Mitte März hat der Europarat mit einer recht kritischen Stellungnahme zur Politik Deutschlands für Aufmerksamkeit gesorgt. Er warf Deutschland vor, zu wenig gegen Notlagen und Arbeitslosigkeit zu tun, und forderte mehr Engagement gegen Armut (vor allem bei Kindern und Senioren), soziale Ungleichheit, Rassismus und Wohnungslosigkeit. Wohnen sei ein Menschenrecht, deshalb seien auch Eingriffe in Wohnungsmarkt und Mietrecht gerechtfertigt. Die Bundesregierung teilte in ihrer Stellungnahme zwar die Sorge hinsichtlich der steigenden Zahl wohnungsloser Menschen, wies aber zugleich auf ihren aktuellen Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungslosigkeit hin.  

Damit erreichte der Europarat wieder einmal öffentliche Aufmerksamkeit, passend zu seinem 75. Geburtstag am 5. Mai. Wahrscheinlich wissen etliche Leute nicht viel über dieses Gremium und seine Tätigkeit. Manche glauben vielleicht, der Europarat sei eine der vielen Institutionen der Europäischen Union, und verwechseln ihn mit dem Europäischen Rat. Dem ist aber nicht so. 

Der Europäische Rat ist die Zusammenkunft der 27 Staats- und Regierungschefs der EU und wird daher oft als EU-Gipfel bezeichnet. Der Europarat ist eine eigenständige Organisation, verfolgt andere Aufgaben als die EU, hat mit 46 Mitgliedern deutlich mehr als die EU und ist acht Jahre älter. Für den Fall, dass Bestimmungen der EU und des Europarats voneinander abweichen oder sich gar widersprechen, gilt eine sogenannte ‘Entkoppelungsklausel’, die den Vorrang des EU-Rechts sichert.

Damit ist der Europarat die älteste zwischenstaatliche Organisation Europas, ein Forum für Debatten und Meinungsbildung über europäische Themen. Seine Hauptaufgabe sind Völkerverständigung und Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Dazu hat der Rat mit seinen Mitgliedern einen verbindlichen Rechtsrahmen vereinbart, der durch mehr als 200 Übereinkommen konkretisiert wird. Dazu gehören unter anderem die Antifolter-Konvention und die Europäische Sozialcharta. Das wichtigste Abkommen ist die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, die eine Vielzahl von Grundrechten sichert. Diese sind geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten.  

Wer sich in seinen Grund- und Menschenrechten verletzt sieht, kann vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage erheben. Die Mitgliedstaaten sind an die Entscheidungen des EGMR gebunden. Vielfach wurden Regierungen veranlasst, ihre Verwaltungspraxis zu ändern. Auf diese Weise trägt die Rechtsprechung des EGMR nachhaltig zur Wahrung und Stärkung der Menschenrechte bei. 

In den letzten Jahren hat der EGMR an Einfluss gewonnen. Er hat zahlreiche Urteile getroffen, die nicht unerheblich in die Rechtsordnung einzelner Staaten eingegriffen und in der Öffentlichkeit ein breites Echo gefunden haben. Allerdings sieht er sich mit einer ständig steigenden Zahl von Beschwerden konfrontiert, die zu einer starken Überlastung geführt haben. Mehr als 50.000 Anliegen gehen jährlich ein.

In seiner Selbstdarstellung listet der Europarat folgende „Errungenschaften“ auf: Abschaffung der Todesstrafe, Stärkung der Menschenrechte, Nichtdiskriminierung und Bekämpfung von Rassismus, Verteidigung der Meinungsfreiheit, Gleichstellung von Frauen und Männern, Schutz der Kinderrechte, Verteidigung der kulturellen Vielfalt, Demokratieförderung durch Wahlbeobachtung.

Inzwischen zählt der Europarat auch der Kampf gegen den Terrorismus, die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts, die Unterstützung der kulturellen Zusammenarbeit und die Förderung des Natur- und Umweltschutzes zu seinen Aufgaben. Gerade im Kultursektor, auf dem die EU keine Zuständigkeit hat, entwickelt der Europarat vielfältige Aktivitäten: Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Schutz kultureller Minderheiten oder interkulturelle Dialoge. Eine Spezialaufgabe des Europarates sind Wahlbeobachtungen.

Die ‘Verzettelung‘ der Europarates, also die Übernahme von immer mehr Aufgaben, hat gelegentlich zur Kritik am Europarat geführt. Andererseits ist es wohl so, dass diese Themen sonst wohl von keiner anderen Institution übernommen worden wären und dass der Europarat aufgrund seiner regionalen Begrenzung dafür prädestiniert ist. Ansonsten gibt es beim Europarat einen Mangel, den man auch bei vielen anderen internationalen Organisationen konstatieren muss: die schwache Durchsetzungs- und Sanktionsmöglichkeiten, ungeachtet der Bestimmung, dass die Mitgliedstaaten an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sind. Immerhin hat der Europarat das Recht, Wahlbeobachter zu entsenden und unangemeldet Gefängnisse zu besuchen.

