Eine Offensive für Kriegsdienstverweigerung ist vonnöten!

Kriegstüchtigkeitsminister Pistorius weiß es genau. Und er hat seinen Soldaten gesagt, sie mögen sich das Jahr 2029 im Kalender notieren (Save the Date): denn dann, genauer in fünf bis acht Jahren, kommt der Russe! Seriös formuliert heißt es im „Konzept NEUER WEHRDIENST“ vom 12.6.2024: „Wir gehen davon aus, dass Russland trotz des Angriffes gegen die Ukraine und der dortigen Verluste bis 2029 in der Lage ist, NATO-Territorium anzugreifen.“

Und für diesen Fall sei die Bundeswehr aktuell viel zu klein aufgestellt, da sie „nur“ über etwa 181.000 aktive Soldat*innen verfügt. Trotz einer „Personaloffensive“ habe sich die Truppenstärke im letzten Jahr verringert. Nun sei das langfristige Ziel eine Personalstärke von insgesamt 460.000 Soldat*innen: 203.000 davon im aktiven Dienst und der Rest in der Reserve. Da alle Werbeanstrengungen der Bundeswehr für die Erreichung dieser Ziele vergeblich waren, müsse nun eine „neue Wehrpflicht“ her. Das Konzept dazu hat Pistorius auf einer Pressekonferenz am 12.6.24 vorgestellt.

Totale Erfassung der Kriegstüchtigen

Der (vorerst) gravierendste Eingriff in das Leben der Bundesbürger*innen geschieht durch eine totale Erfassung aller potentiell Kriegstüchtigen. Alle jungen Männer und Frauen werden vor ihrem 18. Geburtstag von den Wehrbehörden systematisch erfasst und sollen einen Fragebogen des Kriegsministeriums erhalten, in dem ihre Kriegsfähigkeiten (körperliche Tüchtigkeit) und ihre Motivation zum Krieg (psychische Tüchtigkeit) abgefragt werden. Männer werden vom Staat gezwungen, diese Fragebögen ausgefüllt zurückzusenden. Zu diesem Zweck soll ein Bußgeld angedroht werden. Bei Frauen bleibt die Rücksendung des Fragebogens freiwillig.

In einem nächsten Schritt entscheidet die Bundeswehr, wer von den Befragten zur Musterung eingeladen wird. Ob dies auch mit Zwang verbunden wird, ist derzeit noch offen. Dann werden die „Geeignetsten“ und „Motiviertesten“ ausgewählt und aufgefordert, sich freiwillig für einen 6-monatigen Grundwehrdienst oder einen längeren Wehrdienst von bis zu 17 Monaten zusätzlich zu melden.

Vorwiegend soll dabei auf Freiwilligkeit gesetzt werden. Aber in den Dokumenten des Ministeriums und durch verschiedene Aussagen von Pistorius ist klar, dass im Falle des Nichterreichens der anvisierten Zielstärken auch Zwangsverpflichtungen möglich werden sollen. Im Konzept wird ausdrücklich betont: „Ausgesetzt wurde im Jahr 2011 nicht die ‚Wehrpflicht‘, sondern die verpflichtende Ableistung des ‚Grundwehrdienstes‘.“ Ob Zwangsrekrutierungen möglich sein werden, beantwortet das Kriegsministerium aktuell nicht, man sei noch in der Prüfungsphase. Jedenfalls soll die Möglichkeit dafür geschaffen werden. Zusätzlich will man den Freiwilligen jede Menge Anreize bieten: Hohe Soldzahlungen, kostenloser Führerschein, Berücksichtigung beim Numerus Clausus u.a.m.

Wehrpflicht- und Soldatengesetz werden geändert

Alle neuen Regelungen, vor allem die Zwangserfassung und der Zwang für Männer zum Ausfüllen der Fragebögen, sollen durch einfachgesetzliche Änderungen im Wehrpflicht- und im Soldatengesetz – also mit einfacher Bundestagsmehrheit – umgesetzt werden. Diese Gesetzesänderungen werden derzeit im Schweinsgalopp erarbeitet, sie sollen schon im Herbst verabschiedet werden. Für eine zwangsweise Erfassung der Fähigkeiten der Frauen wäre eine Grundgesetzänderung (2/3-Mehrheit) notwendig.

