Auszug aus dem gleichnamigen Buch des Autors

5. Affekte, Moral und Kriegsschuld

Militärische Gewaltanwendung ist eine extreme Grenzüberschreitung. Es ist daher völlig normal und verständlich, dass sie heftigste Affekte hervorruft, darunter nicht nur Mitgefühl mit den Opfern, sondern auch gesteigerte Aggressionsbereitschaft, Kriegsbegeisterung, Hass und Rachegefühle. Das ist menschlich verständlich und gilt auch für Linke. Erinnert sei an den im zweiten Kapitel zitierten Sigmund Freud, dessen »ganze Libido« zu Beginn des Ersten Weltkriegs der k.u.k. Monarchie gehörte.

Aber emanzipatorische Friedenspolitik kann nicht auf Wut und Empörung gründen. Hass und Rache rufen wiederum Hass und Rache hervor und schaukeln sich so wechselseitig immer höher. Und Hass macht blind. Das geflügelte Wort aus Schillers Wallenstein »Der Krieg ernährt den Krieg« gilt gerade auch für seine emotionale Seite. Hinzu kommt, dass all diese negativen Emotionen von kriegstreiberischen Interessen und Profiteuren des Militarismus skrupellos instrumentalisiert werden – meist schon vor dem Krieg, wenn Feindbilder über Jahre hinweg aufgebaut werden und der Gegner entmenschlicht und dämonisiert wird.

Demgegenüber kommt es darauf an, dass ein nüchterner, rationaler, analytischer Umgang mit Krieg nicht von überschäumenden Affekten erstickt wird. Schon Antonio Gramsci hat sich mit dem Problem herumgeschlagen. Für ihn ist es generell Aufgabe linker Politik, vom »Fühlen zum Verstehen, zum Wissen« zu gelangen, um handlungsfähig zu werden. Unter den Bedingungen der Vernichtungskraft moderner Militärtechnik und der atomaren Bedrohung hat diese Maxime eine neue Qualität gewonnen. Krieg und Frieden sind eine zu ernste Sache, als dass sie Affekten überlassen werden dürften.

Die praktische Konsequenz für unser Thema besteht darin, bei einem so enorm affektgeladenen Thema wie Krieg sich selbst immer wieder zu fragen, was ist Gefühl und was ist Vernunft in meinen Argumenten. Andernfalls riskiert man, in einer Moralfalle zu landen, d.h. in der Rationalisierung von Affekten in Form moralischer Prinzipien. Selbst Jürgen Habermas, gewiss kein Russlandfreund, beklagt vor diesem Hintergrund »die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger« gegen Diplomatie und Verhandlungen auftreten (Süddeutsche Zeitung, 29.4. 2022, S. 12).

Moral und Doppelmoral


Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, Moral prinzipiell in Frage zu stellen. Als normative Orientierung, als Kompass für die Richtung, in die politische Praxis entwickelt wird, ist sie nicht nur legitim, sondern unabdingbar. Insofern ist Moral eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um die Welt zu verstehen und zu gestalten. In unserem Kontext ist z.B. das Friedensgebot der UN-Charta eine solche Norm, sowie die Verpflichtung, wenn es zum Krieg gekommen ist, diesen so schnell wie möglich durch »friedliche Beilegung des Konfliktes zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel« zu beenden, wie es in der Resolution der UNO-Vollversammlung vom März 2022 heißt, in der 143 Mitgliedsstaaten den russischen Einmarsch verurteilen.

Demgegenüber hat der ukrainische Präsident per Dekret ausdrücklich Verhandlungen mit Moskau verboten, und sein Außenminister hat im August 2023 bekräftigt »alles [zu] tun, um diese Stimmen zum Schweigen zu bringen«. Moralisch begründet wird das mit »der Angreifer darf nicht belohnt werden«. Demnach würden sich alle, die für Verhandlungen plädieren, »bestenfalls lächerlich« machen und »im schlimmsten Fall helfen sie der falschen Seite.« Oder sie frönen einer »linksreaktionäre[n] ›Friedensliebe‹ die letztlich in der Kapitulation vor der russischen Expansionspolitik mündet«, so Klaus Lederer von der Berliner Linkspartei (taz 23.6.2022).

