Beueler-Extradienst

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Wundersame (Auto)Bahn

Ich hätte nie gedacht, dass ich hier eine Bahngeschichte aufschreibe. Aber sie war so skurril, wie bezeichnend. Das Freundlichkeitsmanagement der Bediensteten ist jedenfalls inzwischen TOP. Chapeau! Wahrscheinlich hat ein Management-Controller ausgerechnet, dass diese Freundlichkeiten zwar kosten, aber unterm Strich billiger sind, als ein weiterer Imageverlust der DB.

Ich fahre ja, gegen den Rat meines Herausgebers, ungern Bahn. Aber weil ich einem guten Freund versprochen habe, seinen Oldtimer, der vor 15 Jahren mal mir gehörte, anzukaufen und zu restaurieren, fahre ich heute (29.10.2023)  ICE nach Berlin. Günstig mit Bahncard 25 1.Kl. und – schließlich bin ich über 65 – zum Rentnerpreis.

In Köln noch alles in Butter

Abfahrt 7.27 ab Köln da schwelgt die Schaffnerin noch in Pünktlichkeitsoptimismus. „Weil ich im vorderen Zug säße, wäre ich sicher ein paar Sekunden früher in Spandau, wo der Zug planmäßig um 11.58 einlaufen solle.“ Das war wohl als Trost gemeint, nicht als Einführung in Einsteins spezielle Relativitätstheorie. Aber aufheiternd. Denn beim Betreten des Zugteils in Köln konnte ich meinen Wagen 26 und den reservierten Platz 72 nicht finden. Wir – die richtige Besitzerin des Platzes 72 und ich – befanden uns nämlich in Wagen 36 – „und bleiben Sie ruhig hier, den anderen Zug hinten erreichen Sie über den Bahnsteig eh nicht mehr.“ So der nahestehende Schaffner auf Dienstreise zu seinem anderen Zug. Also einen schönen Einzeltisch am Fenster in Beschlag genommen und das Laptop ausgepackt. Hörspiel und dann doch was schreiben. Ein alter Krimi von Francis Durbridge könnte zum schönen Sonntag passen.

Alles scheint harmlos zu klappen

Düsseldorf, Duisburg, Essen, das kenn ich aus Landtagszeiten. Bis Dortmund alles pünktlich und OK. Auch der Krimi kommt nicht so richtig in die Gänge. Sir Graham von Scotland Yard wartet im Wohnzimmer auf Paul Temple, den Privatdetektiv und Kriminalautor. So richtig ist noch nichts passiert. Retardierende Szenen nennt man das im klassischen Drama.

Plötzlich vor Hamm Halt auf offner Strecke. „Wegen einer Betriebsstörung hinter Hamm wird unser Zug umgeleitet. Der planmäßige Halt in Bielefeld entfällt.”-…  (Was machen nur die, die dort hin wollten? Oder gibt es Bielefeld in Wirklichkeit doch nicht? Haben sich die Nicht-Existenzgerüchte endlich bewahrheitet?  …-„Sie erreichen als nächsten Halt Hannover gegen 11.57 Uhr, mit 90 minuten Verspätung.”

Es ist etwa 9.30. Wir stehen schon über zehn Minuten in Hamm. „Weil unser Lokführer noch weiteres Informationsmaterial über die Strecke bekommt, verzögert sich unsere Abfahrt, wir bitten um Verständnis.“ Alle Fahrgäste um mich herum sind nett, wir müssen schmunzeln.

Erste Deeskalationsmaßnahmen

Zwei freundliche Schaffnerinnen verteilen bereits Briefe mit Verspätungsbescheinigungen. “Das tröstende kostenlose Kaltgetränk müsse man sich bitte wegen Personalmangels selbst in der Cafeteria holen,” lächeln sie uns gutgelaunt an. Schließlich fahre ich 1. Klasse. Alle lächeln, einige Grinsen von verständnisvoll bis zu leichter Häme. Ich simse dem Mann meines Freundes, dass es wohl mit 13.00 Uhr treffen in Berlin nix wird. Zum Glück, simst er zurück,  hat er heute eh’ nix vor. Endlich, nach 15 min. fahren wir weiter – in die Gegenrichtung!
Felder, Dörfer, etwa Tempo 140, das hat die alte V 200 schon in den 50er Jahren geschafft. Aber die Strecke ist (noch) zweigleisig, das beruhigt. Wir kommen durch Soest. Aha. Ich schalte wieder „Paul Temple und der Fall Margo“ ein. Mrs. Temple ist verschwunden. Ihr Wagen stand am Flugplatz, wo sie ihren Mann abholen wollte. Sie ruft aus einer Telefonzelle an. In der “Houston Station” fahren hörbar noch Dampfloks ab. Ähnlich sieht es hier aus.

