75 Jahre Grundgesetz: Wer die Demokratie verteidigen will, muss anders wirtschaften. Mit der deutschen Einheit wurde gleichzeitig der Sozialstaat demontiert. Die gefährliche Lücke zwischen Verfassungsinhalt und Wirklichkeit ließe sich schließen.

Vor wenigen Tagen feierten wir den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes, das vielfach als eines der fortschrittlichsten und sozialsten Verfassungen einer Demokratie bezeichnet wird. Allerdings klafft unter dem Aspekt der Entwicklung des Allgemeinwohls zwischen Verfassungsinhalten und Verfassungswirklichkeit seit den letzten 30 Jahren eine immer größer gewordene Lücke – eine Gefahr für den sozialen Frieden.

Das Grundgesetz wird allgemein mit dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ und des „Sozialstaates“ in Verbindung gebracht, ohne dass diese Begriffe ausdrücklich im Grundgesetz enthalten sind. Im Grundgesetz ist keine Wirtschaftsordnung explizit bestimmt. Es legt unwiderruflich Grundrechte fest wie die Gewährleistung des Eigentums (Art. 14, Abs. 1). Gleichzeitig manifestiert es die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14, Abs. 2), regelt Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit (Art. 14, Abs. 3) sowie Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln (Art. 15).

Der Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ gilt seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 23. Mai 1949 als positive Bezeichnung für das kapitalistische Wirtschaftssystem, das sich in der Systemkonkurrenz gegen das sozialistische System profilieren musste. Das aus öffentlichen und privaten Unternehmen gemischte Wirtschaftssystem produzierte jährlich einen immer höheren Wohlstand. Mit einer aktiven Wirtschafts- und Sozialpolitik sorgten die Regierungen lange Zeit für die Verteilung des wachsenden Wohlstandes auf alle – im Prinzip bis 1990.

Deutsche Einheit: Grundgesetz auf Ostdeutschland ausgedehnt, Sozialstaat demontiert

Die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus wurde in den 90er Jahren abgelöst durch eine zunehmende Globalisierung, immer radikalere renditeorientierte Unternehmenspolitik sowie wachsende spekulativ ausgerichtete Finanzmärkte.

Die Kräfte des Marktes wurden mit dem „Sieg“ des Kapitalismus über den Sozialismus ideologisch gefeiert. „Mehr Markt – weniger Staat“ und die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ wurden zu Kampfbegriffen gegen den „Sozialstaat“ verwendet. Dabei wurden Gewerkschaften als Dinosaurier tituliert und eine aktive, auf Nachfragestärkung ausgerichtete Wirtschaftspolitik als nicht marktkonform diskreditiert.

Auf diese Weise führte die vorherrschende Politik seit der Jahrtausendwende bis heute zu einer gesellschaftlichen Spaltung:

Auf der einen Seite steigt die Armut und immer mehr Menschen wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen, auf der anderen Seite explodieren Gewinne und Kapitalrenditen.

Auf der einen Seite schnellen Vorstandsbezüge und Boni in unangemessene Höhen, auf der anderen Seite werden Stellen gestrichen und ausgelagert, Gehälter unter Druck gesetzt und Tarifbindungen drastisch abgebaut.

Auf der einen Seite kann der Staat mit seinen Steuereinnahmen Infrastruktur, Erziehung und Bildung, Gesundheit und bezahlbares Wohnen nicht mehr angemessen finanzieren, auf der anderen Seite steigt das private Vermögen jährlich und konzentriert sich in nur wenigen Familien.

Auf der einen Seite äußern sich zwar immer noch sehr viele Menschen in Umfragen grundsätzlich zufrieden, auf der anderen Seite fühlen sich immer mehr Menschen ungerecht behandelt und abgehängt, obwohl der Reichtum der Volkswirtschaft jedes Jahr weiterwächst. Und die Abstiegsängste nehmen zu.

Diese Politik hat zum Erstarken des Rechtspopulismus beigetragen

Es mag makaber klingen: Aber mit der deutschen Einheit und der Ausdehnung des Grundgesetzes auf die ostdeutschen Bundesländer (dort besteht das Grundgesetz nun seit gut 33 Jahren) begann eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die nicht mehr primär das Allgemeinwohl beinhaltet, sondern bei der im Gegenteil die radikalen Marktkräfte immer mehr zur Geltung gebracht wurden. Diese Politik der letzten 30 Jahre hat ganz wesentlich zur Entwicklung der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ sowie dem Erstarken des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus beigetragen.

Für die Wirtschafts- und Sozialpolitik lässt das Grundgesetz viele verschiedene Möglichkeiten zu. Bei der Fortsetzung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit sturer Schuldenbremse und einseitiger angebotsorientierter Wirtschaftspolitik droht die Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft in einerseits arm und abgehängt bzw. mäßig verdienend und andererseits reich bzw. superreich. Der Mittelstand würde dabei weiter zerbröseln – eine äußerst bedrohliche Entwicklung. Aber das Grundgesetz lässt auch eine gänzlich andere Wirtschafts- und Sozialpolitik zu – eine Politik, bei der die Steigerung des Allgemeinwohls im Mittelpunkt steht.

Das Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums beschreibt die soziale Verantwortung der Kapitaleigner gegenüber ihren Beschäftigten und der Gesellschaft. Das bedeutet, dass Kapitaleigner nicht das machen können, was sie allein für richtig halten, sondern dass auch soziale Aspekte immer zu beachten sind. Schließlich würden Unternehmer keine Rentabilität, keine Vermehrung ihres Kapitals erleben, wenn Beschäftigte nicht dafür arbeiten.