Demgegenüber argumentieren die Befürworter eines Verhandlungsfriedens ihrerseits moralisch, wenn sie auf die Opfer eines fortgesetzten Krieges verweisen. Offenbar haben wir es hier mit einer Kollision verschiedener moralischer Prinzipien zu tun. Solche Widersprüche tauchen in entsprechenden Diskussionen sehr häufig auf, und die Morallehre, die Ethik, kennt unzählige Beispiele dafür. Es gibt nicht die eine und einzige Moral. In den meisten Konflikten stehen Zielkonflikte zwischen unterschiedlichen moralischen Werten, wobei dann aber die eine Seite der anderen gern Unmoral unterstellt.

Der letztlich entscheidende Grund für das Auftreten moralischer Dilemmata liegt in der Struktur moralischen Denkens, das mit zwei grundlegenden Parametern arbeitet: gut und böse, wir und die anderen, richtig und falsch, schwarz und weiß.

So primitiv das klingt, einflussreiche Politiker scheuen sich nicht, so zu reden, etwa wenn ein britischer Außenminister ankündigt, »dass das Vereinigte Königreich eine noch stärkere Kraft für das Gute in der Welt wird«.

Moral hat für ihre User aber durchaus Vorteile, denn sie vereinfacht die Dinge sehr. Moral analysiert nicht, sondern urteilt und verurteilt. Verwickelte Probleme, deren Verständnis und Lösung eine gewisse intellektuelle Anstrengung und Differenzierungsvermögen erfordern, erscheinen dann plötzlich ganz einfach. Eine Analyse der strukturellen und historischen Zusammenhänge, aus denen heraus der Krieg entstand – eigentlich eine Selbstverständlichkeit für gesellschaftskritisches Denken – ist dann überflüssig.

Moral hat einen weiteren Vorteil: Sie gibt ihren Vertretern Urteilssicherheit vor schwierigen Fragen und verleiht zugleich ein Gefühl der Überlegenheit – die sprichwörtliche moralische Überlegenheit. Wer sich auf Moral beruft, hat das angenehme Gefühl der Unangreifbarkeit, und wer dieser Moral nicht folgt, wird abgewertet als »moralischer Lump« oder auch – was noch schwerer wiegt – als »Antisemit«.

Der Tod der anderen

Moral hat aber auch einen großen Nachteil: Sie ist unteilbar. Wer selber immer mal wieder andere Länder überfällt, wird moralisch unglaubwürdig, wenn er das Böse nur bei den anderen sieht. Aus Moral wird dann Doppelmoral. Das gilt auch für die Ukraine, die 2003 mit 1.600 Soldaten das sechstgrößte Truppenkontingent (von 36) in George W. Bushs Koalition der Willigen im Irak-Krieg stellte. Im Sound der moralischen Beurteilung des aktuellen Krieges könnte man das »einen verbrecherischen menschenverachtenden Überfall« nennen.

Allerdings trifft der Vorwurf der Doppelmoral in der Regel nicht jene Linken, die sich heute für Waffenlieferungen und einen ukrainischen Siegfrieden aussprechen. Die meisten von ihnen lehnten die Kriege des Westens in Jugoslawien, im Irak, in Libyen und anderswo ab. Dennoch stellten sich auch für sie moralische Probleme:

Ist es moralisch vertretbar, auf unkalkulierbare Zeit eine unkalkulierbare Zahl von Menschen in den Tod zu schicken, um die offiziellen Kriegsziele Kiews oder auch nur eine günstige Verhandlungsposition zu erreichen, die zudem von Tag zu Tag unwahrscheinlicher wird? Ist es moralisch legitim, den Tod der anderen, von dem Anführer, Könige, Herrschende schon immer meinten, dass sie das Recht hätten, ihn einfordern zu können, für moralisch zu halten?

Der Absolutheitsanspruch von Moral ist ein Hindernis für Kompromiss und Diplomatie. Werte sind der Moral unantastbar. Sie empfindet es als Kapitulantentum von Maximalzielen abzurücken, Zugeständnisse zu machen und Kompromisse zu suchen – alles Tugenden, für die die Demokratie zu Recht gerühmt wird. Moral wird dann zur Kampfmoral an der Front oder der Moral an der Heimatfront, für deren Aufrechterhaltung jedes Mittel recht ist.

