Zwei Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die mit hohen Erwartungen verbundene Offensive Kiews nicht nur gescheitert, sondern das russische Militär ist in der Offensive. Spektakuläres Beispiel ist die Einnahme der Festung Awdijiwka. Über die Ursachen von Illusionen im Westen.
Eine grundsätzliche Wende zugunsten der Ukraine ist nicht in Sicht. Zum einen, weil Kiew die Soldaten ausgehen. Selbst wenn es gelänge, noch einmal eine halbe Million zu rekrutieren, braucht es einige Monate um sie auszubilden. Wer weiß, wo Moskaus Truppen dann stehen. Zum anderen fehlt es an Munition und Gerät, und das nicht nur wegen der Blockade in Washington, sondern weil die Produktionskapazitäten selbst in den USA den Bedarf nicht so schnell decken können, wie Foreign Affairs berichtet. Selbst wenn Washington das blockierte Hilfspaket unmittelbar freigeben könnte, würde es Monate dauern, bis die ukrainische Armee ausreichend versorgt werden kann. Ein Stellvertreterkrieg funktioniert eben nur solange, wie der Stellvertreter zur Kriegsführung in der Lage ist.
Allerdings ist das jetzt eine sehr gefährliche Situation. Der Westen steckt in dem Dilemma, entweder die Aussichtlosigkeit eines militärischen Sieges zu akzeptieren und dem Kreml ein Verhandlungsangebot zu machen, das diesem so weit entgegenkommt, dass er Interesse an Verhandlungen bekommt. Oder es müsste dramatisch eskaliert werden. Und zwar weit über die Taurus-Raketen hinaus, die zwar unangenehm für Russland wären, aber so wenig ein Game-Changer wie früher die Leopard-Panzer oder HIMARS-Raketen. Eine solche Eskalation aber birgt wiederum das Risiko einer Ausweitung des Krieges mit unkalkulierbaren Folgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es zur Illusion vom Siegfrieden und Hurra-Bellizismus des politischen und medialen Mainstreams kommen konnte. Und das selbst in Teilen der gesellschaftlichen Linken, obwohl die Kritik am Militärischen als Teil deren politischer DNA gilt. Dabei scheinen drei miteinander wechselwirkende Faktoren im Vordergrund zu stehen, die quasi als „Betriebssystem“ des Bellizismus wirken:
– Beträchtliche Defizite bei der geopolitischen Analyse der Kräfteverhältnisse in der Welt, insbesondere die historisch notorische Unterschätzung Russlands,
– ein Überschuss an affektivem/emotionalen Umgang mit dem Konflikt statt nüchtern-rationaler Analyse,
– ein Schrumpfen der politischen Handlungsoptionen auf moralische Imperative, statt Diplomatie und politische Lösungen, wie die UN-Charta sie verlangen.
Die geopolitischen Realitäten anerkennen
In den internationalen Beziehungen gelten die machtpolitischen Kräfteverhältnisse als das letztlich ausschlaggebende Regulationsprinzip. Völkerrecht und Regeln werden nur so lange beachtet, wie sie zu den eigenen Interessen passen. Das gilt für alle Großmächte, und auch für kleinere, wie man am Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan ablesen kann. Je mehr ein Land über Machtressourcen verfügt – also militärische Stärke, wirtschaftliches und technologische Potential, politische Einfluss und „Soft Power“ – umso höher seine Stellung in der Hierarchie des internationalen Systems, umso vielfältiger seine Handlungsoptionen.
Nach Ende des Kalten Kriegs 1.0 waren die USA die einzige Supermacht und unangefochtene Nummer Eins in der Welt. In deren Windschatten konnte auch der übrige Westen sich als Sieger der Geschichte fühlen. Beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wurde auch noch ein leichter Sieg eingefahren. Auch die Kriege in Libyen und im Irak wurden wenigstens militärisch noch gewonnen, auch wenn man Chaos und failed states zurückließ. Aber schon in Syrien und Afghanistan wurden die Grenzen der westlichen Interventionsfähigkeit deutlich. Selbst der Zwischenbericht der Untersuchungskommission des Bundestages zu Afghanistan hat jetzt bestätigt, dass die „Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch“ (Ex-Verteidigungsminister Peter Struck) ein strategischer Fehlschlag war.