Kapital ohne Arbeit ist tot. Deshalb ist die Übermacht der Unternehmer bei den wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen nicht legitimiert. Das Grundgesetz gibt mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums geradezu den Auftrag für eine möglichst weitgehende Existenzsicherung der Beschäftigten sowie wirklich gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungen im Betrieb und Unternehmen bzw. Konzern. Konkret kann das bedeuten:

Sozialpflichtigkeit des Eigentums

Ein gesetzliches Verbot betriebsbedingter Kündigungen, wenn Unternehmen Gewinne machen. Es ist grundgesetzlich nicht vertretbar, dass Kapitaleigner Beschäftigte entlassen oder mit Entlassung drohen, wenn ihre Investitionen zu Gewinnen führen. Das Verbot betriebsbedingter Kündigungen bei Gewinnen kann ganz einfach im Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsgesetz geregelt werden.

Die Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten, Betriebs- und Personalräten sowie Gewerkschaften sollten erweitert werden, um sicher zu stellen, dass Eigentümer keine Entscheidung gegen die Beschäftigten treffen können. Mindestens ist eine echte Parität in Betrieben und Unternehmen für alle Entscheidungen einzurichten mit einem fairen Lösungsmechanismus im Falle der Parität.

Über die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher und Unternehmensebene hinausgehend ist ein System der Wirtschaftsdemokratie zu generieren, in dem Wirtschafts- und Sozialräte die entsprechende Entwicklung in ihrer Region analysieren und Rahmenbedingungen für eine gute Zukunftsentwicklung entwickeln. Die Räte sind demokratisch aus allen Beteiligten der Region von Wirtschaft und Gesellschaft zusammengesetzt, sodass auf diese Weise das Allgemeinwohl zum Zuge kommen kann.

Zur Entwicklung einer wirtschaftsdemokratischen Ordnung gehört auch die Förderung und Unterstützung von Genossenschaften bzw. dem gesamten gemeinwohlorientierten Wirtschaftsbereich. Hier gibt es viele Unternehmen, die unter Beachtung von Zielen zur Steigerung des Allgemeinwohls wirtschaften.

Der Staat als handlungsfähiger Akteur zur Entfaltung des Allgemeinwohls

Das Allgemeinwohl als Grundlage insbesondere der Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordert, dass der Staat auch handlungsfähig ist. Bund, Länder und Kommunen benötigen ausreichend Einnahmen, um das Allgemeinwohl sicher zu stellen. Und wenn es seit geraumer Zeit erhebliche Probleme gibt mit fehlendem bezahlbaren Wohnraum, mangelhafter Infrastruktur, Missstände im Erziehungs- und Bildungs- sowie Gesundheitsbereich und die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft angesichts des Klimawandels sozial gestaltet werden soll, dann ist es ganz offensichtlich, dass die derzeitigen Steuereinnahmen in Höhe von mehr als 900 Mrd. Euro bei weitem nicht ausreichen, um auch nur ein angemessenes Fundament für die Entwicklung des Allgemeinwohls zu schaffen.

Die Schuldenbremse wirkt als Zukunftsbremse und die öffentliche Armut ist angesichts des enormen privaten Reichtums, der bei nur wenigen Familien hochkonzentriert angesiedelt ist, ein Skandal. Die Abschaffung der Schuldenbremse und eine gerechte Besteuerung insbesondere der hohen Einkommen sowie der Millionen- und Milliardenvermögen liegt im Allgemeinwohl, weil es nicht nur der sozialen Gerechtigkeit dient, sondern auch den Staat im Interesse der Allgemeinheit handlungsfähig macht.

Neben einer gerechten Steuerpolitik sollte der Staat bei der Erteilung von Subventionen nach dem Prinzip „Fördern und fordern“ vorgehen. Subventionen für bestimmte Wirtschaftsbereiche können durchaus sinnvoll sein. Wenn eine Regierung sich dafür entscheidet, dann sollte sie auch den Rückfluss regeln. Subventionen werden schließlich erteilt, damit Unternehmen Gewinne erwirtschaften. Und wenn das gelingt, dann kann das Unternehmen aus diesen Gewinnen den Subventionsbetrag ratenweise zurückerstatten. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn die Risiken eines Unternehmens in einer schwierigen Wirtschaftslage sozialisiert werden, aber die späteren Gewinne privatisiert bleiben.

Auch Vergesellschaftung dient grundsätzlich dem Allgemeinwohl. Wenn man hier das Prinzip zugrunde legt, dass elementare Bereiche der Daseinsvorsorge, der Existenzsicherung der Menschen, nicht dem Prinzip der Gewinnmaximierung unterliegen sollten, dann gehören Wohnungen und Energieerzeugung nicht in die Hand von Konzernen, dann dürfen mit Krankheit und Alter keine Gewinne erzielt werden.

Die Lücke zwischen Verfassungsinhalt und Verfassungswirklichkeit zu schließen, bleibt eine große Herausforderung. Das sollten wir nicht vergessen, gerade vor dem Hintergrund, dass derzeit immer wieder von einer „Verteidigung der Demokratie“ die Rede ist.

Uwe Foullong ist ver.di-Gewerkschafter und war Mitglied des Bundesvorstandes von 2004 bis 2011. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Uwe Foullong / Berliner Zeitung:

Dieses ist ein Beitrag aus der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) und darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.