Kriegsschuld und Kriegsursachen

In der Diskussion um den Ukraine-Krieg ist sowohl im Narrativ des herrschenden Blocks wie auch beim linken Bellizismus Dreh- und Angelpunkt die Frage, wer den ersten Schuss abgegeben hat. Da unbestreitbar feststeht, dass Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, erscheint das als unschlagbares Argument und Legitimationsgrundlage für die einzige Variante, den Krieg zu beenden: der militärische Sieg Kiews. Die Schuld am Krieg wird exklusiv Russland zugewiesen. Das erscheint gerade in Deutschland vielen plausibel, da hier das Verständnis von Krieg stark vom Zweiten Weltkrieg geprägt ist, der zu den eher seltenen Fällen gehört, in der die Kriegsschuldfrage eindeutig beantwortet werden kann.

Allerdings ist schon beim Ersten Weltkrieg die Kriegsschuldfrage kompliziert. Die linken Analysen jener Zeit sprechen weniger von Kriegsschuld als vielmehr von Kriegsursachen. »Auf seinen objektiven historischen Sinn reduziert, ist der heutige Weltkrieg als Ganzes ein Konkurrenzkampf des bereits zur vollen Blüte entfalteten Kapitalismus um die Weltherrschaft, um die Ausbeutung der letzten Reste der nichtkapitalistischen Weltzonen«, schrieb Rosa Luxemburg 1916.

Es geht also um den Umbruch des imperialistischen Weltsystems durch den Aufstieg des Wilhelminischen Deutschlands nach 1871 und die daraus resultierenden Rivalitäten und Konflikte zwischen den Großmächten, die den strukturellen Rahmen des Krieges bilden. Auch hier gilt natürlich, dass die Entstehung von Kriegen kein Automatismus ist. Die handelnden Akteure haben zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Das gilt damals so wie heute. Insofern muss ein strukturalistischer Blick auf Krieg und Kriegsursachen immer verbunden werden mit der konkreten Analyse der konkreten Situation.

Georgienkrieg und die Relativierung der Kriegsschuld

Der Unterschied zwischen Kriegsschuld und Kriegsursachen wird auch an einem jüngeren Beispiel deutlich, dem Krieg zwischen Russland und Georgien 2008. Nachdem beim Bukarester NATO-Gipfel im April 2008 die Aufnahme der Ukraine und Georgiens beschlossen worden war – wenn auch ohne konkretes Datum –, fühlte sich der damalige georgische Präsident Saakaschwili ermutigt, die Provinz Süd-Ossetien mit militärischer Gewalt zurückzuerobern.

Süd-Ossetien ist wie Taiwan, der Kosovo oder der Donbass ein Territorium, das sich von dem Land, zu dem es völkerrechtlich gehört, zu trennen versucht. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion hatten seine Bewohner für sich das gleiche Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch genommen wie 1992 die Ukraine und all die anderen postsowjetischen Staaten. Der Konflikt wurde damals zunächst einvernehmlich eingefroren.

Als der Krieg 2008 begann, war Dmitrij Medwedjew russischer Präsident. Putin war Premierminister und befand sich bei Kriegsausbruch bei den Olympischen Spielen in Peking. Der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy reiste als Vermittler – Paris hatte zufällig die EU-Ratspräsidentschaft – nach Moskau und erreichte einen Waffenstillstand und den Rückzug der russischen Truppen, die bereits weit auf die georgische Hauptstadt Tiflis vorgestoßen waren. Selbst wenn die EU dabei vor allem das Interesse hatte, Georgien vor einer totalen Niederlage zu bewahren, so zeigt der Fall, dass man mit Moskau durchaus verhandeln kann.

Interessanterweise hat die EU eine Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Krieges eingesetzt. In ihrem Report stellt die Kommission fest, dass der Angreifer Georgien war: »In der Nacht vom 7. zum 8. August traf ein lang anhaltender Artillerieangriff die Stadt Tskhinvali. Auch fanden Vorstöße der georgischen Streitkräfte gegen Tskhinvali statt« (S. 10). Am interessantesten aber ist die Analyse der Kriegsursachen: »Der Beschuss von Tskhinvali durch die georgischen Streitkräfte in der Nacht vom 7. zum 8. August 2008 markierte den Beginn eines bewaffneten Konflikts großen Ausmaßes in Georgien, dennoch war er nur der Höhepunkt einer langen Periode wachsender Spannungen, Provokationen und Zwischenfälle. Tatsächlich hat der Konflikt tiefe Wurzeln in der Geschichte der Region, in den nationalen Traditionen der Bevölkerungen und deren Bestrebungen als auch in sehr alten wechselseitigen Wahrnehmungen oder besser Fehlwahrnehmungen, die niemals bearbeitet und manchmal instrumentalisiert wurden.« (S. 10)