Die Nebenstrecken offenbaren den Zustand der DB

Die Landschaft flacht ab. Dörfer, Einfamilienhäuser hier ist nur Tempo 80 angesagt. Lauter Warsteiner-Container stehen auf dem Nebengleis, wir sind in Lippstadt. Hier hat sich McDreck eine kleine Turnhalle gekauft und nennt sie großspurig „Arena“. Der Mais ist braun und steht noch auf dem Feld – für eine Biogasanlage? „Wir können Ihnen noch keine neuen Informationen zu den Verspätungen geben“ seufzt der Zugführer in die Lautsprechanlage. Auch eine Information. Nach dem Stand der Sonne zu schließen, die sich nun zaghaft durch die Wolken schummelt, fahren wir wenigstens in südöstlicher Richung. Geseke. Es ist 10.10 Uhr Mhm. Nach der Größe des Fußballstadions wahrscheinlich Bezirksliga. 150 km/h dafür brauchte es schon eine blaue E 10 – 1963. Ein verklinkertes Dorf – Westfalen lässt grüßen. Überall Schwellen, überwuchterte Gleise, Zeichen des Abbaus von Schienenstrecken. Verwilderte, nicht mehr benutzte Gleisanschlüsse. Ökologisch-verkehrspolitische Desaster tragen einen Namen: Mehdorn.

Abbau ermüdet

Der Sitznachbar gegenüber döst mit Kopf auf dem Tisch. 10.20, wir stehen auf freier Strecke. Mrs Temple wurde entführt und tauchte wieder auf. Mit ihr ein Mantel, der ihr nicht gehört. „Margo“ sagt dessen Firmenschild. „Meine Damen und Herren, ver vor uns liegende Streckenabschnitt ist noch mit drei Zügen besetzt – ich informiere Sie dann über ihre Anschlussmöglichkeiten in Hannover.“
Mrs. Temple bekommt von Sir Graham erklärt, was ein Hehler ist. Wir rollen an. „rufen Sie mich an, wenn Sie etwas über den Mantel erfahren”, sagt Temple. Im Hörspiel Schreibmaschinengeklapper – ob meine Tochter (31) dieses Geräusch noch erkennt?

Tiefes Westfalen – Merzland

Paderborn. Dahinter steht ein Windrad still. Kein Wunder: Friedrich Merzland. Es wird hügeliger und die Windräder drehen sich – das könnte schon Niedersachsen sein. 115 km/h. In einer Linkskurve kann ich beide irre langen ICEs – 845 und 855  in voller Länge – sehen. Mrs. Calburns Tochter Julia soll ermordet werden. Scotland Yard hat eine junge Frau aus der Themse gefischt. Calburns Tochter Julia. In ihrem Mantel ist ein Schild, auf dem steht wieder „Margo“. Sie war mit dem Schlagersänger Wyman (nicht der Bassist der Stones, der kam erst 10 Jahre später) liiert. Altenbeken – die Gleise sind hier verrostet und ebenfalls weitgehend überwuchert. Etwa 1 Million Schüttgutwagen vor einer „RheinCargo“ E-Lok kommen uns entgegen. 50 km/h – der ICE ist hier ein Schienenexot. Wat für ein Tunnel!  Gefühlte 10 min. Sind wir im Montblanc? Es gibt Schokolade. DB Vollmilch, sogar fair gehandelt. Es ist Sonntach. 60 km/h – hier liegen jede Menge Schwellen rum – schon Beton, also aus den 70er Jahren, auch solche Strecken werden abgebaut. Paul Temple nennt seine Frau schon wieder „mein Kind“.

Wer will hier leben, geschweige tot über dem Zaun hängen?

