(Dieser Text wurde geschrieben, bevor Joe Biden den Rückzug von seiner Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Demokraten bekannt gegeben hat. Ich denke, er kann so bleiben.)
Was man sehen konnte:
Man sieht einen alten Herrn die Gangway herbsteigen, Hände am Handlauf, wie es sich gehört. Tadellos gekleidet und frisiert. Scharf beobachtender, aber freundlicher Blick. Seine Gattin geht schräg hinter ihm. Ah, das ist die, die ihm das Aufschließen der Tür abnimmt, die ihm die mit Frühstücksei bekleckerte Krawatte austauscht, die ihm morgens immer die Zahnpasta auf die Bürste schmiert und für den Notfall auch eine frische Windel in der Handtasche hat. Die First Lady, die den Präsidenten angeblich aus der Kulisse steuert und für ihre öffentlich im Wahlkampf gezeigte Liebe mit der frauenfeindlichen Rolle einer Megäre abgestraft wird. „Gut gemacht, Joe“ sagt sie, wenn er dann die Bühne verlässt. Das gibt ihm Power. Das Paar begrüßt einige Staatsnasen in dunklen Anzügen, dann geht es zur Limousine, er setzt sich etwas unbeholfen hinein. Der Präsident winkt und fährt ab. Ja, er ist alt. Er will und kann vermutlich nicht mehr eigenhändig lange Nachrichten per Mobiltelefon verschicken, dafür zittern ihm die Finger nach kurzer Zeit zu sehr, aber er veranstaltet auch keine Autorennen mit anderen alten Leuten auf der National Mall in Washington D.C. oder sonstwo im öffentlichen Verkehr… Daraus ziehen wir aber keine falschen Schlüsse: „Die Altersweisheit gibt es nicht. Wenn man altert, wird man nicht weise, sondern nur vorsichtig,“ sagte der amerikanische Schriftsteller Hemingway.
Was man erfuhr:
Vom mentalen und physischen Zustand des Präsidenten ist nicht mehr bekannt, als die offiziellen Erklärungen des Weißen Hauses. Demenz und Parkinson wurden überprüft und ausgeschlossen. Das Weiße Haus veröffentlichte einen Gesundheitscheck. Auf sechs Seiten wurden diverse kleine Gebrechen und Wehwehchen aufgelistet: Die üblichen Baustellen. Der Präsident habe Hüftbeschwerden, was seinen steifen Gang erklärt, und er leide an Atembeschwerden in der Nacht. Außerdem habe er die Refluxkrankheit, eine Verdauungsstörung. Der Präsident raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und macht Sport. Er sei gesund, aktiv und somit ohne Einschränkungen in der Lage, das Amt auszufüllen, bescheinigten seine Ärzte. Seine physischen Ausfälle und Aussetzer sind für ein Alter über achtzig normal. Sie treffen den einen weniger und den anderen mehr. Gewiss, er redet zu schnell, er nuschelt ein bisschen, und er sabbert auch manchmal. Über des Präsidenten geistige Kräfte sagt das indes wenig aus. Im Gegenteil. Der Präsident habe schon immer ein Problem mit dem Stottern gehabt und sei noch nie ein guter Redner gewesen. Der mächtigste Mann der Welt, wie er oft genannt wird, ist nur alt, sonst nichts. Er trippelt also oder schlurft, je nach Tagesform, seinem Grab entgegen. Heißt das, dass seine kognitiven Möglichkeiten am Ende sind? „Alter ist irrelevant, es sei denn, du bist eine Flasche Wein,“ sagte eine britische Schauspielerin…
Was man weiß:
Klarsicht und Verantwortung für Amerika und die Zukunft der freien Welt kann man ihm nicht absprechen. Das Wichtigste: Er hat seinen Kontrahenten mit seinem Wahlsieg 2020 aus dem Weißen Haus vertrieben. Der Präsident setzte sich für schärfere Waffengesetze ein. Er hat mit dem Green Deal die USA, wenn auch mit einem Anflug von Protektionismus, auf den Weg zur nichtfossilen Industrie gebracht. Er hat damit Amerikas Zukunftsfähigkeit als die wirtschaftliche Weltmacht neu begründet. Die Arbeitslosigkeit ist während seiner Präsidentschaft deutlich zurückgegangen. Tausende neue Arbeitsplätze geschaffen zu haben – das gehört zu den Dingen, die der Präsident selbst ganz oben auf seiner Leistungsbilanz sieht. Tatsächlich hat er große Gesetzespakete zur Erneuerung der Infrastruktur und für mehr Klimaschutz auf den Weg gebracht. Ökologische Maßnahmen also – er hat auch ein großes Pipelineprojekt gestoppt, das durch indianische Siedlungsgebiete führen sollte – und seine Migrationspolitik war auch nicht schlecht: Er hat die Auflösung von käfigartigen Kinderlagern in Nähe der mexikanischen Grenze verfügt, in denen minderjährige Flüchtlinge, getrennt von ihren Eltern, eingesperrt waren. Strategisch am wichtigsten waren seine Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit von ehemaligen Beschäftigten der Stahl- und Automobilindustrie zu lindern. Er hat hierfür eine Menge Geld ausgeschüttet.
