Freidrehendes Eskalations-Karussell

Der zweifellos blitzgescheite Albrecht v. Lucke/Blätter hat seinen Prantl gelesen, und referiert also brav in seinem “Demokratie im Ernstfall: 75 Jahre Bundesrepublik, 25 Jahre Berlin” die pazifistischen Wurzeln des Grundgesetzes. Suchen Sie mal bitte nach der schlüssigen Begründung für die deutschen Kriegsteilnahmen. Ausser, dass die Welt sich geändert habe, habe ich nichts substanzielles gefunden.

Gestolpert bin ich aber gegen Ende über diese Stelle: “Solange wir nicht unsere Klimavorgaben einhalten, haben wir, moralisch betrachtet, kein Recht, jene abzuweisen, die dadurch in die Flucht getrieben werden. Das aber würde, politisch betrachtet, wiederum die Gefahr bergen, dass dieser Kontinent immer weiter nach rechts kippt.” Sie erinnert mich an den BRD-“Historikerstreit” der 80er, dessen eine Seite behauptete, am deutschen Faschismus sei der russische Bolschewismus schuld gewesen. An der Rechtswende EU-Europas sind also die Migrant*inn*en – “politisch betrachtet” – schuld? Da kann ich leider nicht folgen.

Die aktuell heikle Eskalation wird am Opfer Georgien betrieben. Bereits vor drei Tagen hatte Roland Bathon in der Berliner Zeitung eine differenzierende Betrachtung und politische Warnung formuliert, die sein Verlag aber eingemauert hat. Bleiben als zugängliche Alternative:

Zwei Autoren des US-amerikanischen Quincy-Instituts in deutscher Übersetzung Artin Dersimonian, Anatol Lieven/telepolis: “Warum sich der Westen aus den Protesten in Georgien heraushalten sollte – Proteste gegen Gesetz zur Einflussnahme dauern an. Fragiles Gleichgewicht zwischen Russland und Westen. Was oft übersehen wird, erklärt dieser Gastbeitrag.”

Und der unverwüstliche Florian Rötzer/overton mit seinen angemessenen Seitenhieben auf die hiesige Medienlanschaft: “Scheinheilige Aufregung über das georgische ‘Russen- oder Agenten-Gesetz’ – Die georgische Regierung will angeblich für Transparenz über ausländische Einflussnahme sorgen, was gegen die EU verstoßen soll. Die aber hat eine ähnliche Richtlinie in der Schublade. Vorbild ist das amerikanische FARA-Gesetz.”

Was halten Sie von der Unterscheidung zwischen (legitimer) Meinung und Gewissheit – zumindest wenn es um zahlreiche Menschenleben geht? Wäre das nicht ein Fortschritt, weit über gesellschaftliche Diskurshygiene hinaus? Ich kannte noch eine Politiker*innen*generation, die diesen Unterschied kannte. Ist das unter den Bedingungen heutiger Arbeitsverdichtung zuviel verlangt von politischer und kommentierender Klasse?

Paywalls – was ist sinnloser?

Jedes Medium und jede Regierung erregt sich über die Pest der “Desinformation”, ein Triggerbegriff, der mich zur Flucht treibt. Denn die betreiben immer die Andern. Alternative wäre also, Information als Allmende zu verbreiten, um das arme verdummte Volk vor der Verdummung zu bewahren. Stattdessen aber wird Information gemäss den Gesetzen des real existierenden Kapitalismus als Ware behandelt und verknappt. Rettung vor der bösen Desinformation nur gegen Abtretung persönlicher Daten und Geld. Tja, so geht es dann auch aus.

So schreibt der kluge Stefan Niggemeier/uebermedien z.B. über eine ARD-Dokumentation, an der er als Interviewpartner selbst teilgenommen hat. Nur leider habe diese Dokumentation unterschlagen, dass sich die vom verstorbenen Dieter Wedel missbräuchlich angegriffene Schauspielerin Jany Tempel vom in der Doku gefeierten Anwalt Schertz ebenso wie von der ebendort gefeierten Zeit-Redaktion “verraten und im Stich gelassen” gefühlt habe. Wie? Das können Sie in einer Woche frei lesen – wenn Sie sich bis dahin noch daran erinnern.

Das gilt nicht minder für Annika Schneiders/uebermedien Bericht zum Konflikt beim MDR. Darauf müssen Sie aber nicht eine Woche warten, weil es längst woanders frei zu lesen ist – und hier das Originaldokument, das die Sache bekannt und zum öffentlichen Thema gemacht hat.