Günter Verheugen wird heute 80
Seine außergewöhnliche Karriere begann 1960 im Brühl bei Köln mit dem Beitritt zu den “Deutschen Jungdemokraten”, damals parteiunabhängige Jugendorgasnisation der FDP. Sie hätte fast am 17.Juni 1961 geendet, als die rheinischen Jungdemokraten per Busladung zum Herrmansdenkmal bei Detmold gekarrt wurden und dort anlässlich des “Deutschlandtages” eine “wilde nationalistische Rede- reiner Revanchismus”, so Verheugen, des damaligen FDP-Parteivorsitzenden Erich Mende anhören mussten. Als der 17-jährige zu seinen Mitstreiter*inn*en sagte: “Ich glaube, wir sind hier auf dem falschen Dampfer – gehen wir lieber ein Bier trinken” – hätte die Geschichte geendet – wäre da nicht ein gewisser Gerhart Baum gewesen, Kreisvorsitzender der Jungdemokraten in Köln, der ihn um ein Gespräch bat, bevor er den Jungdemokraten den Rücken kehre.
Er traf Baum kurz danach, der ihn darüber aufklärte, dass die FDP besonders in NRW zutiefst gespalten war, in einen extrem nationalistischen Flügel, der als politisches Auffangbecken von Altnazis diente, und einen politisch liberalen Flügel, der dies nachhaltig ändern wolle. Günter Verheugen blieb, er absolvierte nach dem Abitur ein Volontariat bei der NRZ und wurde Chefredakteur der “Stimmen der jungen Generation”, dem bundespolitischen Organ der Jungdemokraten. 1967 wurde er ihr NRW-Landesvorsitzender, zentraler Unterstützer und publizistischer Organisator des Kampfes der Jungdemokraten für eine linksliberale FDP. Zusammen mit Gerhart Baum, Helga Schuchardt, Heiner Bremer, und vielen anderen veränderte Günter Verheugen zunächst die Jungdemokraten und mit dem Rückenwind der Außerparlamentarischen Opposition auch die FDP in der wichtigsten Phase von 1967 bis 1969, um sie von einer nationalistischen, ewiggestrigen Partei an der Seite der CDU zu einer treibenden Kraft für sozialliberale Reformen, für eine chancengleiche Bildungspolitik, Bodenreform, Liberalisierung der Rechts- und Gesellschaftspolitik und vor allem der Entspannungs- und Ostpolitik umzuwandeln.
Parteikarriere und Regierungsamt
Seine auf Wachsmatritze vervielfältigten DJD-Parteitagsdienste auf FDP Parteitagen – 3 mal täglich – waren Legende. Hans-Dietrich Genscher erkannte sein Talent und machte ihn zum Presseprecher im Innen- und ab 1974 im Außenministerium. 1978 wählte ihn der Mainzer Parteitag zum Generalsekretär der F.D.P. und Nachfolger des glück- und profillosen Martin Bangemann. Er knüpfte an den charismatischen Karl-Herrmann Flach an, und die Programmdiskussion zum Wahlkampf 1980 war die demokratischste, die die F.D.P. jemals erlebt hat. Die Kreisverbände der Partei hatten in einem basisdemokratischen Prozess zum Programmentwurf nahezu 900 Änderungsantäge gestellt. Die Programmdiskussion am historischen Tagungsort Freiburg wurde zum vollen Erfolg Verheugens. Ein progressives, linksliberales Programm wurde mit nur einer Gegenstimme verabschidet – der von Otto Graf Lambsdorff. Im Bundestagswahlkampf 1980 gegen den CSU-Kandidaten Franz-Josef Strauss punktete die “Pünktchenpartei” und erzielte das Sensationsergebnis von 10,6%. Helmut Schmidt war wohl geschockt und ahnte, dass es nun nicht leichter würde mit den kraftstrotzenden Liberalen und kam am Wahlabend noch ins Thomas-Dehler-Haus, um Genscher zu gratulieren. Christoph Strässer, Jungdemokraten-Bundesvorsitzender und ich, sein Stellvertreter und Schatzmeister, waren vor Ort und Siegfried Pabst, Mitarbeiter Verheugens, meinte sybillinisch zu uns: “Wisst Ihr, was? 10,6% ist auch zwei mal 5,3%!” Er meinte damit, dass der scheinbare linksliberale Erfolg von Freiburg bald in einer Spaltung der Partei enden könne – und er sollte recht behalten.
