Der Notting Hill Carnival zwischen Kontrolle, Akzeptanz und Kommerzialisierung

Wer im Sommer einen Trip nach London beabsichtigt und sich dafür einen Reiseführer zulegt, wird als Toptipp auf den Notting Hill Carnival stoßen. Mit jährlich über zwei Millionen Besucher*innen ist der afrokaribische Karneval am letzten Augustwochenende eines der größten Open-Air-Events in Europa. Was heute ein touristisches Highlight und kommerzielles Großereignis ist, war in den 1960er-Jahren vor allem ein Manifest afrokaribischer Kultur in der Diaspora und kreativer Protest gegen Rassismus.

Die Geschichte des Karnevals ist immer auch eine Geschichte von dessen Domestizierung – in Brasilien ebenso wie in Cuba, Haiti oder im Rheinland. Dass Menschen sich verkleiden, Konventionen kurzzeitig außer Kraft gesetzt sind und Geschlechter- oder Machtverhältnisse spielerisch umgekehrt werden, hat weltliche und geistliche Autoritäten beunruhigt und nach Verboten oder strenger Reglementierung rufen lassen. Diejenigen, die Karneval feiern wollten, versuchten ihre Freiräume zu verteidigen, auch indem sie den Mächtigen versicherten, dass sie keineswegs gegen die Ordnung rebellieren wollten. Dafür nahmen sie in Kauf, dass „seriöse“, also den Eliten genehme, Personen Organisation und Kontrolle der Feste übernahmen und wildes Treiben auf den Straßen in „geordnete“ Umzüge kanalisiert wurde. Das machte den Karneval für die Mächtigen akzeptabel. Nicht nur das: Sie nutz(t)en ihn auch zur Selbstdarstellung und Werbung. Dennoch wird der Karneval streng überwacht. Überall, wo sich kostümiert und in den Straßen gefeiert wird, sind große Polizeiaufgebote nicht weit.

Das heute übliche Zusammenspiel von Karnevalist*innen, Eliten, Unternehmen, Tourismussektor und Polizei hat sich in den Karnevalszentren Südamerikas, der Karibik und des Rheinlands über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren etabliert. Das anglikanisch geprägte Großbritannien kannte bis Ende der 1950er-Jahre keinen Karneval. Anders sah es in den Kolonialterritorien der Ostkaribik aus, vor allem der heutigen Republik Trinidad & Tobago. Da die ostkaribischen Inseln, anders als etwa Jamaika, zunächst spanisch und/oder französisch besetzt waren und erst relativ spät unter britische Kontrolle kamen, ist der dortige afroamerikanische Bevölkerungsanteil überwiegend katholisch. Beim Blick auf die Hotspots des Karnevals in Südamerika (Brasilien, Uruguay, Bolivien, Peru, Nordargentinien) und der Karibik (Santiago de Cuba, Haiti, Trinidad & Tobago) fällt auf, dass Karneval vor allem dort bedeutsam ist, wo afrikanische oder indigene Festtraditionen mit katholischen Feiertagen zusammenfallen.

Migration aus der Karibik

In den frühen 1950er-Jahren migrierten viele junge Männer aus der Karibik nach Großbritannien, wo damals Arbeitskräftemangel herrschte. Die in Jamaika, Guyana und der Ostkaribik Angeworbenen, von denen viele während des Zweiten Weltkriegs in der britischen Armee gedient hatten, dachten, sie kämen als gleichberechtigte Bürger ins „Mutterland“ und würden dort freundlich aufgenommen. Dies war mitnichten der Fall. Stattdessen sahen sie sich mit rassistischer Ausgrenzung konfrontiert, bekamen auch bei guter Qualifikation nur schlecht bezahlte Hilfsarbeiterjobs und mussten in armseligen, überteuerten Unterkünften leben (das Leben der ersten Einwanderergeneration hat der britisch-trinidadische Autor Samuel Selvon in seinem grandiosen Roman „Die Taugenichtse“ beschrieben.

