Es könnte alles ganz anders sein – Plädoyer für einen kritisch-konstruktiven Journalismus

Neulich verlor ich auf dem Weg zur Arbeit die Verbindung zur Welt. Es war in der U-Bahn, ich scrollte wie jeden Morgen durch die Tagesschau-App. Krieg in Gaza, heftige Gefechte in der Ukraine, Wohlfahrtsverbände in Deutschland warnen vor Kollaps, die Klimakrise. Es war, gemessen an der Nachrichtenlage dieser Zeit, noch nicht einmal ein besonders schrecklicher Tag. Und doch war etwas anders. Mich überkam ein Gefühl der Leere, das ich bislang selten gespürt habe. Seit Jahren lese ich aufmerksam Nachrichten. Als Journalist nutze ich Medien für meine eigenen Recherchen, ich interessiere mich aber auch darüber hinaus fürs Weltgeschehen – und dafür, wie meine Kolleg:innen dieses Geschehen in Worte fassen. An diesem Morgen in der U-Bahn war all das weg. In mir fühlte sich etwas dumpf an, als wäre ich gerade gegen eine Wand gelaufen. Ich schloss die App und dachte: Ich kann nicht mehr. Mein neugieriger Blick auf die Welt, er war weg.

Am Schreibtisch angekommen begann ich zu recherchieren. Erstes Ergebnis: Ich war nicht alleine. Immer mehr Menschen in Deutschland meiden Nachrichten. Das belegen Zahlen des Reuters Institute an der Universität Oxford, das jedes Jahr Internetnutzer:innen auf der ganzen Welt nach ihrem Nachrichtenkonsum befragt. Das Interesse an Nachrichten ist in Deutschland massiv gesunken. Vor zehn Jahren gaben noch 80 Prozent der Befragten an, großes Interesse an Nachrichten zu haben. In diesem Jahr lag diese Zahl nur noch bei 52 Prozent. Zwei Drittel aller Befragten sagten, dass sie Nachrichten mindestens gelegentlich meiden.

Im Jahr zuvor veröffentlichte das Reuters Institute Zahlen zu den Gründen. Mehr als ein Drittel der Befragten sagten, dass Nachrichten ihnen zu sehr aufs Gemüt schlugen. 16 Prozent der Befragten fühlten sich hilflos. Denke ich an das Gefühl in der U-Bahn zurück, würde ich mich zur Gruppe der Hilflosen zählen. Der Strom an Nachrichten hatte mich überwältigt. Die multiplen Krisen dieser Welt, zusammengepfercht in ein paar knappe VideoSequenzen, knallige Fotos und ein bisschen Text – das war zu viel für meinen Kopf. Während ich so nachdachte, mischte sich in diese Leere aber noch ein zweites Unbehagen. Als Journalist konsumiere ich Nachrichten nicht nur, ich produziere sie ja häufig selbst.

War ich also mitschuldig?

Ich las mich durch die Titel meiner letzten Veröffentlichungen: Morddrohungen gegen Gewerkschafter, giftige Pestizide auf Bananenplantagen, Gewalt in der 24-Stunden-Betreuung, Ausbeutung auf dem Spargelfeld. Es ging um Missstände, um Ungleichheit und um Systeme, die versagten. Zweifelsohne waren das wichtige Themen. Aber am Ende jeder meiner Recherchen stand: eine schlechte Nachricht. Wie diejenigen, die ich nicht mehr lesen wollte. War ich also mitschuldig? Ich startete eine Umfrage unter Kolleg:innen – auf persönlichen Kontakten beruhend und natürlich gänzlich unrepräsentativ. Sie alle kannten mein Gefühl der Erschöpfung. „Wenn ich selbst an schweren Themen arbeite, lese ich kaum andere Nachrichten“, sagte eine Kollegin. „Mit meinen Freunden rede ich bewusst über andere Themen.“ Ich konnte das nachvollziehen. Ich führe viele Gespräche mit Menschen, denen Unrecht widerfahren ist. Oft sind ihre Lebenslagen so prekär, dass es im ersten Moment wenig Hoffnung auf Besserung gibt. Natürlich ist es sehr viel einfacher, als Journalist eine scheinbar ausweglose Situation zu bezeugen, als direkt von ihr betroffen zu sein.

