Deutschland verfügt über ein juristisches Element, das nur wenige unserer Nachbarstaaten kennen. Ob wir darauf stolz sein sollen, ist eine andere Frage: In Deutschland darf ein Justizminister auf die Ermittlungen der Staatsanwälte einwirken und Weisungen erteilen, und zwar sogar im Verborgenen. Inwieweit das mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaat und unabhängiger Justiz vereinbar ist, darf bezweifelt werden. Grundgesetzwidrig ist es wohl nicht, denn Art. 97 GG sichert nur die Unabhängigkeit der Gerichte, nicht die der Staatsanwaltschaft. Diese ist ein Teil der Exekutive und nicht der – unabhängigen – Judikative. Verfassungsrechtlich geboten ist ein Weisungsrecht aber wohl auch nicht.

Mit seinem politischen Durchgriffsrecht auf die Staatsanwaltschaft stellt Deutschland in Europa einen Sonderfall dar. Die meisten anderen Rechtsordnungen kennen so etwas nicht. Die Leitenden Oberstaatsanwälte auf Landesebene unterliegen bei uns den Weisungen des Landesjustizministers, und die Bundesanwaltschaft (geleitet durch den Generalbundesanwalt) ist dem Bundesjustizminister unterstellt. Ein Durchgriffsrecht auf die Länderebene hat dieser nicht. Grundlage des Weisungsrechts sind die §§ 146 und 147 des Gerichtsverfassungsgesetzes, das aus dem Jahre 1879 stammt.

Besonders brisant ist, dass die Einflussnahme im Geheimen erfolgen darf. Auch mit Recherchen und Akteneinsicht kann man also nicht herausfinden, wann und wo welche Eingriffe zu wessen Lasten oder Gunsten erfolgten. Das Weisungsrecht könnte beispielsweise ein Grund dafür sein, wenn Ermittlungen gegen deutsche Spitzenpolitiker oder Führungskräfte der Wirtschaft eingestellt werden. Kein Richter braucht sich dann mit dem Sachverhalt zu befassen.

Das Weisungsrecht ist ein mächtiges Instrument. Eigentlich sollten Staatsanwälte unabhängig und frei von externer, z.B. politischer Einflussnahme sein. Aufgrund des Weisungsrechts könnte jedoch ein/e Justizminister/in entscheiden, ob überhaupt weitere Ermittlungen erfolgen, was noch ermittelt werden soll und wie im Zweifelsfall ein Strafgesetz auszulegen ist. Der Übergang zwischen rechtsstaatlicher Kontrolle und politischer Lenkung wird dann schwammig.

Bei solchen Weisungen handelt es sich um Einzelfallanweisungen. Daneben gibt es ein generelles Weisungsrecht. Es beschränkt sich auf den organisatorischen Bereich und wird durch den Oberstaatsanwalt wahrgenommen. Es gilt als wesentliche Voraussetzung für die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung durch die einzelnen Staatsanwälte.

Dass ein ministerielles Weisungsrecht, das keiner Kontrolle unterliegt und nicht anfechtbar ist, zum Missbrauch verführen kann, liegt auf der Hand. In Deutschland ist diese Gefahr wahrscheinlich nicht sehr groß. Wenn man auf andere Staaten schaut, ist das nicht mehr so sicher. Zumal bekannt ist, dass dort nicht selten die Politik der Justiz auch ohne eine entsprechende Berechtigung Weisungen erteilt, konspirativ, aber wirkungsvoll.

Auch in Deutschland ist ein Missbrauch nicht ausgeschlossen. Je nachdem, welche Partei den Justizminister stellt und über welches Berufsethos und welche fachliche Qualifikation dieser verfügt, kann es zu Überraschungen kommen. Dann ist nicht auszuschließen, dass Parteien und Fraktionen oder einzelne Parteimitglieder entsprechenden Druck ausüben. Und wie würde es aussehen, wenn extreme Parteien an einer Regierung beteiligt sind ? 

Wenige Justizthemen sind daher so umstritten wie das externe Weisungsrecht, vor allem, weil es sich auf konkrete Ermittlungen erstreckt.  Doch nur selten hört man Kritik. Es sind nur wenige Fälle bekannt, wo die Politik nachweislich auf laufende Verfahren Einfluss genommen hat. Selbst Spekulationen über mögliche Weisungen des Justizministers findet man kaum. Zuletzt kamen solche Gerüchte anlässlich der Kündigung der Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker auf.