Im August 1958 gab es mehrere Angriffe weißer Rassisten auf Menschen aus Afrika und der Karibik. Eine weiße Britin wurde zur Zielscheibe, nur weil sie mit einem Jamaikaner verheiratet war. Als Rassisten am 2. September in Notting Hill im Norden Londons erneut aufmarschierten, wurden sie von über 300 afrokaribischen Bewohnern zurückgeschlagen und verjagt. Rassistische Übergriffe gab es zur selben Zeit auch in Nottingham. Einen Höhepunkt erreichte die Gewalt am 16. Mai 1959, als weiße Jugendliche den von der Insel Antigua stammenden Kelso Cochrane in London ermordeten.

Carnival im Saal

In der afrokaribischen Community begannen nach den rassistischen Angriffen im Sommer 1958 Überlegungen, der Diskriminierung und Gewalt neben direkter Gegenwehr auch symbolisch zu begegnen. Dies wurde etwa in der „West Indian Gazette“ diskutiert. Deren Herausgeberin Claudia Jones war eine der wichtigsten afrokaribischen Persönlichkeiten in London. 1915 in Trinidad geboren, war sie als Kind 1924 nach New York gekommen, wohin ihre Eltern migriert waren. Im Jahr 1945 schloss sie sich der Kommunistischen Partei der USA an und war von 1947 bis 1952 Generalsekretärin von deren „National Women’s Commission“. Im Jahr 1955 wurde sie als britische Staatsbürgerin im Zuge der Kommunistenverfolgungen aus den USA nach Großbritannien abgeschoben. Bereits in New York hatte sie als Journalistin gegen rassistische Diskriminierung gekämpft. Dieses Engagement setzte sie in London fort. Im Januar 1959 organisierten sie und andere Mitarbeiter*innen der „West Indian Gazette“ den ersten karibischen Carnival in der St. Pancras Town Hall in London, ausdrücklich, um den „Geschmack von Notting Hill und Nottingham aus dem Mund zu waschen“. Der rassistischen Gewalt sollten ein buntes fröhliches Fest und karibische Lebensfreude entgegensetzt werden.

Der Carnival fand bis zu Claudia Jones Tod im Dezember 1964 jedes Jahr statt. Obwohl er eine reine Saalveranstaltung war und jeweils Anfang des Jahres gefeiert wurde, gilt er heute als Beginn des Notting Hill Carnivals.

Der Carnival kommt auf die Straße

In seiner Dissertation zum Notting Hill Carnival beschreibt Sebastian Klöß die von Claudia Jones organisierten Veranstaltungen als einen Vorläufer des heutigen Carnivals. Ebenso wichtig seien die ab Mitte der 1960er-Jahre entstandenen sozialen Projekte in Notting Hill gewesen. Das heute gentrifiziert-mittelständische Viertel galt damals als vernachlässigter Stadtteil mit einem hohen Anteil afrokaribischer Bevölkerung. Auf Initiative von Nachbarschaften und teilweise auch Sozialarbeiter*innen wurden verschiedene Treffpunkte geschaffen, vor allem für Kinder und Jugendliche. Dazu gehörten Abenteuerspielplätze und „freie Schulen“, wo nachmittags Hausaufgabenbetreuung, kreative Kurse und Vorträge zu Themen angeboten wurden, die in den Pflichtschulen nicht vorkamen.

Die in diesen Zusammenhängen tätige weiße US-amerikanische Sozialarbeiterin Rhauné Laslett rief im September 1966 erstmals ein als Carnival bezeichnetes multikulturelles Straßenfest und einen Umzug in Notting Hill ins Leben, der – vor fast 60 Jahren! – von einer als Elisabeth II. kostümierten Drag Queen angeführt wurde. An dem Zug nahmen unterschiedliche migrantische Gruppen teil, darunter eine Steelband, die bereits 1959 auf der Veranstaltung von Claudia Jones gespielt hatte. Kostümgruppen, die heute ganz wesentlich für den Notting Hill Carnival sind, gab es noch nicht. Verkleidet und geschminkt waren vor allem Kinder. Die von Rhauné Laslett organisierten Carnivals fanden bis 1969 mit wachsender Beteiligung statt.