Was man ihm vorwirft:
Die hohen Preise und Mieten hat er nicht bremsen können. Seine teure Atompolitik stößt ebenfalls auf Kritik. Sein schwerster Fehler aber war, dass er gegen die Capitolsstürmer und ihren Einpeitscher nicht sofort energisch durchgegriffen hat. Stattdessen hat er auf Versöhnung und Einheit der Nation gemacht, und viel zu spät begann die Aufarbeitung durch die Gerichte. Dadurch hat er die Demokraten in den üblen Verdacht manövriert, die Justiz für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren. Sicher würde er wieder so vorgehen. Aber so sind sie halt, die tapferen Demokraten… Klar ist, dass dieser Präsident das kleinere Übel ist im Vergleich zum Kandidaten der Republikaner.
Was man lesen konnte:
Im Zuge des Ukrainekriegs schlug einmal mitten in der Nacht eine Raketen in dem polnischen Grenzdorf Przewodów ein, und Selenskyj, Kiews stets alarmbereiter Nachtwächter, erklärte sofort: russischer Angriff auf NATO-Gebiet, jetzt muss der Westen eingreifen! Mehrere Nachrichtendienste gingen allerdings schnell von einer ukrainischen Flugabwehrrakete aus, die einen russischen Marschflugkörper abfangen sollte. Man klingelte den amerikanischen Präsidenten aus dem Bett, und der erklärte prompt, es habe sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt. Dann legte er sich wieder schlafen. Seine Einordnung des Geschehens wurde akzeptiert, Selenskyj schwieg. Wie der republikanische Kandidat in einer solchen Situation reagieren würde, weiß man nicht, weil er unberechenbar ist. Aber gemäß seiner Logik hätte er in dem Vorfall wohl einen Fehler der Russen erkannt, und wenn andere einen Fehler machen, muss er das unbedingt ausnutzen. Wahrscheinlich hätte er den russischen Präsidenten angerufen und einen Deal angeboten: was kriege ich dafür, dass ich über deinen Fehler gnädig hinwegsehe?
