann Weisheit, Reife, Gelassenheit und Abgeklärtheit als seine Stärken genießen und erfahrungsgemäß bleiben diese Menschen länger psychisch stark und physisch stabil und ihnen gelingt es besser, auftretende Probleme zu meistern“, schreibt Betty Friedan.
Auch manche Künstler erreichen erst im Alter eine bisher unbekannte Reife. Durch die in vielen Daseinsjahren angesammelte Lebenserfahrung haben viele alte Menschen die Fähigkeit erlernt, „durch das ganze Brimborium zum Kern vorzustoßen … und man selbst zu sein“ und nicht mehr über jedes Stöckchen springen zu müssen, das man ihnen hinhält.
Kommen wir zu einem heiklen Punkt. Auch in Deutschland sind manche junge Menschen der Meinung, dass sich Senioren aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen sollen, um „Platz zu machen“.
Denkt man diese Forderung weiter, so könnte man daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass Ältere nur noch Kosten verursachen und es aus Sicht der Gesellschaft vorteilhafter wäre, wenn sie verschwinden würden. Es sei kein weiter Weg vom „Recht zu sterben“ zur „Pflicht zu sterben“, schreibt Friedan dazu.
Ein Schelm, der Böses dabei vermutet, wenn er an den heutigen Zustand unseres Gesundheitswesens denkt und Befreiungsmöglichkeiten aus diesen Zwängen sucht. Immerhin gab es in verschiedenen Ländern schon Pläne zur Rationierung von Gesundheitsleistungen für ältere Menschen.
Allerdings stellt sich hier die Frage, ob wir eine menschliche Gesellschaft sind oder doch nur eine Herde Wirbeltiere mit höherer Intelligenz, in der ausschließlich das Recht der Stärkeren gilt, denen jede Kultur abhandengekommen ist.
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