Orhan-Pamuk-Ausstellung in Dresden: Bildlichkeiten dies- und jenseits des Bosporus: Autor Orhan Pamuk rekonstruiert sein „Museum der Unschuld“ in Istanbul für die Dresdner Sammlungen.
Eine geborstene weiße Keramik, geformt wie ein Herz, aus der ein roter Samtfaden wie ein Blutstrom quillt. Es sind skurrile Objekte wie dieses, denen das Istanbuler Museum of Innocence seinen Ruf als Touristenattraktion verdankt.
In dem kleinen, fensterlosen, rot gestrichenen Bau in einer versteckten Seitenstraße des Design- und Trödelviertels Çukurcuma hat der Schriftsteller Orhan Pamuk die 83 Kapitel seines 2000 erschienenen Romans „Das Museum der Unschuld“ mit Hunderten Objekten nachgestellt.
Auch wer die unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem jungen Fabrikantensohn Kemal und seiner armen Verwandten Füsun nie gelesen hat, kann in dem 2012 eröffneten Haus die Story anhand der Objekte erahnen.
Diese eröffnen ein fantastisches Panorama des Istanbuler Alltags der Jahre 1950 bis 2000. Ob das nun die kleinen Streichholzheftchen der Zeit sind, als Kemal und Füsun sich im Restaurant Fuaye trafen, oder die Modelle der mit dicker Schokosoße überzogenen Windbeutel, „Profiterol“, aus der legendären Patisserie Inci auf Istanbuls Shopping-Meile İstiklal Caddesi. Die musste Anfang der 2000er Jahre dann schließen.
Wenn die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 41 von Pamuk höchstpersönlich und eigens für diesen Zweck nachgebaute Kabinette dieses Kosmos nun in einem Seitenflügel des Zwingers präsentieren, wollen sie nicht einfach das symbolische Kapital dieser Istanbuler Institution abschöpfen, die über die Jahre immer größere Besucherströme anzog.
Exponate in ihrem sozialen Kontext
Mit der Ausstellung dieses doch recht einzigartigen Museums im Museum stellen sie vielmehr die Frage nach dieser Institution an sich: Nach dem Sammeln, nach den Objekten, nach ihrer Anordnung und der Bedeutung, die sie produzieren.
Die zeitgenössische Museumspraxis will Exponate in ihren sozialen Kontexten entfalten. Pamuk dagegen setzt auf gleichsam auratisch inszenierte Objekte. Für Konzeptualisten westlicher Prägung grenzt es verdächtig an einen obsoleten Dingfetischismus, wie sehr der Autor in Alltagsgegenstände aus der Zeit verliebt ist, in der seine Romane spielen: Aschenbecher, Limonadenflaschen, Filmplakate oder ein anatomisches Modell mit offenem Herzen – Symbol des Liebesschmerzes der Protagonist:innen des Romans.
Man stößt etwa beim Betreten des Museums auf die 4.213 Zigarettenstummel, die Pamuks Figur Füsun einst rauchte, und könnte sie für Originalrequisiten aus den zentralen Szenen der Liebesgeschichte halten. Dabei hat der Schriftsteller diese Objekte nachfertigen lassen, zufällig gefunden oder auf ausgedehnten Streifzügen über Flohmärkte erworben. Das Verwirrspiel zwischen Fakt und Fiktion ist auch ein Prädikat dieses poetischen Museums.
Das Verwirrspiel drückt sich auch darin aus, dass Kemal in dem Roman den Autor Orhan Pamuk bittet, den Katalog des Museums zu schreiben, in dem er nach dem plötzlichen Unfalltod von Füsun die von ihm gesammelten Gegenstände der Geliebten versammeln will.
Roman als kommentierter Ausstellungskatalog
Ein Museum samt einem Roman, der eigentlich ein „kommentierter Ausstellungskatalog“ (Pamuk) ist – das ließe sich Skeptikern des Dresdner Ausstellungsprojekts entgegenhalten – wo anders sollte das hingehören als in ein Museum?
Der Dresdner Ausstellungstitel „Der Trost der Dinge“ spielt auf genau das Motiv an, das Kemal veranlasste, diese Gegenstände zu versammeln. Sie sollen die Erinnerung an etwas konservieren, das unwiederbringlich verloren ist. „Das nenne ich die Kraft der Dinge“, hat Pamuk einmal gesagt, „sie sind eine tröstende Kraft gegen die vergehende Zeit“.
Mögen die Objekte in Holzkabinetten im Dämmerlicht auch seltsam altertümlich wirken: Pamuks Museum ist das spannende Projekt einer Übersetzung des Textuellen ins Bildliche. Und das Prinzip der Dioramen, mit dem er das „Museum der Unschuld“ gestaltete, hat Pamuk auch für seinen Dialog mit den „Alten Meistern“ der Dresdner Sammlungen angewandt.
