Westliche Kriegserzählungen – Über einen Artikel der New York Times zu den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine 2022

„Und sie bewegt sich doch“ (Galileo Galilei). Die New York Times brach ihre Mauer des Schweigens zu den Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühling 2022. Sie veröffentlichte Verhandlungsdokumente, die sie für authentisch hält. Diese Verhandlungen spielten in der breiten öffentlichen Diskussion in Nato-Staaten kaum eine Rolle, denn sie entblößen westliche Kriegsnarrative als das, was sie sind – reine Fiktionen.

Obwohl sich die NYT viel Mühe gab, nicht das ganze westliche Märchenporzellan zu zerschlagen – jede Menge davon ging zu Bruch. Es beginnt damit, dass Putin nicht verhandeln wolle. Die NYT lieferte nun den Gegenbeweis. Behauptungen, wie Russland wolle die Ukraine vernichten, es könne keine Demokratie in der Nachbarschaft ertragen, die Nato-Mitgliedschaftsoption für die Ukraine habe nichts mit dem Krieg zu tun, wurden ebenfalls entlarvt. Es war kein unprovozierter Krieg. Mit dem Verhandlungsscheitern wurde er zum verlängerten Krieg, entblößte seinen Stellvertretercharakter vollends.

Denn die NYT bestätigte bisherige Verlautbarungen ukrainischer Verhandlungsteilnehmer: Der Dreh- und Angelpunkt des russischen Interesses war es, die Neutralität der Ukraine zu erreichen. Von der Ukraine sollte keine militärische Gefahr für Russland ausgehen. Wörtlich hieß es in der NYT:

“Ukraine made a significant concession: it was ready to become a “permanently neutral state” that would never join NATO or allow foreign forces to be based on its soil. The offer seemed to address Mr. Putin’s core grievance — that the West, in the Kremlin’s narrative, was trying to use Ukraine to destroy Russia.”

Egal, welche Formulierung die NYT einschränkend wählte, damals wurde nicht um ein Narrativ verhandelt. Es ging um Interessen, und die Ukraine machte das Angebot, zumal die NYT auch den Eindruck wiedergab, der russische Präsident habe sich mit allen Verhandlungsdetails persönlich befasst (Mikro-Management). Vergleichbares schrieb sie nicht über den ukrainischen Präsidenten. An einer Stelle hieß es allerdings, es sei nicht ganz klar gewesen, mit welcher Legitimation beide Seiten verhandelt hätten.

Es wäre um die „einseitige Demilitarisierung“ der Ukraine gegangen, so schätzte ein US-Beobachter gegenüber der NYT diese Verhandlungen ein. Gestritten wurde über die Zahl und die Reichweite von Geschützen. Andere russische Forderungen betrafen die Gleichberechtigung der russischen Sprache in der Ukraine. Ihre etwaige EU-Mitgliedschaft war kein Streitpunkt.

Was war die Sollbruchstelle?

Wie oft wurde behauptet, die Verhandlungen seien wegen des mutmaßlichen Kriegsverbrechens von Butscha abgebrochen worden? Auch das war eine Zwecklüge. Die Verhandlungen gingen weiter, bis zum 15.04. Die Zahl der Streitpunkte reduzierte sich. Allerdings war die NYT sehr vage, was nun genau die Verhandlungen zum Scheitern brachte. Laut Aussagen von ukrainischen Delegationskreisen, mit denen sich die NYT nicht beschäftigt, änderte der ukrainische Präsident im April 2022 seine Meinung. Über ein paraphiertes Dokument im Ergebnis der Verhandlungen von Istanbul am 29. März 2022, über die anschließende Champagner-Laune in der ukrainischen Delegation, von der Ukrainer öffentlich sprachen, schrieb die NYT nicht.

Die NYT suggeriert, dass schlussendlich eine Garantieklausel, die die ukrainische Seite einforderte, zur Sollbruchstelle wurde. Russland hätte ein Vetorecht gefordert. Ausweislich der veröffentlichten Dokumente enthielt der Verhandlungsstand allerdings außerdem eine Verpflichtung Russlands, die Ukraine nicht militärisch anzugreifen. Hätte Russland diesen Vertrag verletzt, wäre auch das von der NYT hervorgehobene beanspruchte Vetorecht Russlands obsolet geworden. Wie schade, dass die NYT auch den israelischen Ministerpräsidenten Bennett aus der Geschichte aussparte, der sich in einem sehr langen öffentlichen Interview zu seiner Sichtweise auf die Verhandlungen geäußert hatte. Der sah die Schuld für das Verhandlungsscheitern beim Westen.