Im Original-Konzept lesen sich die Planungen – auszugsweise – wiefolgt:
„• Wir wollen ein neues Modell, das vor allem auf Freiwilligkeit setzt, im Bedarfsfall aber auch verpflichtende Elemente beinhaltet.
• Das neue Modell umfasst einen Grundwehrdienst von sechs Monaten mit einer Option für zusätzlichen freiwilligen Wehrdienst von bis zu zusätzlichen 17 Monaten.
• Dazu wird (sic!) eine verpflichtende Erfassung und bedarfsorientierte Musterung als notwendige Grundlage eingeführt.
• Konkret heißt das: Frauen und Männer werden zum Erreichen des wehrdienstfähigen Alters angeschrieben. Männer werden aufgefordert werden, einen Fragebogen auszufüllen. Sie sind verpflichtet, ihn zurückzusenden. Frauen können den Fragebogen ausfüllen und zurücksenden, sind dazu aber nicht verpflichtet.“

Offensive für Kriegsdienstverweigerung (KDV) nötig

Die Generalmobilmachung von Pistorius schreit geradezu nach einer Offensive der Friedensbewegung in Richtung einer KDV-Kampagne. Spätestens wenn die ersten Fragebögen bei den Jugendlichen ankommen, werden diese hochmotiviert sein, sich mit Fragen um Krieg und Frieden sowie einer möglichen Kriegsdienstverweigerung auseinanderzusetzen. Daran gilt es anzusetzen. Im Spannungs- und Verteidigungsfall gilt die Wehrpflicht sowieso, auch nach jetziger Gesetzeslage. Es ist daher möglich, dass alle, die potentiell zum Kriegsdienst mit der Waffe verpflichtet werden könnten, von ihrem Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4, Absatz 3 Grundgesetz Gebrauch machen. Dazu sind auch alle Personen bis einschließlich dem 60. Lebensjahr aufgerufen, da die Wehrpflicht im Spannungs- und Verteidigungsfall erst dann endet. Auch aktive und ehemalige Soldat*innen sowie Ungediente können jederzeit den Kriegsdienst verweigern.

Das KDV-Grundrecht muss vollumfänglich gewährleistet sein

In einer Kampagne für KDV muss es auch darum gehen, möglichen Beeinträchtigungen der Grundrechtsausübung durch die zuständigen Behörden einen Riegel vorzuschieben. Das Rechtsschutzinteresse aller potentiell Wehrpflichtigen muss geachtet werden, auch wenn diese eine vorbeugende Entscheidung für KDV treffen. Die derzeit vom „Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben“ durchgeführten Prüfungsverfahren vor einer Anerkennung oder Ablehnung müssen abgeschafft werden, da eine Gewissensüberprüfung durch äußere Instanzen schlichtweg unmöglich ist. Der Grundrechtsausübende muss selbst die Hoheit über sein Grundrecht und dessen Wahrnehmung in der Hand haben. Ein Grundrecht darf nicht durch „Zweifel“ von Jurist*innen einem Vorbehalt unterlegt bzw. außer Kraft gesetzt werden – wie es aktuell der Fall ist. Ebenfalls gehört es zum grundrechtlichen Schutz, dass die Stellung eines Antrages auf KDV unmittelbar aufschiebende Wirkung, d.h. Dienstbefreiung, hat. Dies ist aktuell gesetzlich nicht garantiert, sondern der Antragsteller hat bis zu seiner Anerkennung Dienst (wenn auch nicht mehr direkt an der Waffe) in der Bundeswehr, also Wehr- bzw. Kriegsdienst, zu leisten.

Mangelhafte Kriegsbereitschaft ausbauen!

Es wäre zu wünschen, dass bundesweit und regional neue Initiativen entstehen, die eine KDV-Offensive in diesem Sinne vorantreiben. Es sollte darum gehen, konkret über diverse Kanäle junge Menschen für die KDV-Frage zu sensibilisieren. Grausamkeit und Sinnlosigkeit gegenseitigen kriegerischen Abschlachtens bis hin zur Ausrottung der Menschheit durch einen Atomkrieg sind hinreichend dokumentiert, aber vielfach nicht oder nicht (mehr) tief genug im Bewusstsein der Menschen verankert.

Dass keine große Kriegswilligkeit vorhanden ist, bewies zuletzt eine Umfrage: „Im Falle eines militärischen Angriffs auf Deutschland würden sich laut einer Umfrage nur rund fünf Prozent der Bundesbürger zum Kriegsdienst melden. Jeder Zehnte wäre zumindest darauf eingestellt, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Laut der YouGov-Erhebung im Auftrag der dpa will fast jeder vierte Deutsche im Kriegsfall so schnell wie möglich das Land verlassen.“ (Deutschlandfunk, 29.6.24):

Hinweise zum aktuellen KDV-Verfahren:
https://www.eak-online.de/kdv-antragsverfahren
https://www.bafza.de/rat-und-hilfe/kriegsdienstverweigerung-zivildienst/

Martin Singe ist Kriegsdienstverweigerer und arbeitet im Redaktionsteam des FriedensForums. Dort erscheint dieser Text am 1.9.24.

Über Martin Singe:

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