“Wo wir sind, ist oben” – wichtiges Sujet, aber …

mit Update 16.6.

Vor drei Jahren machte das ZDF bereits einen Versuch mit “Die Lobbyistin”, mit Rosalie Thomass in der Hauptrolle prominent besetzt. Es war ein Realismus-Versuch, an dem nicht alles missglückt war. So bewerte ich auch die erste Halbzeit (= 4 von 8 Folgen) von “Wo wir sind ist oben”. 1 Jahr verfügbar. Das Degeto-Süssholz ist eine schlimme Belastung

Die ARD-Degeto, Produktionstochterfirma der ARD, ist berüchtigt für ihre Tendenz zur Standardisierung und Industrialisierung von kreativer Arbeit. Vor Jahrzehnten nannte das ein Medium angemessen giftig “Süssholz-Offensive”. Der Begriff charakterisiert die Geringschätzung des dummen/doofen Publikums durch die, die ihm was zum billigen Konsum vorsetzen. Nichts darf (zu sehr) wehtun, nichts darf un- oder schwer verständlich sein. Zum Nachdenken anregen? Dafür gibts doch Arte und 3sat.

Diese „Degetoisierung“ wirkt sich auf “Wo wir sind ist oben” so aus, dass die Story als Duell, wie ein Tennismatch zwischen zwei gegeneinander antretenden Lobbyist*inn*en erzählt wird. Das nehme ich übel, weil es Gaga ist. Davon abgesehen ist das Buch zu loben. Die Themen von Klimaschutz/Energie bis Roboter-Altenpflege sind zeitgemäss gewählt, die Kontroversen und das Lobbyist*inn*enhandwerk – im Rahmen der notwendigen dramaturgischen Verdichtung – ist realistisch erfasst, kippt nicht in Klamauk um. Die gezeichneten Politiker-Karikaturen sind leider, leider nicht weit weg von der Wahrheit.

Schlimm finde ich allerdings die glattpolierte Bildsprache. Das gezeichnete Stadtbild von Berlin und die Typisierung der Menschen, die in ihr rumlaufen, ist pure Fantasie. Der Gegensatz zwischen der eingekapselten Hauptstadtblase und der bösen gesellschaftlichen Realität ausserhalb – in dieser Fiktionalisierung existiert er nicht. Das ist regelrecht schlecht.

Dafür wird ausgiebig in teuren glattpolierten Restaurants rumgesessen und gesoffen (immerhin ist eine Hauptrolle bekennender Alkoholiker), Frau Kriener darf als Seniorenlobbyistin überall helmutschmidtartig rauchen, wo es verboten ist. Das soll wohl lustig sein.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Diese Bildsprache zieht die Stärken des Drehbuches eine ganze Liga tiefer. Verschenkt.

Update 16.6.

Zum Vergleich die FAZ-Kritik von Heike Hupertz (mit Safari eingemauert, mit Firefox paywallfrei), die eine weit schwächere 2. Halbzeit androht: Willy Brandts Kniefall war deine Idee? – In der Serie ‘Wo wir sind, ist oben’ liefern sich zwei Lobbyisten im politischen Berlin einen Kampf um Einfluss, Glamour und Macht. Das ist unterhaltsam bis fast zuletzt.”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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