Jetzt wird sie wieder verteidigt – am Dnjepr. Dass dabei Russland einmal mehr unterschätzt wurde, hat Tradition, spätestens seitdem Napoleon nach der Einnahme Moskaus sein Desaster an der Beresina erlebte.
Nicht nur militärisch wurde Russland wieder unterschätzt. In Kaufkraftparitäten war das Land 2022 nach Angaben des IWF hinter Deutschland die sechsgrößte Volkswirtschaft, vor Indonesien und Brasilien, während Großbritannien und Frankreich nur noch auf Platz neun und zehn rangieren.
Dass die Sanktionen weder Einfluss auf die Kriegsführung des Kremls haben, noch das Land ruinieren, liegt aber nicht nur an der Größe und Robustheit der russischen Volkswirtschaft, sondern auch daran, dass der Globale Süden – vorneweg China, Indien und die übrigen BRICS+ – kein Interesse daran hat, sich der westlichen Wagenburg anzuschließen. Stattdessen unterhalten sie mit Russland normale Beziehungen. Mehr noch, in den BRICS oder in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) arbeiten sie mit Moskau zusammen.
Mit dem Gaza-Krieg und der einseitigen Parteinahme Washingtons und der meisten EU-Mitgliedsstaaten, sowie der Doppelmoral angesichts des israelischen Umgangs mit Menschenrechten und Völkerrecht, hat sich das weiter verfestigt. Dass die USA bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat am 20. Februar des Jahres einsam und allein ihr Veto einlegen müssen, um einen Waffenstillstand zu verhindern, spricht Bände.
Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich also verschoben. Im Jahr 1900 betrug der Anteil Europas an der Weltbevölkerung noch 25 Prozent. Der Anteil der EU steht aktuell bei 5,6 Prozent und wird weiter sinken. Ihr Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt betrug 1980 noch 25 Prozent, 2020 war er auf 14 Prozent gesunken und soll Prognosen zufolge bis 2050 auf 9 Prozent zurückgehen. Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verlagert sich vom transatlantischen Raum nach Asien. Chinas Aufstieg zur Supermacht, das Comeback Russlands als Großmacht, die Großmachtambitionen Indiens und anderer Schwellenländer, das selbstbewusste Auftreten der BRICS – aus alledem folgt, die Dominanz des Westens über die Weltpolitik ist Vergangenheit. Das ist die eigentliche Zeitenwende.
Man muss darüber nicht in Begeisterung ausbrechen. Die multipolare Weltordnung, die im Entstehen ist, birgt viel Konfliktpotential und enorme Risiken. Nur wenn sie einhergeht mit der Respektierung der UN-Charta, ist sie ein wirklicher Fortschritt. Aber man darf vor dem Wandel nicht den Kopf in den Sand stecken. Oder schlimmer noch, zu meinen, man könne business as usual betreiben, und in blinder Selbstüberschätzung einen Krieg fortführen, koste es was es wolle.
Affekte sind schlechte Ratgeber
Es ist an der Zeit, die neuen geopolitischen Realitäten zu verstehen, und mit nüchternem Verstand zu analysieren, statt affektgeladen zu reagieren. Mit Wut, Abscheu und Empörung kann man keine Politik machen.
Natürlich ist militärische Gewaltanwendung eine extreme Grenzüberschreitung, die heftigste Gefühle hervorruft. Darunter nicht nur Mitgefühl mit den Opfern, sondern auch gesteigerte Aggressionsbereitschaft, Kriegsbegeisterung, bis zum Fanatismus gesteigerter Hass und Rachedurst. Selbst jemand, der sich wie kaum ein anderer in der Psyche des Homo sapiens auskannte, Sigmund Freud, schrieb bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Meine ganze Libido gehört Österreich Ungarn.“
Aber Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert kann nicht auf Wut und Empörung gründen. Hass und Rache rufen wiederum Hass und Rache hervor und schaukeln sich so wechselseitig immer höher. Hass macht blind.
