Ich gebe zu. Ich war immer schon ein bürgerlicher Linker. Was dazu geführt hat, dass ich 1970 in die F.D.P. eingetreten bin und nicht in die moskautreue DKP, die maoistische KPD/ML oder die damals noch in Teilen linke SPD. Immerhin hatte die FDP damals einen Generalsekretär namens Karl Hermann Flach, der in seinem auch heute noch lesenswerten Büchlein „Noch eine Chance für die Liberalen“ solch kluge Sätze geschrieben hatte wie „Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus ist die Voraussetzung seiner Zukunft.“ Das Programm der Freiburger Thesen (1971) bot zu seiner Zeit in Teilen das Beste, was es auf dem politischen Markt gab. Wären z. B. die Thesen zum Bodenrecht verwirklicht worden, bräuchte man heute keine Sonderprogramme zur Schaffung preiswerter Mietwohnungen.
Die Bürgerlichkeit meines Linksseins drückte sich damals wie heute auch in der Überzeugung aus, dass sogenannte bürgerliche Tugenden wie Anstand, Verlässlichkeit, Menschlichkeit und die Bereitschaft zur eigenen Verantwortung zu stehen, keineswegs sekundär sind, wie Oskar Lafontaine sie 1982 in einem „Stern“ Interview abqualifizierte. Lafontaine meinte in völliger Verkennung des humanistischen Kerns bürgerlicher Tugenden, damit könne man auch ein KZ leiten.
Nein, es ist alles andere als anständig, nachmittags jüdische Männer, Frauen und Kinder zu vergasen und abends mit der eigenen Familie Weihnachten zu feiern.
Wenn ein Vorstandsvorsitzender eines DAX-Konzerns heutzutage mehr als das 300-fache dessen verdient, was die Reinigungskraft bekommt, die täglich sein Büro putzt, ist das einfach unanständig und natürlich völlig unangemessen.
Und ja, es ist in höchstem Maße unanständig, nachfolgenden Generationen einen Schuldenberg zu hinterlassen, der mit normalen Mitteln nicht abzutragen ist.
Mit bürgerlichen Tugenden ist es nicht vereinbar, das Klima weiter zu ruinieren, obwohl man eigentlich seit dem 1972 veröffentlichten Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ weiß, was das für die Zukunft unseres Planeten bedeutet.
Wenn deutsche Linksintellektuelle zu dem stünden, was Deutschland vor 80 Jahren dem jüdischen Volk angetan hat, würden sie nach dem 7. Oktober 2023 nicht von „notwendiger Kontextualisierung“ reden, wie dies auch UN-Generalsekretär Guterres in seiner umstrittenen Rede am 24. Oktober im Sicherheitsrat getan hat, als er ausführte, die Angriffe der palästinensischen Terrororganisation seien „nicht im luftleeren Raum erfolgt”. Banalitäten sagen in ihrer scheinbaren Harmlosigkeit manchmal mehr aus, als pointierte politische Statements.
Der offene Brief deutschsprachiger Autoren setzt sich wohltuend von allen Relativierungsversuchen ab.
Das in seiner Ungeheuerlichkeit gewollte, geplante und vollzogene Massaker durch Gegenrechnungen zu kontextualisieren hat mit Linkssein nichts zu tun. Menschlichkeit gebietet es, das Leiden der von der Hamas missbrauchten Palästinensern nicht nur zu beklagen, sondern alles dafür zu tun, dass dieser Wahnsinn beendet wird. Ohne die Forderung nach einem sofortigen und bedingungslosen Ende der Geiselnahme klingt dieses politische Ziel jedoch hohl und schal.
In einem Atemzug das verbrecherische Mullah-Regime im Iran zu verurteilen und gleichzeitig die Hamas nicht als das zu bezeichnen, was sie ist, nämlich verbrecherisch, menschenverachtend und terroristisch, ist an Heuchelei kaum zu überbieten.
Linkssein heute bedeutet mehr denn je, nie eine Ideologie über die universelle Geltung der Menschenrechte zu stellen. Israel ist der einzige demokratische Staat im Nahen Osten, auch wenn Benjamin Netanjahu alles andere als ein lupenreiner Demokrat ist. Dass deutsche Linke oder solche, die sich so bezeichnen, ausgerechnet Israel zum Gegenstand ihrer teils wütenden Ablehnung machen, scheint mir mehr als ein Missverständnis zu sein. Antisemitismus mit Antikolonialismus und Antiimperialismus zu verbinden, wie es z. B. das Künstlerkollektiv Ruangrupa, das die letzte documenta kuratiert hat, getan hat, ist besonders perfide, weil die Shoah und der Überlegenheitswahn des Kolonialismus dieselbe Wurzel haben, nämlich den Rassismus.
Linkssein heute bedeutet mehr denn je, nicht zu vergessen, woher wir kommen und welche Verantwortung damit verbunden ist. Eklatant geschichtsvergessen zeigt sich in dieser kritischen Zeit der populäre Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), wenn er die Forderung erhebt Deutschland müsse „kriegstüchtig“ sein (siehe dazu Burkhard Ewert, Neue Osnabrücker Zeitung).
Linkssein bedeutet heute mehr denn je, das Grundgesetz, die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte, nicht nur zu schätzen, sondern auch zu schützen. Dafür besteht nicht nur wegen der Erfolge der AfD Anlass genug.
In einer Phase der Geschichte, in der es vor Zeitenwenden nur so wimmelt, ist die eigene Positionsbestimmung unabdingbar, um nicht die Orientierung zu verlieren. Dafür sind sorgfältig recherchierte Fakten wichtiger als in Talkshows und Internetplattformen verbreitete Meinungen mehr oder weniger kompetenter Experten. Auch wenn die ARD aktuell in einem „Glossar zur Berichterstattung im Nahostkonflikt“ Sprachregelungen an ihre Journalistinnen und Journalisten herausgibt, ist die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht wirklich bedroht. Es ist vielmehr die Informationsfreiheit in Gefahr, wenn Zeitungen sterben, Redaktionsteams und Korrespondentennetze ausgedünnt werden.
Lange Zeit galt das Narrativ, dass die soziale Ungleichheit dank der Erfolge des Kapitalismus abnehmen wird. Der sog. Trickle-Down-Effekt sorge dafür, dass in den unteren Schichten der Gesellschaft immer noch genug vom Überfluss der Reichen ankomme. Die Realität ist jedoch eine andere. Die Ungleichheit hat kontinuierlich zugenommen. Linkssein bedeutet, die Wahrheit zu benennen und sich nicht damit abzufinden, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Die Gerechtigkeitsfrage ist die Freiheitsfrage schlechthin (zum Nachlesen: Freiburger Thesen, S. 65). Gemessen daran sieht es mit der Freiheit auf dieser Welt nicht gut aus.
Es gibt also eine Menge Kriterien, an denen man das Linkssein festmachen kann, ohne sich auf Nebenschauplätzen zu verheddern. Darüber lohnt es sich immer wieder nachzudenken und zu diskutieren. Der Debattenkultur im Kleinen wie im Großen könnte es nicht schaden.
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