Es ist jedoch nicht so, dass alle Jurist/innen und Politiker/innen diese Regelung angemessen finden. Ende 2023 hatte immerhin der deutsche Richterbund, die größte Richter- und Staatsanwältevereinigung, die fehlenden Unabhängigkeit der Staatsanwälte beklagt und die Justizminister/innen zur Reform bzw. Abschaffung des Weisungsrechts aufgefordert. „Allein der böse Anschein“, so heißt es dort, „dass Minister Ermittlungen aus dem Hintergrund in die eine oder andere Richtung lenken können und Staatsanwälte am Gängelband der Politik laufen, erschüttert das Vertrauen in eine objektive Strafverfolgung.“  

Bereits 2019 hatte die FDP-Fraktion beantragt, das externe Weisungsrecht für Einzelfälle abzuschaffen. Die Grünen brachten kurz darauf einen ähnlichen Antrag ein; sie forderten eine Beschränkung des Weisungsrechts auf evidente Ausnahmefälle. Änderungen gab es jedoch nicht. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung heißt es dann immerhin: „Entsprechend den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) passen wir das externe ministerielle Einzelfallweisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften an.“ Lange Zeit hat sich dann nichts getan, und der Richterbund monierte die Untätigkeit: „Gerade in einer Zeit, in der rechtspopulistische Parteien in Europa vielfach die Machtprobe mit der Justiz suchen, dürfe es keine Einfallstore für einen politischen Missbrauch der Strafverfolgung geben.“ Auch die EU-Kommission rügte die zeitliche Verschleppung.

Der EuGH hatte 2019 festgestellt, dass deutsche Staatsanwaltschaften nicht hinreichend unabhängig gegenüber der Exekutive sind. Sie dürften daher künftig keinen Europäischen Haftbefehl mehr ausstellen, da die Gefahr einer Einflussnahme durch die Exekutive bestehe, etwa durch ein Justizministerium. Nach der Entscheidung des EuGH gab es in Deutschland eine Petition, die §§ 146 und 147 GVG zu streichen und damit das Weisungsrecht abzuschaffen. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags hat das Anliegen als Material an das Bundesjustizministerium verwiesen.

Die Regierung entzog sich der Rüge des EuGH, indem sie verfügte, dass bei europäischen Haftbefehlen zusätzlich ein Richter unterschreiben muss. Zur Kritik des Richterbundes wegen der Verzögerung erklärte das Bundesjustizministerium, ‘man könne sich an keinen Fall aus den vergangenen zehn Jahren erinnern, in dem das Bundesjustizministerium vom Weisungsrecht in Bezug auf konkrete Ermittlungen Gebrauch gemacht hätte.’ Zum Zeitplan wurde nichts gesagt.

Ganz aktuell hat das Bundesjustizministerium jedoch nunmehr den Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Erhöhung der Transparenz von Weisungen gegenüber der Staatsanwaltschaft“ vorgelegt. Das Ministerium will damit „mehr Rechtssicherheit erreichen, eine bessere Nachvollziehbarkeit ermöglichen und dem ‘bösen Anschein’ politischer Einflussnahme entgegentreten.“ 

Der Name des Gesetzes sagt es bereits: Das Weisungsrecht soll nicht abgeschafft, sondern nur transparenter gestaltet werden. Dazu wird gesetzlich festgelegt, unter welchen Bedingungen Weisungen zulässig sind. Dies soll künftig nur möglich sein, „um rechtswidrige Entscheidungen zu verhindern, soweit in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ein Entscheidungs- oder Beurteilungsspielraum besteht und wenn die Staatsanwaltschaft bei einer Frage Ermessen hat.“ Damit soll das Legalitätsprinzip gestärkt, justizfremde Erwägungen sollen ausgeschlossen werden.

Außerdem sieht der Gesetzentwurf eine Dokumentationspflicht vor. Weisungen müssen schriftlich erfolgen und begründet werden. Natürlich kann eine solche Bestimmung missbräuchliche politische Weisungen nicht ausschließen. Sie wird jedoch die Sensibilität bei der Anwendung dieses Instruments stärken, mehr Rechtssicherheit schaffen und die Position der Staatsanwälte verbessern, sich gegen sachfremde Einmischungen zu wehren.  

Die Neue Richtervereinigung forderte Ende April 2024 die völlige Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften, ebenso im Januar die Generalstaatsanwältin von Berlin. Anders argumentiert der Deutsche Anwaltsverein. Er begrüßt die aktuellen Pläne des Justizministers und die Beibehaltung des Weisungsrechts, weil die Staatsanwaltschaft Teil der Exekutive ist.