Aber immerhin erwähnte die NYT das Nato-Spitzentreffen vom 24. März 2022. Dort sei der Verhandlungsstand besprochen worden. Der polnische Präsident hätte dort einen Entwurf vom 17. März 2022 hochgehalten und gefragt, welcher den Anwesenden ein solches Verhandlungsdokument unterschreiben würde. Keiner habe sich gemeldet, sagte ein Augenzeuge der NYT. Im Artikel hieß es, Polen sei besorgt gewesen, dass Frankreich und Deutschland die Ukraine zu einer Verhandlungslösung drängen könnten und wollte das verhindern. Im Original: “Leaders in Poland — early and strong supporters of Ukraine — feared that Germany or France might try to persuade the Ukrainians to accept Russia’s terms, according to a European diplomat, and wanted to prevent that from happening.”

In der offiziellen Nato-Erklärung dieses Tages ist davon keine Rede. Sie enthält eine Passage zu den Verhandlungen. Russland wurde aufgefordert, sein Interesse an ernsthaften Verhandlungen zu demonstrieren, sich bei den Verhandlungen um konkrete Resultate zu bemühen, mit einem nachhaltigen Waffenstillstand zu beginnen und sich Zug um Zug aus ukrainischem Territorium zurückzuziehen. Die ukrainischen Anstrengungen um Frieden werden unterstützt, wie auch die diplomatischen Bemühungen der Alliierten, Russland auf ein Kriegsende zu drängen.

Im Original: „Russia needs to show it is serious about negotiations by immediately implementing a ceasefire. We call on Russia to engage constructively in credible negotiations with Ukraine to achieve concrete results, starting with a sustainable ceasefire and moving towards a complete withdrawal of its troops from Ukrainian territory. Russia’s continuing aggression while discussions are taking place is deplorable. We support Ukraine’s efforts to achieve peace, and those undertaken diplomatically by Allies to weigh in on Russia to end the war and relieve human suffering.“

Die NYT ging der Frage nach, ob Russland womöglich die Verhandlungen nur benutzt hätte, um Zeit zu gewinnen und sich militärisch neu zu formieren. Nach einer US-Quelle hätte man Putins Intentionen nicht klar einschätzen können. Nach zwei von drei ukrainischen Verhandlungsteilnehmern wäre es Putin ernst gewesen mit einem verhandelten Ergebnis. Gleichzeitig unterstrich die NYT, dass es der Ukraine gelungen war, im Verlauf der Verhandlungen russische Maximal-Forderungen deutlich abzuschwächen. Das entspricht öffentlichen Äußerungen des damaligen Chefs der ukrainischen Verhandlungsdelegation – es ging Russland primär um die Neutralität der Ukraine.

Zum aktuellen Verhandlungsvorschlag von Putin (Neutralität der Ukraine, Verhandlungen auf der Basis der Realitäten, sprich der Einverleibung von vier ukrainischen Gebieten in russisches Staatsgebiet) zitierte die NYT den ukrainischen Außenminister, der Putin zum Lügner stempelte, dem man nichts glauben dürfe. Die westliche Politik, einschließlich des deutschen Bundeskanzlers, verwarf dieses Angebot Russlands umgehend. Die zelebrierte lieber eine „Friedenskonferenz“, auf der Russland (immerhin Kriegspartei) keinen Platz hatte. Aber das nur am Rande.

Der Artikel der NYT befasste sich ebenfalls nicht mit dem Besuch des britischen Premiers Johnson am 9. April 2022 in Kiew. Er sparte auch die Frage aus, warum es zum teilweisen russischen Truppenabzug nach den Verhandlungen von Istanbul 2022 kam.

