Entsteht gegen die Rechtsregierung eine neue Arbeiter*innenbewegung?
Die Gewerkschaftsapparate haben der Verarmungspolitik der peronistischen Regierungen in den vergangenen Jahren kaum etwas entgegengesetzt und auch gegen die neue rechte Regierung haben sie bislang mit zwei halbherzigen Generalstreiks nur zögerlich mobilisiert. Große Proteste gingen von Beschäftigten und Studierenden an den Universitäten aus. Gegen den Kahlschlag im öffentlichen Bildungswesen gelang ihnen eine breite Mobilisierung.
Seitdem der ultrarechte Javier Milei am 10. Dezember 2023 das Präsidentenamt angetreten hat, befindet sich Argentinien in einer ebenso beunruhigenden wie schwindelerregenden politischen und wirtschaftlichen Spirale, deren Ausgang ungewiss ist. Der Triumph Mileis erfolgte 40 Jahre nach der Rückkehr des Landes zur Demokratie nach der letzten und blutigsten Diktatur (1976-1983) in der bisherigen Geschichte des Landes. Paradoxerweise leugneten Milei und seine Sympathisant*innen genau an diesem Jahrestag den Staatsterrorismus von Militärs, Unternehmer*innen, Kirche und Politiker*innen. Sie stellten die Zahl der Repressionsopfer und Verschwundenen infrage und forderten eine „vollständige Wahrheit“, wobei neben anderen Verdrehungen linke Aktivist*innen der 1970er-Jahre als „Verbrecher“ bezeichnet wurden. Argentinien, das als Musterland für den Kampf um Menschenrechte galt und weltweit bekannt war für die Prozesse gegen die für die Massaker verantwortlichen Militärs, wird heute von einer politischen Kraft regiert, die genau für das Gegenteil steht.
Durch die Unterstützung der PRO-Partei („gemäßigte“ rechte Partei des früheren Präsidenten Macri) gewann Milei im zweiten Wahlgang mit mehr als 55 Prozent der Stimmen. Der Gegenkandidat Sergio Massa war Wirtschaftsminister der peronistischen Regierung von Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner (2019-2023), deren Strömung als Kirchnerismus oder Progressismus bezeichnet wird. Die Regierung mit dem ursprünglich neoliberalen Massa ließe die Armutsquote auf über 40 Prozent ansteigen und betriebe eine Politik, die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verschlechterte, bis hin zu einer unerträglichen Inflation. Die Gewerkschaften, die traditionell peronistisch orientiert sind, unternahmen nichts dagegen. Ein Teil dieser Bedingungen führte zusammen mit Korruptionsfällen zu einem Überdruss bei den unteren Schichten.
Der rechte Milei, der seinen Wahlkampf mit dem Bild einer Kettensäge betrieb, die bei der „politischen Kaste“ brutal kürzen würde, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Inflation zu beenden, wurde für sie zu einer Option. Die brutalen Einschnitte betreffen nun aber die Arbeiterklasse und nicht etwa die politische Kaste.
Gewerkschaften gegen Milei
Bei seinem Amtsantritt schickte Milei dem Parlament das Gesetzespaket „Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“, das in seinem Kapitel zum Arbeitsrecht den größten Angriff auf die Arbeitsbedingungen in Argentinien seit der Umsetzung der neoliberalen Reformen des Peronisten Carlos Menem (1991-1989) vorsieht. Kürzung der Renten und Erhöhung des Renteneintrittsalters, Abschaffung der Gewerkschaftsbeiträge, Angriff auf die Arbeitsplatzsicherheit, Verlängerung der Probezeit, Abschaffung des Demonstrationsrechts – das Spektrum der vorgeschlagenen Maßnahmen ist so breit und aggressiv, dass es nach Mileis eigenen Worten an die Inspiratorin dieser Maßnahmen erinnert: Margaret Thatcher, die er zweifellos zu übertreffen versucht. Milei versicherte in mehreren internationalen Foren, dass seine Sparpolitik „die stärkste und schnellste der Geschichte“ sei.