Aber ich merke auch, wie die vielen Geschichten in mir arbeiten. Viele meiner Kolleg:innen sprachen von Ausgleich, im Anschluss an schwierige Gespräche, aber auch ganz allgemein. Eine nannte es die Hinwendung zu den „schönen Dingen“. Ich hörte von einem guten Buch am Abend, einem Nachmittag mit dem Kind auf dem Spielplatz, von Schwimmen, Handball und Thaiboxen. Von Sinfoniekonzerten und illegalen Techno-Raves, von Podcasts über Tocotronic und einem Garten in der Uckermark. All diese Dinge, dachte ich, sind nicht nur schön. Sie sind wichtig. Die Kollegin, die seit 20 Jahren immer wieder in ebenjenem Garten in der Uckermark steht, fügte hinzu: „Das Leben ist schön, das darfst du nicht vergessen.“ Ein anderer Kollege versuchte es mit der Schriftstellerin Toni Morrison. Er glaubte jedenfalls, dass sie Folgendes so oder so ähnlich gesagt hatte: Und gibt es noch so viel Leid in der Welt, ich weigere mich abzustumpfen. Zynismus, sagte er, sei der Anfang vom Ende.

Nach den Gesprächen beginnt die Arbeit erst

Ich stimme zu. Wie aber kommt die Neugier zurück? Wie lässt man sich von der Welt berühren, ohne dass sie einen umhaut? Auf meinem Handy stellte ich einen Timer für meine Nachrichten-Apps. 15 Minuten am Tag, dann schloss die App automatisch. Es wurde tatsächlich besser. Ich versank nicht mehr in der Nachrichtenflut, stattdessen fing ich an, mit meinen Bekannten einzelne Nachrichten zu diskutieren. Ich wertete, ich unterschlug sicherlich einige Aspekte, weil ich nicht mehr so viel las. Ich ließ ganze Themen komplett beiseite. Aber ich zog Verbindungen zwischen den Schlagzeilen. Im gemeinsamen Gespräch, im Abwägen, Vergleichen und Spekulieren, im Fragen nach dem Warum und Wie entstand Bedeutung. Und ich gewann die Kontrolle zurück. Mit jedem Gespräch wurde auch das Misstrauen gegenüber mir und meinen Kolleg:innen etwas kleiner. Denn der Journalismus, den ich für bedeutend halte, macht etwas ganz Ähnliches: Er ordnet ein, er erklärt, er erzeugt Sinn. Und ist deshalb sinnvoll. Ich hörte einmal von einem Kollegen, wie er im Investigativjournalismus gelandet war. Er sollte eine Porträt-Geschichte über einen Geflüchteten schreiben, der besonders viel Gewalt erfahren hatte. Nach den langen Interviews musste er nachts weinen. Er schrieb einen miserablen Text, der der Geschichte nicht angemessen war. Er fand keine Distanz zu dem Leid, auch weil es nirgendwo hinführte.

Seitdem, sagte er, beginnt nach den Gesprächen erst seine Arbeit. Er sucht die Verantwortlichen, wühlt sich monatelang durch Register und Datensätze, schreibt Anfragen, liest Studien oder besorgt Dokumente. Indem er handelt, überwindet er das Gefühl der Hilflosigkeit. Gründe für das Leid aufdecken und Verantwortliche benennen – das ist ein wichtiger Schritt heraus aus der Ausweglosigkeit. Denn darin schwingt ein zentraler Gedanke mit: Menschen haben die Situation so gemacht, wie sie ist. Sie könnte ganz anders sein. In diesem Sinne, glaube ich, steckt im Investigativjournalismus Hoffnung. Aber reicht das?