In 19 neuen Kabinetten hat der Autor einzelne Bilder, die ihn inspirierten, mit Versatzstücken aus der islamischen Bildwelt kombiniert. Das Ganze ist eine Liebeserklärung an den Dadaismus und den Surrealismus geworden. Die Kabinette ähneln Traumlandschaften, Nonsenscollagen oder den mittelalterlichen Wunderkammern. Sie erinnern an die rätselhaften Bilder René Magrittes oder an die, „Boxes“ genannten poetischen Assemblagen des US-Künstlers Joseph Cornell.
Rilkes islamische Engel
Das in der Dresdner Sammlung befindliche Bild des spanischen Barockmalers Francisco Zurbarán, „Gebet des heiligen Bonaventura um die Wahl des heiligen Papstes“ von 1728, zeigt den betenden Heiligen auf Knien, während ihm ein Engel erscheint. Davor hat Pamuk dann Engelsgestalten gehängt, die er in islamischen Manuskripten fand, nachzeichnete und ausschnitt.
Der türkische Autor hatte sich an Rainer Maria Rilkes bis heute kontrovers diskutierten Satz aus einem Brief an seinen polnischen Übersetzer erinnert: „Der Engel der ‚Elegien‘ hat nichts mit den Engeln des christlichen Himmels zu tun, eher mit den Engelsgestalten des Islam.“ Dieser Satz steht nun am unteren Rand des hölzernen Kabinetts.
Für den Schriftsteller zeigt der piktorial inszenierte Vergleich, dass die christlichen Engel größer sind und wie richtige Individuen wirken. Zurbaráns Engel kommuniziert mit seinen geröteten Wangen, dem strengen Gesicht und der in Zurbaráns charakteristischem Naturalismus gestalteten Figur auf Augenhöhe mit dem Heiligen.
Die Engel im Islam fand Pamuk weniger individuell gestaltet und kleiner. Wie ein Schwarm bienenfleißiger Libellen trügen sie Gegenstände von einem Ort zum anderen, ihnen fehle das Eigenständige.
Überraschende Lektüren
In Pamuks so poetisch wie präzis collagierten Kabinetten finden sich viele Beispiele solch überraschender Lektüren. Wenn er etwa die Hand mit Rose auf dem Bild eines indischen Moguls aus dem 19. Jahrhundert mit einem von Rosen gerahmten Bild Jan Brueghels von 1630 kombiniert und darunter Gertrude Steins Satz: „Rose is a rose is a rose is a rose“ schreibt.
Oder wenn der Interpret des berühmten „hüzün“, des Gefühls von Weltschmerz angesichts der verfallenen Stadtmauern Istanbuls, den für die Kunst Ost und West gemeinsamen Topos der „Melancholie des Verfalls“, dadurch exemplifiziert, dass er Paul Brils Bild „Blick auf das Forum Romanum“ von 1600 mit einem osmanischen Pendant überblendet.
Im Jahr des 100. Jubiläums der Gründung der türkischen Republik hätte man von einer Ausstellung, die den Auftakt zu einer ganzen Programmreihe der Dresdner Museen über Kunst in der Türkei darstellt, auch mehr politische Anspielung erwarten können. Denn die Lage der Kunst im Lande ist zunehmend bedrängt.
Doch auch wenn der Schriftsteller einmal bemerkte, dass er sein Land dadurch liebt, dass er es kritisiert – Pamuk ist kein Mann des oppositionellen Fanals. Das politische Signal, das von der Dresdner Ausstellung ausgeht, ist der symbolische Akt der unvoreingenommenen, interkulturellen Kommunikation. Auf seine eigensinnige Weise demonstriert Pamuk, wie sich die Stereotypien dieses Dialogs überwinden lassen.
Bekenntnis zum Gewöhnlichen
Orhan Pamuk ist bekannt für einen gewissen Hang zur Rechthaberei. In Dresden gab er sich angesichts der geglückten Ausstellung gelöst und nahbar, drehte bei der Pressekonferenz den Spieß um und fotografierte lachend die Journalist:innen.
„Ich bin ein normaler Mensch, aber auch ein Museumsfanatiker“ hatte er Marion Ackermann, der Generaldirektorin der Dresdner Sammlungen anvertraut. Seine Dresdner Ausstellung folgt diesem Bekenntnis zum Gewöhnlichen. Denn „Der Trost der Dinge“ ist ein eindrückliches Beispiel für Pamuks wiederholt artikuliertes Plädoyer, in Museen sollten weniger die ehrfurchtheischende Geschichte eines Volkes oder von Königshäusern hervorgehoben werden, „sondern der Mensch, der schließlich seit Jahrhunderten unter unerbittlichem Druck lebt“.
Das Statement aus seinem „Bescheidenen Museumsmanifest“ in der Begleitpublikation zur Ausstellung lässt eine politische Deutung offen. Doch es fügt eine bislang vernachlässigte Perspektive ein in die globale Debatte über Macht und Herrschaft in den Museen, darüber, wem diese Anstalten eigentlich dienen sollten: die des Individuums, die der menschlichen Dimension.
„Orhan Pamuk. Der Trost der Dinge“: Semperbau, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, bis 7. April 2024; Begleitbuch/Katalog: 30 Euro. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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