Übernahme karibischer Traditionen

Eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung des Notting Hill Carnivals spielte das Restaurant Mangrove, seit Ende der 1960er-Jahre ein beliebter afrokaribischer Treffpunkt im Norden Londons. Dort gab es immer wieder rassistisch motivierte Polizeirazzien. Auf einer Demo gegen diese Repressalien kam es am 9. August 1970 zu Zusammenstößen und 19 Festnahmen. Aus Furcht vor neuen Auseinandersetzungen sagte Rhauné Laslett daraufhin den für wenige Wochen später geplanten Carnival ab. Dennoch kündigten verschiedene Gruppen für den 31. August einen Umzug an. Trotz der Distanzierung der bisherigen Organisatorin fand der Carnival statt, ohne dass es zu größeren Konflikten kam. Von da an wurde das Fest in Notting Hill „karibischer“ und für mindestens ein Jahrzehnt auch wieder politischer.

Ab 1973, als Leslie Palmer für einige Jahre die Organisation übernahm, orientierte sich der Carnival stark am Karneval Trinidads. Steelbands und aufwändig kostümierte Gruppen, die jeweils eine Geschichte, etwa aus der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart, darstellten, prägten von nun an sein Gesicht. Anders als im rheinischen Karneval mit seinen Motivwagen sind es in Trinidad und Notting Hill die Fußgruppen, die Geschichten und Botschaften performen, während die Steelbands mit ihren großen Fasstrommeln auf Wagen unterwegs sind. Da Leslie Palmer und sein Organisationskomitee die gesamte afrokaribische Community und vor allem auch deren Jugend ansprechen wollten, luden sie nicht nur Calypso- und Steelbands ein, sondern öffneten den Carnival für den aus Jamaika (einem Land ohne Karnevalstradition) kommenden Reggae. Dort spielen bei großen Events die Bands in der Regel nicht live. Die Musik dröhnt aus potenten Musikanlagen, den Soundsystems. Anders als die Steelbands waren diese zunächst nicht mobil, sondern wurden an zentralen Orten mit Stromanschluss aufgebaut. Inzwischen werden Soundsystems auch auf großen LKW mit Generatoren betrieben und können an den Umzügen teilnehmen. Die Soundsystems veränderten den Charakter des Londoner Carnivals, da es neben den Routen der Umzüge nun auch feste Plätze gab, wo gefeiert und getanzt wurde. Umgehend hagelte es Proteste von Anwohner*innen, die über Lärmbelästigung klagten.

Je größer der Notting Hill Carnival wurde – innerhalb eines Jahrzehnts stieg die Zahl der Besucher*innen von einigen Tausend auf mehrere Hunderttausend – desto mehr Beschwerden gab es. Neben Lärm wurde über fehlende Toiletten, Müll, Alkohol- und Marihuanakonsum sowie Unsicherheit geklagt. Letzteres, vor allem Taschendiebstähle, wurde zum medialen Aufreger. Auch wenn die Organisator*innen betonten, solche Delikte seien beim Carnival nicht häufiger als bei anderen Großereignissen mit viel Gedränge, wurden sie von den Medien hervorgehoben, weil sie die Stereotype von kriminellen Schwarzen Jugendlichen bedienten.

Zwischen Anpassung und Widerstand

So war Jahr für Jahr mehr Polizei im Einsatz, was keineswegs deeskalierend wirkte, im Gegenteil. Wenn Polizisten tatsächliche oder vermeintliche Taschendiebe festnehmen wollten, kam es schnell zu größeren Rangeleien, weil sich viele Schwarze Jugendliche stigmatisiert fühlten. Im Jahr 1976 eskalierten diese Auseinandersetzungen, es gab Hunderte Verletzte und Festnahmen. Seitdem stehen neben dem Lob für die Vielfältigkeit des Carnivals immer auch Berichte über Gewalt. Vor allem in den Jahren nach 1976 forderten Polizei, Anwohner*innen, die Boulevardpresse und Lokalpolitiker*innen ein Verbot oder die Verlegung des Karnevals von den Straßen Notting Hills in ein Fußballstadion oder einen Park.