Was man behauptet:
Landauf- landab wird über Altersgrenzen für öffentliche Ämter schwadroniert. Der Präsident wird mit einer immer weiter anschwellenden Debatte über seine geistige und körperliche Kondition konfrontiert. Wer konfrontiert ihn denn besonders mies? Gegenfrage: Wer nicht? Im Folgenden werden Formulierungen aufgelistet, die durch die Medien Verbreitung fanden: Er macht regelmäßig Schlagzeilen mit Gedächtnislücken, Versprechern und sogar Stürzen auf Treppen und Bühnen. “Er strahlt nicht mehr die Art von Führungskraft aus, die viele von einem Präsidenten der Vereinigten Staaten erwarten. Die Leute haben einfach nicht das Gefühl, dass er die Dinge noch voll im Griff hat“. Er legt wackelige Auftritte hin, wirkt häufig unkonzentriert, absolvierte einen fahrigen und kraftlosen Auftritt. Er befeuerte ohnehin bestehende Zweifel an seiner Eignung für das Amt, hat abgebaut. Macht keine gute Figur, verhaspelte sich, teilweise war es schwierig, ihm zu folgen, die Sätze endeten im Nirgendwo. Er starrte oft ins Leere und konnte auf Fragen nicht antworten. Er ist immer wieder mit peinlichen Versprechern und Gedächtnislücken aufgefallen. Offenbar altersbedingte Aussetzer. „Er sah nicht alt aus, er sah uralt aus“. Ein Tattergreis! Sein Gegenkandidat wirkt deutlich agiler. Aha – agil von lateinisch agilis „flink, beweglich“ – ist das ein Qualifikationsmerkmal für einen Präsidenten? Der peinliche Oberbefehlshaber der USA, der nur noch mäandert. Der Präsident ist ein Mann, der sich bei den Feierlichkeiten zum D-Day in Frankreich nach einem Stuhl umschaut, bevor er sich setzt – auch das machte man ihm zum Vorwurf… „Was soll Putin denken, wenn dieser Greis ihm mal gegenübersitzt?“ Wie kann die Parteiführung behaupten, der Präsident sei fit, wenn das Gegenteil für alle ersichtlich ist?“, hört man in Interviews, “halten die uns für doof?“ Ja. Fitness ist nicht alles.
Was man daraus schließen kann:
„Amerikaner wollen einen vitalen Präsidenten“, sagte ein demokratischer Aktivist, und die deutsche Illustrierte „Stern“ kommentierte: „Ein guter Mann ist nicht auch ein guter Präsident“. Ok, sie wollen einen mit John Wayne-Fassade. Dumm wie Teppichfransen, aber mir eiserner Faust. Agil muss er sein, kurz entschlossen, stets bereit zur Attacke und bei Bedarf rücksichtslos bis brutal. Die Argumentation gegen den Präsidenten ist offen altersfeindlich und politisch völlig verblödet. Alter und Vitalität sollten bei der Wahl der mächtigsten Person der Welt kein Kriterium sein dürfen.
(Nun aber, nachdem er mit einer jüngeren Frau als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten konfrontiert wird, ist der „agile“ Republikaner selbst „der Alte“. Mit seiner unnachahmlichen Mixtur aus Verlogenheit und Rechthaberei wird er vermutlich von Alten- und Behindertenfeindlichkeit ungebremst auf Frauenfeindlichkeit umschalten. Das wird ärgerlich-unterhaltsam…)
Was man verhindern muss:
Dass ein unappetitlicher Strohkopf mit Feuermeldervisage und einer roten Brandstifterkappe, der ständig signalisiert, er werde der Nation den Roten Hahn aufs Dach setzen, der nächste US-Präsident wird – ein mieser Komödiant mit tiefgefrorenem Magerquark im Hirn, der Nationalheld spielen will und doch nur ein produktiver Verbreiter von aggressiven Unwahrheiten ist. Ja, er ist fitter als der Präsident, aber man sieht ihm den zu hohen Blutdruck an, und auch er fällt oft durch sprachlichen Aussetzer auf. Sieht man ihn in Action, wird klar, dass es recht ungewiss ist, ob sich im Alter auch Altersweisheit einstellt. Dieser Mann ist nationalistisch, rassistisch, unsozial, gewalttätig, religiös-missionarisch und komplett bescheuert. Zur Reflexion ist er nicht im Stande. Ein Charakter ohne jedes Verantwortungsgefühl. Er hat schon lange aufgehört, zu lernen. Er ist Ende 70, wurzelt aber geistig in den Indianerkriegen. Er ist der Schwachmatiker, der den Anforderungen der modernen Politik nicht gewachsen ist. Einfuhrzölle sind sein wichtigstes politisches Handwerkszeug. Er hat keine Geschichtskenntnisse und kann deswegen keine Schlüsse für die Zukunft ziehen. Mit diesem Republikaner, der gar nicht weiß, was mit Res Publica gemeint ist, begibt sich Nordamerika auf den Marsch Richtung Faschismus 2.0
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.
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