Wie haben die argentinischen Gewerkschaften reagiert? Die CGT, die seit den 1940er-Jahren von einer stabilen Bürokratie beherrscht wird, die mit allen peronistischen Regierungen, einschließlich der von Menem, auf einer Linie lag, hat zwei Generalstreiks ausgerufen. Am 26. Februar dauerte der Streik kaum einen halben Tag, mobilisiert wurden nur die Gewerkschaftsführungen. Am 9. Mai wurde das Land lahmgelegt, aber es gab kaum Aufrufe zur Mobilisierung. Die Aktionen der Gewerkschaft sind klar: Sie beschränkt sich darauf, die eigene Macht zu bewahren (Gewerkschaftsbeiträge, Branchentarifverträge), mit Senatoren und Abgeordneten zu verhandeln, die Kämpfe zu zersplittern und die Entscheidungsfindung auf einen engen Kreis von Gewerkschaftsführern zu konzentrieren, von denen die meisten Verbindungen zu Unternehmen und Investoren haben.
Der Rest der Arbeiterklasse, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, hat es, wenn auch nur langsam, geschafft, die von der CGT erzwungene Demobilisierung von unten zu durchbrechen. Von Entlassungen und Privatisierung betroffene Staatsbedienstete, aber auch die Beschäftigten der staatlichen Nachrichtenagentur TELAM, die Professor*innen der nationalen Universitäten und die Wissenschaftler*innen des staatlichen Wissenschafts- und Technologieinstituts CONICET, die Milei schließen will, gingen auf die Straße. Neben den beiden Generalstreiks war der Protest der Studierenden und Wissenschaftler*innen der Universitäten am 23. April der größte. Hunderttausende Studierende, Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen demonstrierten, Gewerkschaften und soziale Bewegungen schlossen sich an. Diese Massenmobilisierung wurde weltweit wahrgenommen. Aufgrund von Haushaltskürzungen im öffentlichen Bildungswesen sind die meisten Universitäten von der Schließung bedroht. Diese sind aber in der Geschichte Argentiniens und bis heute das wichtigste Mittel für die soziale Mobilität. Der Aufruf kam auch „von oben“, von Rektoren und Gewerkschaftsführern, und wurde von einer Studierendenbewegung begleitet, die hochgradig bürokratisiert ist, aber die Organisatoren wurden von der Massenbewegung überrannt. Dies macht Hoffnung auf eine potenzielle Widerstandsbewegung, auch wenn sie noch weit entfernt ist. Hier setzt die aktuelle Debatte der angeschlagenen argentinischen Arbeiterklasse an.
Den Konsens brechen
Der letzte Protestzyklus in Argentinien fand Ende der 1990er-Jahre statt und explodierte im Dezember 2001: Organisierte Arbeitslose (Piqueteros), Stadtteilversammlungen, Arbeiter*innen übernommener Fabriken und klassenbewusste Gewerkschaften gingen auf die Straße und stürzten in weniger als zwei Jahren fünf Präsidenten. Die Stärke der Mobilisierungen erreichte zu Beginn des neuen Jahrhunderts ihren Höhepunkt und wurde mit einem Parolengesang auf den Punkt gebracht: „Sie sollen alle abhauen, kein einziger von ihnen soll bleiben.“ Nach der Repression im Juni 2002, bei der die beiden Piquetero-Aktivisten Maximiliano Kosteki und Darío Santillán ermordet wurden, ging die Mobilisierung langsam zurück. Das politische System stabilisierte sich mit den (peronistisch-kirchneristischen) progressiven Regierungen, die viele Anführer*innen der Bewegungen kooptierten und den „Rückenwind“ nutzten, den die hohen Preise für exportierbare Rohstoffe, vor allem Soja, für Deviseneinnahmen boten. Der wirtschaftliche Aufschwung auf der Grundlage der vorangegangenen Flexibilisierung der Arbeit und ein Narrativ, das die Kämpfe der Menschenrechtsorganisationen nutzte, um die demokratische Ordnung von staatlicher Seite aus zu legitimieren, führte zu einer langsamen Demobilisierung und Bürokratisierung der Bewegungen, die auf der Straße protestiert hatten.