Abzug vor Kiew – Blutvergiessen in Mariupol

Das stellt die Frage, ob es der Nato am 24. März 2022 mit ihrer Aufforderung an Russland, ernsthaft zu verhandeln, tatsächlich noch ernst war? Der NYT-Artikel sät an dieser Stelle Zweifel. Gleiches gilt für die Aufforderung nach einem Waffenstillstand und einem russischen Truppenabzug aus der Ukraine. Zum Zeitpunkt dieser Beschlussfassung waren russische Panzer vor Kiew in kilometerlanger Schlange aufmarschiert. Sie saßen dort, in unbeweglicher monströser Kolonne, wie auf einem Präsentierteller, bereit zum Abschuss, wenn die Ukraine die nötigen militärischen Mittel gehabt hätte. Sie hatte sie nicht mehr. Parallel dazu war längst Mariupol eingekesselt. Vom Raum um Kiew ist Russland abgezogen, aber in Mariupol wurde gekämpft bis aufs Blut, mit dem bekannten Ergebnis. Mariupol fiel im Mai 2022. In Mariupol gab es schon 2014 Kämpfe, als Teil der ATO. Immer war die Asow-Truppe dabei.

Entgegen der Nato-Forderung gab es also keinen Waffenstillstand, wohl aber einen teilweisen russischen Truppenabzug. Die NYT ließ offen, warum genau. Putin erklärte, dazu hätten ihm Deutschland und Frankreich geraten. Es ist doch sehr merkwürdig, dass das heute vom Kanzler qua Regierungssprecher zurückgewiesen wird, obwohl das der offiziellen Nato-Erklärung vom 24.3.2022 am nächsten kommt. Stattdessen wurde diese russische Geste, die von ukrainischen Medien ausdrücklich in Verbindung mit den Istanbul-Verhandlungen gebracht wurde, öffentlich als russisches „Schwanzeinziehen“ gewertet, als Zeichen einer unfähigen und maroden russischen Armee, und so fiel die ukrainische Niederlage in Mariupol nicht weiter auf.

Was aber war dann genau das westliche Stimmungsbild jener Tage? Welche Rolle spielte der damalige britische Premier Boris Johnson beim Scheitern der Verhandlungen? Er wird im NYT-Artikel nicht erwähnt, ebenso wenig wie der US-Präsident, dem der Wunsch nach regime change am 26. März 2022 in Warschau entschlüpfte.

Die Frage nach der Funktion des Besuches von Johnson in Kiew am 9. April 2022 beschäftigte den britischen Bürger Se Taylor. Daher stellte er über eine Transparenzorganisation (What do they know) ein öffentliches Auskunftsersuchen und forderte die Offenlegung der vorbereitenden Unterlagen zur Kiew-Reise des damaligen britischen Premierministers Johnson. Dieses Transparenzersuchen wurde im Wesentlichen aus Gründen der nationalen Sicherheit zweimal abgelehnt, so als wäre diese Reise eine Art britischer „Nord Stream“-Sabotageakt. Herrn Taylor wurde nur der link zur öffentlichen Pressekonferenz in Kiew zugestellt.

Es darf keine Verhandlungslösung geben

Aber im Hin und Her der offiziellen Korrespondenz trug Taylor ihm bekannte öffentliche Aussagen des damaligen britischen Premierministers zusammen. In kondensierter Form bedeuten sie: Mit Russland wird nicht verhandelt. Es darf keine Verhandlungslösung geben, die das russische Kriegs-Narrativ stützt. Mit westlicher Hilfe wird die Ukraine den Krieg militärisch gegen Russland gewinnen. Sie muss das allerdings militärisch allein ausfechten und dafür auch Blut vergießen. Ansonsten wird Großbritannien die Ukraine „1000 Prozent“ unterstützen. Das ist die Strategie „Siegfrieden“. Bevor sich die Ukraine diese Strategie öffentlich auf ihr Banner schrieb, war es der Westen, der sie verfolgte.

Nach der Veröffentlichung in der NYT bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass es die USA und Großbritannien waren, die die verhandelte Lösung auf keinen Fall wollten. Ein schnelles Kriegsende passte nicht in den Plan, die Gelegenheit zu nutzen, um Russland zu „ruinieren“. Überdies wäre ihnen sonst die Ukraine als militärischer Nato-Spielplatz gegen Russland abhandengekommen. Oder, wie es im Mai 2024 der US-Historiker Timothy Snyder in Tallinn auf der Lennart-Meri-Konferenz formulierte: „Die Ukraine erfüllt die Mission der gesamten Nato.“

Im Fall Deutschlands und Frankreichs ist meines Erachtens die Lage etwas komplizierter. Sie wollten Russland mittels Wirtschaftssanktionen erledigen und haben womöglich anfänglich nicht begriffen, dass sie sich dadurch als Anwälte einer verhandelten Friedenslösung selbst aus dem Spiel nahmen. Sie wurden Partei in einem miesen Spiel, in dem der Westen seine Karten ständig überreizte. Das war und ist kein Grand mit Vieren, den man unglücklich mit 60 verliert. Das war und ist – um beim Skat zu bleiben – allenfalls einer mit dem Kreuzbuben allein und ein paar Assen, aber vollmundig wurden Schneider und Schwarz angesagt.