Ich glaube nicht. Denn es geht auch darum, wohin Journalist:innen für ihre Geschichten blicken. Ich gebe zu, als Investigativjournalist ziehen mich Missstände und Probleme an. In Wahrheit ist es aber oft komplizierter. Neben dem vielen Schlechten passiert, parallel und oft gleichzeitig, immer auch Gutes. Weil Menschen dafür kämpfen. Millionen von Menschen erhalten in Deutschland immer noch keinen Mindestlohn. Aber vor zehn Jahren gab es ihn noch gar nicht, und inzwischen ist er stark gestiegen. Große Unternehmen profitieren seit Langem von der Ausbeutung in ihren Lieferketten. Doch Gesetze machen sie nun rechtlich verantwortlich und womöglich bald haftbar. Initiativen organisieren Demos oder Nachbarschaftshilfe, kaufen Menschen aus Gefängnissen frei, besetzen Kohlebagger oder retten mit eigenen Schiffen Menschen auf dem Mittelmeer. Ist es voreingenommen, einseitig, unjournalistisch, über sie zu berichten? Ich glaube nicht. Über Menschen zu berichten, die Gesetze ändern wollen, Initiativen gründen, anders wirtschaften oder Strukturen der Solidarität aufbauen, heißt nicht, sie blindlings zu bewerben. Ich verstehe ihre Geschichten als Angebote der Inspiration an das Publikum. Sie machen ganz unmittelbar Hoffnung, weil sie Lösungen aufzeigen. Mit ihnen stellt sich ganz automatisch die Frage: Was kann ich, was können wir tun, angesichts des Leids?

Wie man selbst aktiv werden kann

Das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv versuchte jüngst etwas anderes. Neben einer Recherche, wie das Kita-System in Deutschland versagt, fanden sich Informationen darüber, wie man Abgeordnete anschreiben kann, welche Gewerkschaften, NGOs und andere Akteure bereits aktiv sind oder wie man eine Petition im Stadtrat einreichen kann. Auf einer Karte konnten alle Aktionen eingetragen werden. Correctiv berichtete nicht darüber, was andere tun. Sondern wie man selbst aktiv werden kann. Sie zeigten einen Weg auf, mit dem Missstand umzugehen. Die angestaute Empörung in Handeln zu verwandeln.

Ich träume von mehr kritisch-konstruktivem Journalismus. Ein Journalismus, der mit akribischer Recherche Missstände aufdeckt und gleichzeitig zum Handeln inspiriert. Ich glaube, dass uns das gegen die Hilflosigkeit hilft – und sich dann vielleicht wieder mehr Menschen über Medien mit der Welt verbinden. Die Zahlen geben das her. Laut dem Reuters Institute sind 58 Prozent der Internetnutzer:innen in Deutschland „äußerst“ oder „sehr“ an positiven Nachrichten interessiert. Fast ebenso viele interessieren sich für Nachrichten, die Lösungen vorschlagen, anstatt nur auf Probleme hinzuweisen. Neulich sollte ich einen Vortrag über die schwierige Situation von Erntehelfer:innen auf europäischen Feldern halten. Ich verbrachte viel Zeit damit, Belege für die prekären Verhältnisse zu sammeln, ich recherchierte zur Verantwortung der wenigen mächtigen Supermärkte, ich formulierte eine These: Unser Ernährungssystem ist kaputt. Dann hielt ich inne. Der zweite Teil meines Vortrags drehte sich um Direktvermarkter, um die solidarische Landwirtschaft, kooperative Supermärkte und die Möglichkeit eines starken EU-Lieferkettengesetzes, das Unternehmen zur Verantwortung zieht. Auf die Titelfolie schrieb ich, voller Hoffnung und zugleich hoffnungslos vermessen: Das Ende der Ausbeutung.

Unter dem Titel „Es könnte alles ganz anders sein“ erschien der Artikel unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0 zuerst in den WZB|Mitteilungen Heft 182 Dezember 2023. Hier übernommen von bruchstuecke.info.

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