Kopfweiden, Windräder, Spaziergänger*innen mit Hunden an der Bahn entlang. Steinheim, immer noch Westfalen. Im Bordrestaurant gibt es laut Karte eine „vegane Currywurst mit Fritten“. Das erschließt sich mir nicht. Gibt es auch veganes Eisbein mit Sauerkraut? Bei der DB nicht. Warum wollen die Leute anders essen, aber am liebsten das Gleiche? In Schieder war ich noch nie. 11.07 Lügde – da waren doch die Mißbrauchsfälle auf dem Campingplatz. Die Gegend ist trostlos, die Landschaft atmet – natürlich nur in meiner Phantasie – den Hauch von Provinz, die solche Taten möglich macht.

…auch hier wieder hunderte Schwellen, ein zerfallendes Güterbahnhofsgebäude. Keine Eisenbahnromantik – ohne die Werbung von Saftenberger. Ich denke: Am Mittelrhein fährt die Bahn schneller. Die Polizei hat noch keine Idee, wer der Täter war. Mrs. Temple probiert ein Kleid an und lässt es sich schicken. Die schnippische Verkäuferin kennt „Margo“ angeblich nicht.

Links sehe ich eine große, stillgelegte Fabrik – Niedergang NRW? Die modernen „SBH-Bahnen“ des Nahverkehr sehen grausam aus, sollten wirklich mal gewaschen werden. Für eine Train-Waschanlage haben sie wohl hier kein Geld. Die fahren wohl nicht profitabel. Auf demselben Gleis unglaublich viele Gastankwagen von VTG. Wir sind in Hameln. 11.26 Uhr – und wir beschleunigen wieder. 70 km/h.

Hilferufe aus einem Hof – Ted Angus wurde zusammengeschlagen. Temple soll nach dem Mantel fragen. Mrs. Temple geht in eine Telefonzelle, die Polizei anzurufen.

Niedersachsen ist groß und flach

Der Zug dreht jetzt in Richtung Norden. Hundert km/h!! – maximal durch Beningsen. Links jetzt das alte Hanomag-Gelände – Ruine aus den 50ern. Hannover lässt sich erahnen. Zehn vor zwölf – nach langer Zeit kommt mal wieder ein Zug entgegen auf der Nebenstrecke. Ein herbstlicher Wald in farbiger Pracht. Garbsen vielleicht? Bismarckstraße – immer diese autoritären Straßennamen. Ich würde diese antidemokratischen Gestalten gerne austauschen durch Demokrat*innen. Luise Otto z.B die erste deutsche Rechtsanwältin, Friedrich Hecker, den Freiheitskämpfer für demokratische Rechte während und nach der Revolution von 1848 oder andere Menschen, die für demokratische und weltoffene Traditionen der Weimarer und Bonner Republik stehen. Wieso eigentlich heissen nach 75 Jahren Grundgesetz immer noch Straßen und Plätze, Gebäude und Denkmäler in unserem Land überall nach Antidemokraten, Monarchisten, Kolonialisten und Despoten?

Denkmäler prägen Stimmungen und Bewusstsein

Weg mit Kaiser Wilhelm auf hohem Ross an der Kölner Dombrücke! Da gehören schon lange Adenauer und De Gaulle hin. Für deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft. Als klares Gegenbild der Erbfeindideologen, gegen „Reichsbürger“ Fliegenschiß-Geschichtsklitterer aktueller denn je. Damit jede Besucher*in von Köln sieht, dass sich etwas geändert hat seit 1876.

Der Kaiser gehört ins Museum für antidemokratische Kunst. Das Standbild aus Koblenz auch – da wären Kohl und Mitterand händchenhaltend  der eindeutig minder schwere Sündenfall. Das Land hat die Demokratie nicht wirklich verinnerlicht. Daran kann man es erkennen. Ja, das ist ein Kulturkampf. Um demokratische Kultur gegen autoritäre Symbole und Relikte. Aber ich schweife ab. Bei Paul Temple ist jetzt jemand entführt worden. Und auf den Schienen tut sich auch wieder etwas.