Kiew strampelte 2022 am längsten und versuchte die Quadratur des Kreises zwischen Verhandlungswillen, westlichem Druck und russischer Aggression. Bis es ebenfalls beschloss, an den eigenen militärischen Sieg über Russland zu glauben. Nachgeholfen haben dürfte dort, dass die extremen ukrainischen Nationalisten Russland mehr hassen als sie den Krieg fürchten. Die hatten spätestens Anfang 2020 den ukrainischen Präsidenten unter ihre Kontrolle gebracht. Ich glaube, das gezielte Leak der Aufforderung von Johnson an Selenskyj, um Sieg zu kämpfen (5. Mai 2022), war der letzte Akt eines Stellvertreter-Kriegers, sich dieses elende Los zu ersparen und das eigene Leben zu retten. Denn seit 2019 ist klar, dass Selenskyj von den Nationalisten im Fall eines „Verrates“ an der Ukraine nichts anderes zu erwarten hat, als am nächsten Baum aufgehängt zu werden. Diese Leute meinen, was sie sagen.

Seitdem agiert Selenskyj in neuer Rolle als unversöhnlicher und sehr tapferer ukrainischer Feldherr, der angeblich für die Freiheit der Welt kämpft. Angefangen mit Bachmut, wo er die Niederlage nicht akzeptieren wollte, jagt er die ukrainische Armee in jeden „Fleischwolf“, zu dem das russische Militär einlädt. Sein derzeitiger militärischer Oberkommandierender macht willig mit.

Aktuell spricht Selenskyj vom Dauerkrieg. Was nicht 2024 gelingt, wird 2025 oder 2026 gelingen, oder in einem folgenden Jahr: der militärische Sieg über Russland. Die estnische Ministerpräsident Kaja Kallas äußerte sich in einer Gesprächsrunde der Lennart-Meri-Konferenz ebenfalls dazu, was ein Sieg über Russland bringen soll: die völlige Zerschlagung des Vielvölkerstaates. Es entstünden viele neue kleine Staaten. Das sollte man nicht fürchten. Der polnische Präsident plädierte in der Schweiz für die „Dekolonialisierung“ Russlands, das ein „Gefängnis“ von 200 Nationen sei. So reißen sich die angeblichen Anwälte von Demokratie und Werteverteidigung selbst die Masken vom Gesicht.

Boris Johnson ist nicht mehr im Amt. Der, der die Strategie „Siegfrieden“ für richtig hielt (oder dessen Berater) und persönlich auf regime change in Moskau setzt, stellt sich in den USA im November zur Wiederwahl, wenn nicht die US-Demokraten auf ihrem Konvent in Chicago in letzter Minute die Reißleine ziehen und jemanden nominieren, der ihre Siegeschancen wieder erhöht.

Der deutsche Kanzler indes, der ursprünglich auf Sanktionen und Verhandlungen setzte, sang kürzlich das Loblied des Joe Biden. Er sang es so laut, dass es die Washington Post in einem Meinungsartikel aufgriff, geschrieben von einer treuen Anhängerin des amerikanischen „Exzeptionalismus“, Jennifer Rubin. Die Essenz dieses Artikels verbreitete die Washington Post auf X wie folgt: “American voters should be forewarned. They cannot be in favor of both American ‘exceptionalism’ and Trump; they cannot celebrate our superpower status and then cheer the candidate who would undermine it.”

Übersetzung: “Die amerikanischen Wähler sollten vorgewarnt sein. Sie können nicht sowohl für den amerikanischen ‘Exzeptionalismus’ als auch für Trump sein; sie können nicht unseren Supermachtstatus feiern und dann den Kandidaten bejubeln, der ihn untergraben würde.”

