Die Aushöhlung des Friedensgebotes der Verfassung – 75 Jahre Grundgesetz: Für die Friedensverfassung streiten!
Im Mai 2024 wird bundesweit, insbesondere in Bonn und Berlin, der 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes (23. Mai 1949) gefeiert. Mit viel Lobhudeleien und Selbstbeweihräucherungen. Dabei ist die gut gemeinte Verfassung im Laufe der 75 Jahre vielfach ausgehöhlt worden. Etliche Grundrechte sind bis zur Unkenntlichkeit durchlöchert worden (vgl. den jährlich erscheinenden Grundrechte-Report von Menschenrechtsorganisationen, Fischer-Verlag). Man denke nur an das verstümmelte Grundrecht auf Asyl oder die polizeigesetzlich verbarrikadierte Versammlungsfreiheit. Hier soll es um das Friedensgebot des Grundgesetzes (GG) gehen, das in etlichen Artikeln eigens direkt oder indirekt hervorgehoben wird. Der Grundgesetz-Feiertag kann Friedensgruppen als Anlass dienen, Veranstaltungen oder Aktionen zum verfassungsgebotenen Friedensauftrag durchzuführen.
Im Folgenden stütze ich mich in diesen kurzen Ausführungen u.a. auf die hervorragenden und sehr ausführlichen Darstellungen von Dieter Deiseroth (ehem. Richter am Bundesverwaltungsgericht, verstorben 2019) in seinem Artikel „Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta“. Hier können nur die wichtigsten Artikel des GG benannt und kurz friedenspolitisch interpretiert werden. Auch eine Bewertung einzelner politischer – eigentlich – verfassungswidriger friedensstörender Handlungen von bundesdeutschen Regierungen kann hier nicht vorgenommen werden (Jugoslawien-Krieg, Afghanistan-Krieg, Irak-Krieg, Libyen-Krieg, nukleare Teilhabe, Ramstein, Rüstungsexporte …).
Schon die Präambel des GG fordert von Deutschland, dem Weltfrieden zu dienen: „… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, habe sich das deutsche Volk per Verfassung „dieses Grundgesetz gegeben“. Zentral für das Friedensgebot ist weiterhin Art. 1 Abs. 2 GG, in dem sich Deutschland „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt. Zudem korrepondiert Art. 2 Abs. 2 („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) mit dem in Art. 6 des UN-Zivilpaktes verbrieften Recht auf Leben, das für die Vertragsstaaten unmittelbare Pflichten erzeugt. Die Jurist*innen gegen den Atomkrieg (IALANA) leiten hieraus z.B. auch das Verbot von Atomwaffen ab. Hierzu hatte Volkert Ohm einen nachlesenswerten Artikel für das Friedensforum verfasst.
Bleiben Präambel und Artikel 2 noch im recht Allgemeinen, so werden vor allem die Artikel 24, 25 und 26 sehr konkret. Allerdings wurden diese vielfach verfassungsrechtlich uminterpretiert und entgegen ihrer ursprünglichen Intention ausgelegt. Auf keinem anderen Gebiet als dem der Militärpolitik sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig extrem regierungsfreundlich ausgefallen.
Art. 24 Abs. 2 regelt die Möglichkeit, dass sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ könne, um eine friedliche und dauerhafte Friedensordnung in Europa und weltweit herbeizuführen. Im Kontext der ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diesen Artikel 1994 allerdings in sein Gegenteil verkehrt, indem es die NATO zu einem System kollektiver Sicherheit adelte, was diese in Wirklichkeit – als Verteidigungs- bzw. Kriegsbündnis – natürlich nicht ist. Aber so wurde der Weg für die Legitimierung von Kriegseinsätzen „out of area“ für die Bundeswehr geschaffen. Von nun an konnte die Bundesregierung weltweit eigene (Wirtschafts-)Interessen notfalls mit militärischen Mitteln durchsetzen bzw. absichern. Art. 87a GG, der den Zweck der Streitkräfte auf (territoriale) Verteidigung beschränkte, war zur Makulatur geworden.
Artikel 25 ist für das Friedensgebot ganz zentral: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Damit verpflichtet sich die BRD auf das Gewaltverbot der UN-Charta und alle weiteren in der Charta geregelten Vorschriften zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens. Mit der Berufung auf diesen Grundgesetz-Artikel versuchen zivil Ungehorsame immer wieder – zu Recht, wenn auch bislang vergeblich – die Gerichte zu überzeugen, dass z.B. formal illegale Aktionen gegen Atomwaffen auch rechtlich gerechtfertigt werden können.
Allerdings haben auch hier die extensiven Auslegungen zu den in der UN-Charta definierten Ausnahmen vom Gewaltverbot über die (kollektive) Selbstverteidigung und die Ausweitung des Verteidigungsbegriffes (Interessen und weltweite „Bedrohungen“ statt Territorialverteidigung) weltweiten Kriegsführungsoptionen Tür und Tor geöffnet. Die in der Charta erlaubte (kollektive) Selbstverteidigung beschränkte sich nicht mehr auf die Verteidigung des eigenen Territoriums gegen einen Angreifer, sondern konnte nun auch bedeuten, Militär gegen entfernte Bedrohungen oder für die „Verteidigung“ eigener Interessen einzusetzen.