Die Bundesregierung bekennt sich mit ihrer Gesetzesvorlage dazu, am Weisungsrecht festzuhalten. Sie hält eine letztlich politische-demokratische Verantwortlichkeit für angebracht und beruft sich sogar auf Art. 20 des Grundgesetzes, wonach ‘alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe …. der Rechtsprechung ausgeübt wird.’ In Einzelfällen mögen Weisungen tatsächlich nachvollziehbar sind, z.B. wenn Staatsanwälte übers Ziel hinausschießen oder wenn sie ihre politische Haltung zum Maßstab machen.

Auch wenn das Justizministerium immer wieder betont, dass nur selten vom Weisungsrecht Gebrauch gemacht wird, kann eine Weisung zu unangenehmen Situationen führen: Die Politik erfährt Kritik ob ihres Eingreifens, sie muss sich rechtfertigen. Der Staatsanwalt kommt in den Verdacht, er habe sein Verfahren nicht richtig im Griff. Und die Öffentlichkeit diskutiert wieder einmal über die Unabhängigkeit der Rechtspflege und ihr Vertrauen in das Justizsystem. Ohnehin müssen die Staatsanwaltschaften immer dann mit der Befürchtung eines Eingriffs leben, wenn sie politisch brisante Verfahren übernehmen.

Gewiss hat die Neuregelung Vorteile. Da Weisungen nur in begrenzten Einzelfällen erfolgen und dokumentiert sein müssen, können sich die Staatsanwälte dagegen wehren. Rechtswidrige oder diffuse Weisungen hätten nur noch wenig Chancen. Allerdings ist ein politischer Missbrauch des Weisungsrechts durch die neuen Transparenzregeln nicht zwingend zu verhindern, allerdings nicht mehr zu verdecken.

Der Begriff „Transparenz“ steht zwar in der Überschrift des Gesetzes, jedoch ergibt sich kein klares Bild, ob erteilte Weisungen künftig veröffentlicht werden sollen, ob die angewiesenen Staatsanwaltschaften sie publizieren dürfen, ob die Weisungen zumindest für Abgeordnete zugänglich sein werden und ob Journalisten und andere Interessierte ein Akteneinsichtsrecht wahrnehmen können. Die vorgeschlagenen Änderungen des bisherigen Gesetzestexte und die diesbezüglichen ministeriellen Pressemitteilungen geben dazu keine klare Auskunft.

Bislang wurden Weisungen nicht veröffentlicht, entsprechende Anfragen wurden abgelehnt. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben hierzu 2023 erklärt, dass Einzelfallanweisungen „als innerdienstlicher Vorgang als geschützte Vermerke in einer für Dritte unzugänglichen Handakte oder in Berichtsheften zu dokumentieren sind. Dem Staatsanwalt ist gemäß § 353  b StGB strafrechtlich untersagt, ihm gegenüber erteilte Weisungen Dritten mitzuteilen.“ Bleibt es bei dieser Rechtslage ?

Wenn unser Bundesjustizminister seinen Anspruch auf Transparenz ernst nimmt, sollte er sich am österreichischen Modell ausrichten. Unsere Nachbarn gehören zu den wenigen Staaten, die auch ein Weisungsrecht kennen, sie gehen allerdings damit sehr offen um: Der dortige Bundesminister für Justiz „hat dem Parlament jährlich über die erteilten Weisungen in abgeschlossenen Ermittlungsverfahren zu berichten.“ „Weisungen dürfen nur schriftlich und mit Begründung ergehen. Außerdem muss eine Weisung im Strafakt ersichtlich gemacht werden.“ „Der Bundesminister …. ist dem Parlament zur Auskunft und Rechenschaft verpflichtet.“

Die Berichte sind keine Formalität! Der Weisungsbericht 2021, der die Jahre 2014 bis 2021 behandelt, ist fast 170 Seiten stark. 31 Weisungen wurden erteilt, darunter 15 auf Einleitung bzw. Fortsetzung von Verfahren und je einer auf Einstellung, auf Anwendung einer anderen Rechtsgrundlage und auf Einlegung von Rechtsmitteln. Die anderen Weisungen liefen unter „Sonstiges“.

Die einzelnen Verfahren werden ausführlich und unter Nennung vieler Details geschildert. Nur die Namen der Angeklagten bleiben vertraulich, Insider können sie jedoch entschlüsseln. Das erste Kapitel beschreibt auf acht Seiten ein Verfahren zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption. Genannt wird u.a. die betroffene Branche, die vermutliche Höhe der Bestechung, Einzelheiten der Ermittlung, die Frage einer Immunitätsaufhebung, die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung gegen Zahlung einer Geldbuße und der Hinweis, dass sich das Verfahren gegen Regierungsmitglieder bzw. öffentliche Bedienstete und Parteifunktionäre richtet.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.