Scholz machte so am Rand des G7-Treffens, wie die FAZ fand, „Pressearbeit für Biden“. Sie sah das äußerst kritisch. Aber der Kanzler agierte nicht nur als „Pressesprecher“. Wie Rubin korrekt bemerkte, er machte sich zum hegemonialen Steigbügelhalter. Er glaubt womöglich auch noch, dass Biden „weiß, was er tut“. Hat er keine Augen und Ohren? Sieht er nicht mehr den Zusammenhang zwischen neokonservativer Kriegsbegeisterung, der Hinfälligkeit des US-Präsidenten und dem niedergehenden Imperium? Und all das, obwohl die EU lernen wollte, auf eigenen globalpolitischen Füßen zu stehen, unser sogenanntes „Team Europe“? Welche Versicherungen wird der deutsche Bundeskanzler demnächst abgeben?

Dass im Ukraine-Krieg alles nach Plan läuft? Dass die immer schwieriger werdende Lage der Ukrainer in Wahrheit nur eine Kriegslist ist? Dass die Ukraine militärisch wiedergewinnen kann, was sie längst verloren hat, und es keine Verhandlungen geben darf um die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine? Denn diese, der Zankapfel von Anfang an, sei gar kein Zankapfel, aber auch nicht verhandelbar…

Der verhängnisvollste Fehler der Nachkriegszeit

1997 schrieb einer der bedeutendsten US-Diplomaten, George Kennan in der NYT, die Nato an die Grenzen Russlands zu verschieben, wäre „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit”. Er hielt es für fatal, die europäische Diskussion wieder darauf zuzuspitzen, wer mit wem militärisch alliiert ist. Allein, nicht nur die USA haben damals diesen verhängnisvollen Weg eingeschlagen. Sie hatte Verbündete, und auch die Bundesrepublik Deutschland war aktiv beteiligt.

Ob die Ukraine immer noch an die „offene Tür“ der Nato glaubt? Der Pressesprecher des Weißen Hause, Admiral Kirby, antwortete auf die x-te Frage eines Journalisten, wie das mit einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nun aussehe, ganz kühl: Jetzt nicht. Erst, wenn die Ukraine den Krieg gegen Russland gewonnen hat. Danach ginge es aber „über eine lange Zeit“ darum, dass sich die Ukraine selbst verteidigen kann. Das sei der Sinn des Sicherheitsabkommens (Anmerkung: es ist nicht vom Kongress gedeckt und daher durch jeden Präsidenten änderbar). Zudem müsse die Ukraine auch das Korruptionsproblem in den Griff kriegen. Aber die Zukunft der Ukraine liege doch in der Nato.

Aktuell gibt es in der Ukraine tägliche blackouts, weil die Stromversorgung nicht mehr zuverlässig funktioniert. Das Land kann seine Gläubiger von Staatanleihen nicht mehr auszahlen und braucht immer wieder frisches Geld. Im Regierungsapparat in Kiew knirscht es gewaltig und hinter den Kulissen, so die FT, seien alle sehr besorgt. Da der Rüstungsmarkt nicht anders funktioniert als andere Märkte auch, steigen die Preise für Waffensysteme zum Teil ganz drastisch, bis um das Fünffache. Angebot und Nachfrage sind aus dem Gleichgewicht, und die Zeit der billigen Energie ist auch vorbei. Das alles sollen die EU-Bürgerinnen und Bürger brav bezahlen, während in der Ukraine das Schlachten weitergeht, und sich Wehrpflichtige verstecken, um nicht an die Front gezerrt zu werden und dort sterben zu müssen. Die BBC berichtete kürzlich über die verzweifelte Lage der Ukraine (unterlegen bei Soldaten und Waffen). Der Bericht befasste sich nicht nur mit Kämpfern in Frontstellungen. Wie nebenbei zeigte er die ganz untypische Menschenleere in Kiew, dort am Fluss, wo man früher flanierte.

Wie soll die ukrainische Wirtschaft den Spagat meistern zwischen dem Durst nach Frontsoldaten und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens?

Keine Sorgen machen?