Die Linke, deren Stärke ihre bewundernswerte Bereitschaft zu Straßenkämpfen gewesen war, hatte Schwierigkeiten, Alternativen „ohne Partei“ für den massenhaften Aktivismus zu finden. Nur die Einheit der linken Parteien mit trotzkistischem Hintergrund (Frente de Izquierda y de los Trabajadores, FIT) konnte eine parlamentarische Vertretung konsolidieren, was eine weltweite Ausnahme im allgemeinen Rückzug der radikalen Linken darstellte. Das Ergebnis war einerseits ein kleiner, harter, stark ideologisierter Kern und andererseits eine große Masse junger Menschen, die einen Prozess der Entpolitisierung erlebten, der sich mit dem Scheitern der letzten peronistisch-progressiven Regierung von Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner noch verstärkte. Angesichts einer Politik, die keine Verbesserungen brachte und die Rekordinflation nicht in den Griff bekam, die die Löhne und materiellen Grundlagen der großen Mehrheit angriff, breiteten sich Frustration und Überdruss aus. Dies ebnete allmählich den Weg für den Aufstieg eines exotischen und trotzigen Rechtsaußen, der unter dem Banner eines unentzifferbaren „Anarchokapitalismus“ segelt.
Hat die argentinische Gesellschaft einen Rechtsruck vollzogen oder ist sie in der Falle der bürgerlichen Demokratie gefangen? Hat Milei einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung, weil er die Möglichkeit eines drastischen Wandels darstellt, die permanente Inflation, die das argentinische Volk plagt, von Grund auf anzugehen, auch wenn dies nur durch harte Sparmaßnahmen gegen die Bevölkerung selbst erfolgen kann? Sicher ist, dass die bürokratisierten Gewerkschaften, die als Teil der „politischen Kaste“ angesehen werden, bei denen, die sie vertreten, an Legitimität verloren haben und dass die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Streiks und Mobilisierungen infrage steht, obwohl sie fortbestehen und weiterhin große Unterstützung erfahren. Man könnte denken, dass die argentinische Arbeiterklasse heute die größte Herausforderung ihrer epischen Geschichte erlebt: Eine ultrarechte Regierung mit sehr großer Unterstützung in den unteren Schichten greift ihre Machtbasis (die Gewerkschaften) an und zerstört sie und kommt mit dem paradoxen Konsens durch, dass die da unten für die Anpassungsmaßnahmen zahlen müssen.
Milei hat öffentlich erklärt, dass er Margaret Thatcher bewundert, die auch als Symbol für die argentinische Niederlage im Malwinen-Krieg (1982) steht. Auf diese Provokation gab es noch keine Antwort. Mit seiner Bewunderung für Thatcher will er jedoch nicht den argentinischen Nationalismus provozieren. Thatcher war eine Pionierin darin, den Widerstand der Arbeiter*innen zu brechen und den Übergang von einer Form der Kapitalakkumulation mit hohen Löhnen und sozialer Sicherheit zu einer wesentlich stärker der Marktdisziplin unterworfenen Form durchzusetzen. Aus dem gleichen Grund bewundert Milei auch Ronald Reagan und Carlos Menem. Die Frage ist nun: Stehen wir vor einem epochalen Wandel, der so groß ist, dass er das Ende der Gewerkschafts- und Protesttradition in dieser Region der Welt bedeuten könnte, oder befinden wir uns in einer Zeit des Abwartens und einer noch unsichtbaren Akkumulation sozialer Kräfte, in der uns eine neue Generation ein erneutes Spektakel sozialer Kämpfe bieten wird, das die aggressivste und rechteste aller demokratisch gewählten Regierungen stürzen wird?
Fernando Aiziczon ist Historiker und arbeitet am staatlichen Wissenschaftsinstitut Conicet. Übersetzung: Alix Arnold. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 476 Juni 2024, hrsg, und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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