Gewiss gibt es auch Probleme im Europarat. 2017 wurde dem Präsidenten des Parlamentarischen Versammlung wegen Korruptionsvorwürfen seine Befugnisse entzogen. Erst als er ein halbes Jahr später zurücktrat, konnte die vakante Stelle wieder besetzt werden. 2019 wurde sogar eine Expertenkommission eingesetzt, um Korruptionsvorwürfen nachzugehen. Immerhin wurde dadurch bei verschiedenen Abgeordneten die Zahlung von Bestechungsgeldern aufgedeckt, die offenbar aus  Aserbaidschan kamen. Zweck war gewesen, Erklärungen zur Missachtung der Menschenrechte in Aserbaidschan zu verhindern oder abzumildern.

46 Staaten sind Mitglied des Europarates, darunter alle EU-Mitgliedstaaten, die Schweiz und u.a. Armenien, Aserbaidschan, Moldawien, Türkei, Serbien und die Ukraine. Japan, Israel, Kanada, Mexiko, die USA und der Vatikan haben einen Beobachterstatus. Voraussetzung einer Mitgliedschaft ist die Abschaffung der Todesstrafe. Belarus und Russland, das im März 2022 ausgeschlossen wurde, gehören dem Europarat nicht an. Der russische Angriff auf die Ukraine wurde vom Europarat als besonders schwerwiegender Verstoß gegen die Werte der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Daher hat das Ministerkomitee Russland nach 26 Jahren Mitgliedschaft ausgeschlossen. 2023 wurde ein Schadensregister begonnen, in dem Zerstörungen in der Ukraine dokumentiert werden, um Russland dafür zur Rechenschaft ziehen und mögliche Entschädigungszahlungen einfordern zu können.

Mitte April 2024 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats nach mehrstündiger Debatte mit 131 zu 29 Stimmen gegen den energischen Protest Serbiens, das sogar mit dem Austritt drohte, die Aufnahme des Kosovo beschlossen. Auch die Türkei ist ein Problemfall, denn sie setzt seit Jahren Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht um. Und Großbritannien hat vor kurzem bei der Verabschiedung des Asylpaktes mit Ruanda entschieden, künftig Verfügungen des EGMR zu ignorieren.

Europarat und EGMR haben ihren Sitz in Straßburg. Organe sind das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Das Komitee wird von der Außenminister/innen der Mitgliedstaaten gebildet, es tagt einmal im Jahr und entscheidet über Grundsatzfragen, internationale Verträge und die Aufnahme neuer Mitglieder. Die Parlamentarische Versammlung besteht aus 318 Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten; sie wählt u.a. die Richter/innen am EGMR. Die laufende Arbeit des Europarates obliegt dem Sekretariat, geleitet von einer/m auf fünf Jahre gewählten Generalsekretär/in. Finanziert wird die Tätigkeit des Europarates aus Beiträgen der Mitgliedstaaten, die sich nach der Einwohnerzahl und der Höhe des Bruttosozialprodukts richten. 2023 betrug der Jahresetat 625 Mio. €, Deutschland zahlte 43 Mio..

Um „die aktive Beteiligung aller Bürger/innen bei der Durchführung von öffentlichen Angelegenheiten zu intensivieren“, arbeitet der Europarat eng mit nichtstaatlichen Institutionen zusammen. Hierzu gibt es eine ‘Konferenz der Nichtregierungsorganisationen im Europarat’, die auf diese Weise aktiv am Entscheidungsprozess des Europarates teilnehmen. Eine beratende Funktion übt auch der ‘Kongress der Gemeinden und Regionen Europas’ aus.

Der Europarat wurde nach dem Motto „Wir müssen eine Art Vereinte Nationen von Europa aufbauen“ gegründet. Neben der militärischen Organisation NATO und der wirtschaftlich ausgerichteten OECD ist er zuständig für das Bemühen um die politische Einigung und Zusammenarbeit Europas. Um dies voranzubringen, hat der Europarat bis 2022 mehr als 220 internationale Abkommen geschlossen, z.B. zu den Themen Niederlassung, Patentrecht, Soziale Sicherung, Datenschutz, Anti-Doping, Minderheitensprachen Staatsangehörigkeit, Gewalt gegen Frauen, Missbrauch von Kindern, Computerkriminalität, Menschenhandel oder Kulturerbe.  

Beispielhaft sei das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten erläutert, wie es vom Europarat dargestellt wird: Es enthält einen Überwachungsmechanismus zur Kontrolle und Verbesserung des Minderheitenschutzes, fördert die Rechte der Roma, unterstützt eine Allianz der Städte und Regionen für die Integration der Roma, fördert die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, schützt nationale Minderheiten und bekämpft die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.

Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten erarbeiten im Auftrag des Europarates fortlaufend eine Vielzahl von Berichten, Untersuchungen oder Empfehlungen, gelegentlich auch Untersuchungen vor Ort. Zusammen mit Konferenzen, Kolloquien und Anhörungen sind sie Basis der für politischen Debatten im Parlament und können zu Resolutionen, internationalen Verträgen und anderen Rechtsinstrumenten führen. Zugleich dienen sie auch als Grundlage für Veröffentlichungen oder Presseerklärungen wie die anfangs geschilderte Kritik an Armut und Wohnungsmangel in Deutschland. 

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.