Der Petro-Dollar ist Geschichte, die russisch-chinesischen Beziehungen enger denn je, die BRICS international attraktiv. Mit dem Griff auf die Zinsen eingefrorener russischer Staatsanleihen schlachtet der Westen nun die heilige Kuh des Kapitalismus, den Schutz des Kapitals und demonstriert nebenbei, was „regelbasiert“ heißt: Euer Geld ist in unserem Finanzsystem nicht sicher, wenn wir das so beschließen. Gleichzeitig steigen wieder die EU-Energieeinfuhren aus Russland. Die Huthi entscheiden praktisch, welche Schiffe im Roten Meer vor Angriffen sicher sind, trotz eines (alles in allem kläglichen) militärischen Aufmarsches westlicher Schiffe. Vor Kuba liegen russische Schiffe, und die jüngste Asien-Reise des russischen Präsidenten hat zu einem erneuten Beistandspakt zwischen Nordkorea und Russland geführt.

Derweil wird der westlichen Öffentlichkeit erzählt, sie müsse sich keine Sorge machen: Wir gewinnen, und Putin bluffe nur. Demnächst kämen die ersten F 16 in die Ukraine. Die hat aktuell eine kleine Anzahl Flieger, die zwar wissen, wie man diese Flugzeuge steuert. In Fleisch und Blut übergegangene Routinen haben sie nicht. Dass das die Wende bringt, glaubt auch niemand, aber es verlängert den Krieg.

Nach Joe Biden (2023) hatte Russland den Krieg bereits „strategisch“ verloren. Nach Joe Biden (2024) starben und sterben in diesem Krieg vor allem russische Soldaten. In Foreign Policy 2017, als kaum jemand an eine Kandidatur von Biden 2020 dachte, war nachzulesen, was ein beitragender Redakteur (Sicherheit) anlässlich eines Verrisses von Ben Rhodes, dem außenpolitischen „Guru“ von Barack Obama, über Kerry und Biden schrieb. Wenn Obama und Rhodes eine neue Außenpolitik machen wollten, warum haben sie dann ausgerechnet Kerry und Biden mit außenpolitischen Spitzenjobs bedacht, fragte dieser polemisch. Das seien Karrieristen, die nie einen eigenständigen Gedanken gehabt hätten. Im Original: “But if that is the case, why have they given so much foreign policy power to two career hacks who never have had an original thought? I mean, of course, Joe Biden and John Kerry. I guess the answer can only be that those two are puppets, and (as in Biden’s case) are given losing propositions like Iraq to handle.”

Nehmen wir an, zur nuklearen Verwüstung Europas oder gar der Welt kommt es nicht.

Was wird nach dem Krieg sein, denn irgendwann geht er zu Ende, ob nun verhandelt, mit einer Kapitulation oder im nuklearen Endkampf. Nehmen wir an, zur nuklearen Verwüstung Europas oder gar der Welt kommt es nicht. Der US-Sicherheitsberater glaubt an Verhandlungen, ganz auf der Linie von Victoria Nuland, aber erst dann, wenn die Ukraine in einer Position der Stärke sei. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Was aber bliebe? Wir werden zwei „Kriegstüchtige“ in Europa haben: Reste der ukrainischen Armee und die russische Armee, die sich die Nato regelrecht heranzüchtete, und ein Russland, das trotz der inzwischen 14. Sanktionsrunde partout nicht in die Knie geht. Im Gegenteil.

Was werden die verbliebenen Ukrainer machen, dann, wenn ihnen aufgeht, wieviel kleiner und ärmlicher ihr Land wurde, vor allem an Menschen, und zudem voller Schulden und Kriegsschäden, voller Minen und Sprengsätze und anderer Verseuchungen, womöglich ganz ohne Zugang zum Schwarzen Meer oder zur Donau? Drängen sie dann in die EU, in die westliche Ukraine?

Noch wurde Odessa nicht ins russische Verhandlungspaket integriert, auch nicht Charkiw oder Kiew. Noch sieht die Zukunft der Ukraine nicht ganz schwarz aus. Aber man kann nichts mehr ausschließen. Es ist Krieg. Einige Ukrainer werden gewiss gemeinsam mit russischen Neonazis im Untergrund als „Partisanen“ bzw. Terroristen weiter gegen Russland kämpfen.

Was aber, wenn die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer begreifen sollten, dass sie nur Kanonenfutter waren in Nato-Augen, um Russland zu schwächen oder zu zerschlagen, statt sich mit dem Land zu verständigen? Wen werden sie dann verachten oder gar hassen? Diejenigen, die ihnen die Nato- und EU-Karotte vor die Nase hielten? Russland, weil es den Krieg begann, oder den Westen, weil er ihn weiterführen wollte? Auch darüber sollte die deutsche Politik endlich nachdenken.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.