Die “Wende” Genschers und Otto Graf Lambsdorffs spaltet die FDP
Die guten Wahlergebnisse von 1980 hatten jede Menge konservative und neoliberale Prateimitglieder, die bis dato auf hintere Listenplätze verwiesen worden waren, in den Bundestag gespült. Irmgard Adam-Schwätzer etwa und viele andere wirtschaftsliberale Abgeordnete entpuppten sich als Anhänger des von Reagan in USA propagierten Neoliberalismus und der Privatisierungsideologie. Und schon mit dem Bundeshaushalt 1981 versuchten der neu erstarkte rechte Flügel, die sozialliberale Koalition zu kippen, was Verheugen, Ingrid Matthäus-Maier, Carola von Braun, Helga Schuchardt und viele andere damals noch verhinderten. Ein Jahr später war trotz “Liberalem Fortschritt”, einer von den Jungdemokraten initiierten linksliberalen Bewegung in der Partei und heftigem innerparteilichem Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss in der FDP endgültig Schluss. Genscher und Graf Lambsdorff vollzogen den Bruch mit Helmut Schmidt und der SPD im September 1982. Ohne Neuwahl wählte der Bundestag mit der rechten Mehrheit der FDP-Bundestagsfraktion Helmut Kohl zum Bundeskanzler und sie stellten den Parteitag im November vor vollendete Tatsachen. Der erfolgreiche Generalsekretär von 1980 verliess daraufhin, wie viele tausend andere Jungdemokrat*inn*en und Linksliberale, die FDP. Und es wären nicht Liberale gewesen, wenn sie nicht individuelle und höchst unterschiedliche Wege einschlugen.
Verheugens programmatisches Talent in der SPD
Ein Teil gründete die “Liberalen Demokraten”, die aber nicht zur Bundestagswahl 1983 antraten, weil ihnen die linksliberale Prominenz fehlte. Ein großer Teil der Mitglieder an der Basis ging zu den gerade in den Bundestag eingezogenen Grünen. Günter Verheugen zählte zu den Prominenten, die wie Ingrid Matthäus-Meier, Andreas von Schoeler und Friedrich Hölscher, von der SPD angeworben wurden. Helga Schuchardt blieb trotz Ministeramt im Kabinett Schröder in Niedersachsen parteilos. Günter Verheugen ist der einzige Politiker, der es je geschafft hat, zum programmatischen Motor in zwei Parteien zu werden. In der FDP als Generalsekretär von 1978 bis 1982 und in der SPD als Bundesgeschäftsführer und Nachfolger von Peter Glotz ab 1994 bis 1995. Er war sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter von 1993 bis 1999, in der rot-grünen Koalition zunächst Staatsminister im Auswärtigen Amt bei Joschka Fischer, und ab 1999 bis 2010 EU-Kommissar, zuständig für Wirtschaft, aber vor allem für die Erweiterung der Gemeinschaft. In dieser Funktion entwickelte er sich zum hervorragenden Kenner vor allem der östlichen EU-Aspiranten und -Partner bis hin zu Wladimir Putin. Frappierend bei allem: während einer langen politischen Karriere hat Günter Verheugen immer mehr inhaltlich gearbeitet, als nach Regierungsposten geschielt. Die sozialliberale Programmatik der F.D.P. in den 80er Jahren, die sozialliberale Programmatik der SPD, die nötig war, um mit den Grünen 1998 regierungsfähig zu werden, hat Günter Verheugen geprägt.
Immer noch zur Einmischung bereit
Nach Beendigung seiner Tätigkeit in der EU wurde es parteipolitisch still um Günter Verheugen, er widmete sich seiner neuen Aufgabe als Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt und beriet als Mitglied der bei der von Dmytro Firtasch finanzierten Agentur zur Modernisierung der Ukraine (AMU).[11][12] zum Thema demokratischer Reformen, Korruptionsbekämpfung und EU-Annäherung, die sich aber 2015 mangels Resonanz der damaligen Regierungen der Ukraine als Flop erwies. Ironie der Geschichte: der Überfall Putins hat die Ukraine der EU in den Köpfen der Ukrainer wesentlich näher gebracht.
Verheugen mischt sich immer noch ein und kritisierte 2022 anlässlich einer Podiumsdiskussion des radikaldemokratischen Netzwerks ehemaliger Jungdemokrat*inn*en mit Ludger Volmer (Grüne), Helmut Schäfer (FDP), Johannes Varwick, André Härtel (Wissenschaft) und Peter Wahl (WEED) im August dezidiert den Kriegskurs der Bundesregierung und deren mangelnde Bereitschaft, neben der militärischen Unterstützung der Ukraine vor allem diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges zu ergreifen. In wenigen Tagen wird hierzu ein Buch von ihm erscheinen.
Herzlichen Glückwunsch, viel Erfolg, Gesundheit und langes Leben, lieber Günter!
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