Der georgische Angriff wird also eingebettet in historische und strukturelle Zusammenhänge, er wird kontextualisiert. Das Ganze bleibt frei von moralischen Werturteilen. Wertende Begriffe wie Aggressor kommen nicht vor. Der Report vermeidet demonstrativ affektgeladene Formulierungen.
Unabhängig davon, ob jede Einzelheit der Analyse triftig ist, das methodische Herangehen versucht die Anatomie des Konflikts zu verstehen – man könnte die Autoren daher auch als Saakaschwili-Versteher bezeichnen. Nach gleicher Logik könnte man sagen: Der Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine am 24.2.2022 markierte den Beginn eines bewaffneten Konflikts großen Ausmaßes in der Ukraine, dennoch war er nur der Höhepunkt einer langen Periode wachsender Spannungen, Provokationen und Zwischenfälle. Tatsächlich hat der Konflikt tiefe Wurzeln in der Geschichte der Region, in den nationalen Traditionen der Bevölkerungen und deren Bestrebungen als auch in sehr alten wechselseitigen Wahrnehmungen oder besser Fehlwahrnehmungen, die niemals bearbeitet und manchmal instrumentalisiert wurden.

Aber ist das nicht eine Relativierung des georgischen Angriffs? Ja, das ist es. Aber nur wer glaubt, die Realität dieses und anderer Kriege in Kategorien von Absolutheit erfassen zu können, wird das als Problem empfinden. Das Absolute ist das Terrain von Religion, Affekt, Moral, Ideologie und Propaganda. Mit der Schrumpfung der Schuldfrage im Ukraine-Krieg auf den 24. Februar 2022 wird jeder historische und strukturelle Zusammenhang des Krieges gekappt. Der russische Einmarsch wird zum singulären One-Off-Event, von dem monokausal der weitere Gang der Geschichte abgeleitet wird. So als ob es nicht zu jedem Zeitpunkt Alternativen zur Fortsetzung des Krieges gegeben hätte.

Das Kohlhaas-Syndrom – Gerechtigkeit, auch wenn die Welt untergeht

Das herrschende Narrativ des Westens und seine linken Anhänger denken den Ukraine-Krieg in seinem historischen Verlauf also von einem Punkt Null aus, dem 24. Februar 2022. Was davor geschah, wird als »Vorgeschichte« abgetan, und was danach folgte, ist eine monokausale Kette, zu der es keine Alternative gab. Tatsächlich hat ein Gestaltwandel des Krieges stattgefunden: Er ist über den bilateralen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hinaus zu einem Stellvertreter- und Weltordnungskrieg zwischen dem Westen und Russland geworden. Das modifiziert auch die moralischen und völkerrechtlichen Koordinaten – die politischen erst recht.

Man kann die Begründung für die Fortsetzung des Krieges daher nicht mehr auf den russischen Einmarsch reduzieren und ihn als einzige Ursache verabsolutieren. Fiat iustitia et pereat mundus, so die passende Maxime für eine solche Haltung: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und wenn die Welt darüber zugrunde geht.

In sehr eindringlicher Weise hat Heinrich von Kleist in seiner Novelle Michael Kohlhaas die Anatomie des Problems dargestellt. Dem Pferdehändler Kohlhaas werden von einem arroganten Junker willkürlich zwei Pferde weggenommen. Seine gerichtliche Klage wird erst lange verschleppt und dann abgewiesen. Weitere Versuche, zu seinem Recht zu kommen, scheitern. Er entwickelt sich dadurch zu einem regelrechten Fanatiker, ruiniert seine Familie und beginnt mit einer Bande einen Rachefeldzug mit Mord und Brandschatzung. Die Novelle endet damit, dass er schließlich doch noch seine zwei Pferde zurückbekommt, gleichzeitig aber für seine Mordbrennerei zum Tode verurteilt wird.

Die Botschaft ist klar: Die anfangs legitime Verfolgung eines moralisch und juristisch legitimen Anspruchs kann in Unmoral und Unrecht umkippen. Für den Ukraine-Krieg heißt das, der gute Zweck, dem Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen, heiligt keineswegs alle Mittel. Der Preis für die Erreichung des Ziels muss moralisch und rechtlich vertretbar sein. Das ist eine ähnliche Logik wie beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im modernen Rechtsstaat.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus Peter Wahl: Der Krieg und die Linken – Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden – Eine Flugschrift – 100 Seiten | 2023 | EUR 10.00 – ISBN 978-3-96488-203-5

Über Peter Wahl:

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