Weiterhin sehr bedeutsam für das Friedensgebot ist Artikel 26, der hier vollständig zitiert werden soll:
„(1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.
(2) Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Menschen aus der Friedensbewegung hatten mehrfach, z.B. beim Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, versucht, über den Generalbundesanwalt die Bundesregierung wegen Verstoßes gegen Art. 26 GG zu verklagen. Der Generalbundesanwalt entblödete sich nicht, zu argumentieren, dass ja laut Gesetzestext (vgl. auch Art. 80 Strafgesetzbuch – StGB) nur die Vorbereitung, aber nicht die Führung eines Angriffskrieges strafbar sei. Dies steht natürlich in Gegensatz zu dem Sinn des Gesetzes und seinen bei der Gesetzesberatung deutlich gemachten Intentionen. Inzwischen ist – nach langen Debatten um die Definition eines Angriffskrieges – der sich aus Art. 26 ergebende Straftatbestand von Art. 80 StGB ins Völkerstrafgesetzbuch verlagert worden. Dort ist dieser Tatbestand allerdings so eingeschränkt worden, dass eine Bundesregierung als auch ausführende Befehlsgebende oder Soldat*innen praktisch nie für ein solches Verbrechen belangt werden können. Vgl. Martin Singe, „Angriffskrieger lassen sich straffrei stellen.“
Der oben zitierte Art. 26 Abs. 2 GG war dazu gedacht, Kriegswaffenexporte zu verhindern bzw. maximal zu beschränken. Der Streit um die Auslegung und die näheren Regelungen durch die Bundesgesetzgebung wird weiterhin geführt. Die Friedensbewegung hat in vielen Stellungnahmen klare Einschränkungen bzw. Rüstungsexportverbote per Gesetzgebung gefordert. Aber „unsere Interessen“ und die Notwendigkeit der „Befähigung unserer Sicherheitspartner“ weltweit stehen dem entgegen. Der Kampf um effektive Rüstungsexportverbote – gerade auch bei EU- oder anderen Kooperationsproduktionen – muss weiter geführt werden!
Auch das in Art. 20 GG festgelegte Demokratiegebot wird durch die Verteidigungs- bzw. Kriegspolitik der Regierungen stark beschädigt, wenn nicht weitgehend außer Kraft gesetzt. Z.B. zeigt sich allein schon an der Geheimhaltungspolitik in Sachen Atomwaffen, aber auch anderer „verteidigungsrelevanter“ Angelegenheiten, dass militärische „Verteidigung“ und Demokratie tendenziell inkompatibel sind. Die Bürger*innen haben so gut wie gar keinen Einfluss auf militärpolitische Entscheidungen. Und selbst die Rechte des Parlamentes sind – trotz Geredes von der Parlamentsarmee – weitgehend beschränkt, auch wegen vieler Geheimhaltungsregelungen. Im „Verteidigungsfall“ (Art. 115a ff) kann der „Gemeinsame Ausschuss“, ein Schrumpfparlament, das gewählte Parlament quasi entmachten. Außerdem werden viele militärpolitische Entscheidungen auf NATO- und EU-Ebene weit entfernt von nationaler Verantwortlichkeit getroffen und verbindlich vorgegeben.
Als Letztes sei hier noch der Art. 4 Abs. 3 GG genannt. Der Artikel, dass niemand gegen seinen Willen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, ist schon als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen worden, ehe es überhaupt eine Bundeswehr gab und als sich noch klare Mehrheiten gegen eine Wiederbewaffnung aussprachen. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus mit der Erschießung Tausender von Deserteuren waren den wenigen Müttern und vielen Vätern des Grundgesetzes Mahnung genug. Aber auch dieses – einfach formulierte Grundrecht – ist im Nachhinein durch Verwaltungsvorschriften ausgehöhlt worden. Viele werden sich noch an die unsäglichen Gewissensprüfungen der militärgeführten Prüfungsgremien erinnern. Bis heute reicht es für verweigernde Soldat*innen nicht, sich auf Art. 4 Abs. 3 zu berufen. Immer noch unterliegen die Anträge einer Überprüfung und können abgelehnt werden. Ob im „Ernstfall“ die Berufung eines/r Soldaten/in auf Art. 4 Abs. 3 ausreichen würde, um eine unmittelbare Freistellung vom Kriegsdienst umzusetzen, darf bezweifelt werden. Auch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung muss verteidigt werden – um so stärker, je mehr wir in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ getrieben werden.
Zum Nachlesen: Dieter Deiseroth, „Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta“
Martin Singe ist im Redaktionsteam des Friedensforums und war langjähriger Referent beim Komitee für Grundrechte und Demokratie. Vorstehender Text erscheint als Artikel in FriedensForum 3/2024 zum 1. Mai 2024. Der Text kann vorab genutzt werden, vor allem zur Motivation für Aktionen zum Grundgesetz-Tag.
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