In den traditionellen Karnevalszentren griff spätestens an diesem Punkt die oben beschriebene Strategie, sich mit den Forderungen der Eliten zu arrangieren. Diese Bereitschaft, die Vorgaben von Polizei und anderen Behörden zu akzeptieren, gab es auch bei den Organisationskomitees in Notting Hill. Da sich aber die soziale Basis des Carnivals, die afrokaribische Bevölkerung, von genau diesen Institutionen permanent rassistisch diskriminiert fühlte, gab es harsche Kritik, sobald sie das Auftreten des Organisationskomitees gegenüber den Behörden als zu nachgiebig befand. Aufgrund dieses sozialen Drucks gaben die wechselnden Organisator*innen den Forderungen nach Verlegung nicht nach und es gelang, den Carnival im Viertel zu verteidigen. Die Präsenz auf der Straße ist nicht nur grundlegend für jeden Karneval, sondern hat in London hohen Symbolwert für die Community, aber auch für die Gegner*innen des Carnivals. Man stelle sich das in Deutschland, der Schweiz oder Österreich vor: Solange das Ende des Ramadan oder das kurdische Neujahrsfest in Sälen gefeiert wird, stört das wenige. Fänden die Feste auf der Straße, also im öffentlichen Raum statt, gäbe es massive Proteste, vor allem der AFD/SVP/FPÖ-Klientel, auch wenn viele andere gerne mitfeiern. Das war (und ist) in London nicht anders.

Wachsende Kommerzialisierung

Seit den 1990er-Jahren vollzieht sich mit der sozialen Differenzierung des afrokaribischen Milieus und der wachsenden Feierlaune der britischen Mehrheitsgesellschaft ein Prozess der Integration des Carnivals in den Mainstream. Erfolgreiche Repräsentant*innen des afrokaribischen Mittelstands geben im Organisationskomitee inzwischen den Ton an. Sie erleben zwar auch Rassismus, haben sich aber einen Platz in der britischen Gesellschaft erkämpft. Sie können sehr viel abgeklärter mit Behörden und Unternehmen verhandeln und die Bedeutung des Carnivals als Werbeplattform und Tourismusmagnet herausstellen. Dass ab 1995 Coca Cola für einige Jahre Hauptsponsor des Notting Hill Carnivals war und über die Zugrouten, Transparente und Werbematerialien mitbestimmen konnte, wäre in den 1970er-Jahren undenkbar gewesen; weder hätten die Organisator*innen das akzeptiert, noch hätte sich der US-Konzern etwas davon versprochen. Ebenso wenig, dass Politiker*innen aller Couleur lobende Grußworte in den Programmheften platzieren und sich während des Carnivals ablichten lassen.

Reibungslos verläuft die Domestizierung allerdings nicht. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen afrokaribischen Jugendlichen und der Polizei gehören bis heute ebenso zum Notting Hill Carnival wie farbenfrohe Kostüme und Steelbands. Auch 2022 und 2023 gab es jeweils mehrere hundert Festnahmen. Zwar gibt es in Großbritannien inzwischen einen afrokaribischen Mittelstand, doch die Lebensrealität vieler Jugendlicher aus der Community ist weiterhin von miesen beruflichen Perspektiven und täglichen Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung geprägt.

Quellen: Sebastian Klöß: Notting Hill Carnival. Die Aushandlung des Eigenen im multiethnischen Großbritannien seit 1958, Frankfurt/New York 2012; Kwesi Owusu/Jacob Ross: Behind the Masquerade. The Story of Notting Hill Carnival, London 1987; Samuel Selvon: Die Taugenichtse, Übers: Miriam Mandelkow, München 2017; wikipedia.org/wiki/Notting_Hill_Carnival; wikipedia.org/wiki/Claudia_Jones. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 472 Feb. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Gert Eisenbürger / Informationsstelle Lateinamerika:

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