Hinzu kommt, dass all diese negativen Emotionen von kriegstreiberischen Interessen und Profiteuren von Krieg und Militarismus instrumentalisiert werden. Gerade in diesen Tagen erleben wir mit der ukrainischen – und westlichen – Niederlage in Awdijiwka, dem Tod Nawalnys und dem zweiten Jahrestag des russischen Einmarschs in Politik und Medien einen regelrechten Tsunami aufgepeitschter Affekte.
Moralisierender Absolutheitsanspruch
Nach zwei Jahren Krieg kann eine Fortsetzung des Krieges nicht mehr mit dem russischen Einmarsch 2022 gerechtfertigt werden. Das hieße ihn als singuläres Ereignis zu verabsolutieren, das exklusiv und monokausal alles Weitere determiniert. Die Sicht auf einen komplexen Konflikt schrumpft auf einen Tag und ein Ereignis. „Ich kann das Wort Kontext nicht mehr hören“, so ein für diese Haltung typischer Satz eines Kolumnisten in Springers WELT. Gemünzt war das auf Gaza, aber es passt genauso auf den Ukraine-Krieg.
Jeder Kontext der Kriege soll demnach ausgeblendet werden. Gefordert wird im Grunde, Denken auszuknipsen und nur noch mitzufühlen, mit Israel nach dem Massaker der Hamas, und mit der Ukraine, nach dem Einmarsch Russlands. Das ist eine komplette Absage an Aufklärung, kritische Gesellschaftstheorie, Konfliktforschung und gesundem Menschenverstand.
Denn inzwischen hat der Krieg einen enormen Preis an Menschenleben, Zerstörung, ökonomischen und politischen Kollateralschäden in der Ukraine, in der EU und weltweit gefordert. Seine Fortsetzung würde die Schreckensbilanz weiter steigern.
Außerdem hat ein Gestaltwandel des Krieges stattgefunden: er ist erklärtermaßen zum Stellvertreter- und Weltordnungskrieg zwischen dem Westen und Russland geworden.
Da kann man nicht mehr nach der Maxime: Fiat iustitia et pereat mundus verfahren, das heißt, es soll Gerechtigkeit geschehen, und wenn die Welt darüber zugrunde geht. In eindringlicher Weise hat Heinrich von Kleist in seinem Michael Kohlhaas die Anatomie des Problems dargestellt: Dem Pferdehändler Kohlhaas werden von einem Junker willkürlich zwei Pferde weggenommen. Seine gerichtliche Klage wird zuerst lange verschleppt und dann abgewiesen. Auch weitere Versuche, zu seinem Recht zu kommen, scheitern. Er entwickelt sich dadurch zum Fanatiker, ruiniert seine Familie und beginnt mit einer Bande einen Rachefeldzug mit Mord und Brandschatzung. Die Novelle endet damit, dass er schließlich doch seine zwei Pferde zurückbekommt, aber für seine Mordbrennerei zum Tode verurteilt wird.
Die Botschaft ist klar: Die anfangs legitime Verfolgung eines moralisch und juristisch legitimen Anspruchs kann in Unmoral und Unrecht umkippen. Für den Ukraine-Krieg heißt das, der gute Zweck, dem Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen, heiligt keineswegs alle Mittel. Der Preis für die Erreichung des Ziels muss moralisch und rechtlich vertretbar sein. Das ist eine ähnliche Logik wie beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rechtsstaat. Im Gaza-Krieg wird das Prinzip ja selbst von westlicher Seite unentwegt wiederholt, wenn auch folgenlos.
In diesem Geiste verpflichtet auch die UN-Charta alle Staaten, vorneweg die ständigen Sicherheitsratsmitglieder, nicht nur den Frieden zu wahren. Sondern wenn es zum Krieg kam, diesen so schnell wie möglich durch Diplomatie und Verhandlungen wieder zu beenden.
Peter Wahl hat Romanistik und Gesellschaftswissenschaften in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt/M. studiert. Er ist Mitbegründer von Attac und arbeitet zu internationalen Beziehungen und Geopolitik. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von Makroskop, mit freundlicher Genehmigung des Autors.
DANKE für diesen eindrucksvollen Artikel! Spricht mir aus der Seele!