Eine Rehabilitation des Kollektivs? Die türkische Künstlerin Işıl Eğrikavuk beobachtet in ihrem Buch, wie die Gezi-Proteste 2013 in der Kunst fortleben können

Streunende Katzen, Kinder auf dem Spielplatz, Spaziergänger dösen auf Parkbänken. Nichts erinnert mehr in diesen Sommertagen daran, dass in Istanbuls Gezipark am zentralen Taksimplatz vor elf Jahren ein Aufstand tobte, der das Regime des Recep Tayyip Erdoğan um ein Haar ins Wanken gebracht hätte. Wie viele junge Tür­k:in­nen war auch Işıl Eğrikavuk fasziniert davon, wie damals im Gezipark für eine kurze Zeit eine andere türkische Republik zum Vorschein kam, welch kreativen Ausdruck die Proteste in Istanbul ebenso hervorbrachten wie die fast gleichzeitigen Aufstände der Schirm-Revolution in Hongkong, Occupy Wall Street in New York oder der Arabischen Revolution.

Die fixe Idee, die sich seitdem im Kopf der 1980 geborenen Performancekünstlerin festsetzte: Ließen sich diese kreativen Formen, die sonst durch Meinungs- und Protestfreiheit eingeschränkt sind, wenigstens in einem künstlerischen Zusammenhang wiedererwecken?

Das klingt nach dem typischen Missverständnis der Kunstszene von Kunst als Politikersatz. Doch die Ergebnisse des Projektes, das Eğrikavuk in Istanbul mit sechs türkischen Kunstkollektiven durchführte, erschließen vielmehr eine unerwartbare soziale Dimension.

Nun hat Eğrikavuk, die mittlerweile in Berlin an der Universität der Künste Kommunikationswissenschaften lehrt, ihre Beobachtung aus der Zusammenarbeit mit den Kollektiven in dem lesenswerten Büchlein „Global Protests Through Art“ veröffentlicht. Das von ihr initiierte Kunstprojekt hatte kein festes Thema, sondern entwickelte sich, ebenso wie die gemeinsame Ausstellung, in die es im November 2017 im Istanbuler Halk Art Space mündete, im Dialog und somit im Geiste von Gezi. Das Kollektiv Pelesiyer fertigte etwa für die Vernissage eine große Stange Brot aus Mehl an, das es sich zuvor bei den Nachbarn geborgt hatte. Das Ganze kreierte eine Art „safe space“. Er bescherte den Beteiligten das Gefühl „emotionaler Solidarität“ und das, sich frei ausdrücken zu können – ein nicht zu unterschätzender Vorteil in der repressiven Stimmung der Türkei.

Dabei sind Kunstwerke entstanden, denen der Brückenschlag zum „Publikum“ gelang, war es doch von Anbeginn in das Werden der Schau einbezogen. Eğrikavuks wenige Jahre nach Gezi gestartetes Projekt formulierte damit ein Verständnis von Kunst als kollaborativer Praxis und die Frage nach der Infrastruktur der Kunst.

Jedoch geht es bei Eğrikavuks Kunstverständnis eher darum, dass die Kunst nach außen anschlussfähig ist, es geht ihr um eine „transformative power of art“. Einen plakativen „Artivism“ findet man in ihrer Studie nicht.

Gezi als politischer Akt mag gescheitert sein. Eğrikavuks theoretisch von Paulo Freire bis Donna Haraway gut fundierter Projektbericht ist jedoch ein Beweis dafür, dass die Istanbuler Proteste zumindest geistig ihre Spätfolgen haben. Denn das Prinzip der „dialogue-based-art practice“, die sie aus ihren Recherchen destilliert, ist mehr als eine türkische Spezialität. Vielmehr liefert es einen Baustein einer gemeinschaftlichen Kunstproduktion und -repräsentation.

Ausgehend von dem Bedürfnis der Kunstkollektive nach wechselseitiger Vergewisserung plädiert Eğrikavuk gar dafür, „Liebe“ als Triebkraft der künstlerischen Arbeit anzuerkennen. Nicht im romantischen Sinn, sondern verstanden als Verbundenheit, Offenheit und Vertrauen.

„Emotions and support“, wie es viele Kollektive formulierten, kann nicht die letzte Antwort auf eine politische Ästhetik sein. Schon weil dieses Bedürfnis nach Zusammenhalt damit einhergehen kann, dass andere ausgeschlossen werden. Dennoch: „Making friends“ – der Slogan des Kuratorenkollektivs ruangrupa für die umstrittene documenta 15 – wurde vielleicht vorschnell als Absage an die Kunst verhöhnt. Im Lichte von Eğrikavuk Studie lässt sich die Losung auch als Aufruf verstehen, Kunst in ihrem „safe space“ als Ressource des Gemeinschaftlichen zu nutzen.

Işıl Eğrikavuk: „Global Protests Through Art. collaboration, co-creation, interconnectedness“, Verlag bookspeopleplaces/Udk, Berlin 2024, 108 Seiten, 15 Euro. Dieser Beittrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).