Endlich Hannover

Die Stimme des Zugführers klingt resigniert, er sagt, wir erreichen Hannover HBF. Er dankt für die Reise mit der DB und wünscht noch einen schönen Nachmittag – es schlägt 12.00 Uhr. Der Ausstieg hat sich geändert – auf die rechte Seite. Jetzt hat der Zug wieder gedreht, 200 km/h erreichen wir. Hoffentlich halten die Radreifen – es ist ein ICE 1. Alles geht gut – den Bahnhof Wolfsburg erreichen wir in wenigen Minuten. Warum heisst dieses Kaff eigentlich so? Adolf Hitlers selbstgewählter Spitzname war Wolf. Wolfsschanze. Wolfsburg. Wie entschärft man so etwas? Den Bahnhof könnte man auch „Haltepunkt VW-Werk“ nennen, so eng klebt er am Fabrikgelände des Autokonzerns. Wir haben VW-Stadt mit 92 Minuten Verspätung verlassen. Nächster Halt – meiner – ist Berlin-Spandau etwa 13.25. Nun dreht der ICE nochmal auf: 250 km/h, ein paar Minuten holt er damit noch rein, denn wir waren schon bei 97 min. Verspätung.  Und es gibt nochmal Schokolade. Paul Temple sucht ein Mädchen namens Fiona Scott – das muss jetzt warten, der Bahnhof naht und ich muss zusammenpacken. Später mehr.

Berlin, Berlin

Nachtrag 1.11.: Es ist 13.30 und wir rollen in Spandau ein. Vom Bahnhof sind es drei Minuten Fußweg bis zur U-Bahn Linie 7. Die würde ich normalerweise 40 min. bis zur Haltestelle Eisenacher Str. nutzen. Aber die BVG baut um. Am Fehrbelliner Platz ist Endstation, es geht noch im Shuttle eine Station weiter. Raus aus der U-Bahn, da stehen schon neben dem Aufzug zwei BVG-Betreuer. Ja, Schienenersatzverkehr ist da drüben, leider fährt der Bus gerade ab. Aber der nächste rollt schon an, ich steige sofort ein und bin nach fünf Minuten pünktlich am Ziel. Danke, BVG. Geht doch, DB!

Was bleibt?

Ich gebe zu, trotz schönem alten Auto war die Rückfahrt entspannt, aber anstrengend. Ich konnte nichts schreiben und sah wegen der ausgelaufenen Sommerzeit schon kurz nach 16.00 den Sonnenuntergang und danach nicht mehr viel. Ich gebe zu: Wer Bahn fährt, kann mehr erleben!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

3 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Altenbeken! Da war ich zuletzt, als meine Mutter noch lebte. Die FR widmete der dortigen Bahnhofsgaststätte eine ganze Seite3, sie verstarb vor 10 Jahren (die Gaststätte). https://taz.de/Abschied-in-Altenbeken/!5066908/
    Aber der (oder das?) Viadukt – da bist Du womöglich sogar drübergefahren https://www.vivat-viadukt.de/viadukt/index.php
    Du bist also durch Regionen gefahren, um die Dich viele beneiden, weil die Bahn da gar nicht mehr hin will. Eine Freundin dagegen ist kürzlich ICE-Sprinter von Bonn nach Berlin und wieder zurück gefahren, Fahrtzeit 4:20. Jeweils ca. 5 Minuten Verspätung. Aber darüber schreibt keine*r. Oder gestern Abend die Regionalbahn von Bonn nach Köln, die wg. Bauarbeiten nicht in Köln-West halten sollte, Und dann doch hielt. Und zwar ohne Verspätung, Überholung, Menschen im Gleis (Köln-Süd!) o. ähnl.. Schreibt auch keine*r was.

  2. Rolf Sachsse

    Kurze Besserwisserei: Das Schloss Wolfsburg rund 150m neben dem VW-Werk heißt seit 1302 so. Ist ein schöner Platz mit Künstler*innen-Ateliers, dem Institut Heidersberger und seit neuem einem Restaurant da drin – das kenne ich nicht…

    • Roland Appel

      Lieber Rolf, das wusste ich wiederum nicht. Allerdings weist Wikipedia die Gründung der Stadt durch den “Föhrer” Adolf Hitler und die “Gesellschaft zur Vorbereitung des Deutschen Volkswagens” 1937/38 aus. Die Baumaßnahmen nebst Zwangsarbeitereinsatz unterstanden Albert Speer und Robert Ley.

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