Frankreich: Einen Rechtsruck durch eine Mehrheit der Partei von Marine Le Pen haben die Französinnen und Franzosen erneut verhindert. Weg vom Fenster sind die Rechten damit nicht

Am Abend des 30. Juni wurden viele ­Franzosen von Schwindel und Übelkeit ergriffen. Beim ersten Urnengang der jüngsten Parlamentswahl hatte die ­Rassemblement National (RN) über neun Millionen Stimmen erhalten. Auf einmal schien es sehr wahrscheinlich, dass die rassistische, nationalautoritäre Partei die Regierung stellen würde. Der 28-jährige RN-Vorsitzende Jordan Bardella wähnte sich bereits als Premierminister, und der Eindruck (s)eines unaufhaltbaren Siegs wurde von gefälligen Medien noch verstärkt.

Eine Woche später kippte plötzlich die Stimmung. Aus dem zweiten Wahlgang war die RN schließlich als dritte Kraft heraus­gekommen, noch hinter dem angeschlagenen bürgerlichen Block um ­Präsident Macron. Der Schockeffekt hatte gewirkt. Die meisten Sitze bekam das ­linke Bündnis NFP („Neue Volksfront“), ohne jedoch die absolute Mehrheit zu erreichen. Richtige Sieger gibt es also nicht. Nach wie vor ist die Nationalversammlung in drei unversöhnliche Lager gespalten und die Regierungsfähigkeit gelähmt.

In Gemeinden, wo eine Postfiliale, ein Bahnhof oder ein Krankenhaus geschlossen wurde, ist mehrheitlich für die Rechten gestimmt worden.

Macrons Versuch, eine zentristische Mehrheit „gegen beide Extreme“ um sich zu binden kann nur scheitern, hat er doch selbst alles getan, um die Rechten als tonangebende Herausforderer zu etablieren. Der Zusammenschluss von Sozialisten, Grünen, Kommunisten und der Links­partei LFI war nicht nur defensiv, alle ­haben sich auf ein Programm geeinigt, das, falls umgesetzt, eine arbeitnehmerfreundliche, sozialökologische Wende einleiten würde. Nur wird das ohne absolute Mehrheit kaum möglich sein. ­Ihrerseits rechnet die RN mit mehr Chaos, damit bei der Präsidentschaftswahl spätestens 2027 Le Pen als Erlöserin siegen kann.

Problemzone Peripherie

Eine einfache Erklärung für die flächendeckende Zunahme der RN-Wählerschaft gibt es nicht. Vielsagend ist jedoch eine Beobachtung. In Gemeinden, wo eine Postfiliale, ein Bahnhof oder ein Krankenhaus geschlossen wurde, ist mehrheitlich für die Rechten gestimmt worden. Die RN gedeiht in peripheren Reihenhaus­siedlungen, Kleinstädten und ländlichen Zonen, überall, wo der Staat seine organisatorischen Aufgaben vermasselt hat und die Menschen sich zurecht verlassen fühlen.

Folgerichtig schreibt die Linkskoalition NFP die Wiederherstellung der öffent­lichen Dienste und Infrastrukturen ganz oben auf ihre Agenda. Warum überzeugt sie dennoch keine Mehrheit damit? Wahrscheinlich aus Misstrauen. Ihre ersten Wahlsiege hatten die bislang bedeutungslosen Rechten 1983 verbucht, im Jahr, als sich die regierenden Sozialisten zum Wirtschaftsliberalismus bekehrten. Seitdem korreliert deren stetiger Anstieg mit den aufeinanderfolgenden Entsagungen der Regierungslinken vor der Deindustrialisierung und der Kapitalisierung des Landes.

Glaubwürdiger wäre vielleicht die „Neue Volksfront“, wenn unter ihren frischgewählten Abgeordneten der ehemalige Präsident Hollande nicht säße, der vor nicht einmal zehn Jahren das Arbeitsrecht demontierte, protestierende Gewerkschafter niederknüppeln ließ und zum Wirtschaftsminister einen jungen Neoliberalen namens Macron ernannte.

Entgegen ihrer üblichen wahlpolitischen Neutralität hat die CGT-Gewerkschaft dazu aufgerufen, für die NFP abzustimmen. Gewiss tat sie das in der Hoffnung, eine linke Regierung würde arbeitnehmerfeindliche Maßnahmen rückgängig ­machen, aber auch aus einem bedenk­licheren Grund. Selbst innerhalb der Gewerkschaft, einst Transmissionsriemen der Kommunistischen Partei, ist die Treue zum linken Lager keine Selbstverständlichkeit mehr. Laut Umfragen soll bei der letzten Europawahl eins von vier CGT-­Mitgliedern für die Rechten gewählt ­haben.

Gewerkschafter ohne Vertrauen in die Politik

So geschädigt ist selbst unter organisierten Beschäftigten das Vertrauen in die etablierte Politik. Davon profitiert die angeblich unbeschädigte RN, obwohl: In den letzten Jahren hat die selbsterklärte „einzig echte Opposition“ stets mit der Regierungsfraktion abgestimmt, wenn es darum ging, von Linken beantragte Sozialmaßnahmen zu verhindern wie die Anhebung des Mindestlohns, die Erhöhung der Kapitalertrags- und Vermögenssteuer oder eine Mietendeckelung.

Lediglich an einem Punkt opponierte die RN gegen Macrons Sozialpolitik, nämlich der Rentenreform. Freilich wäre alles andere politischer Selbstmord gewesen: Dreiviertel der Franzosen waren dagegen. Doch anstatt wie Gewerkschaften und linke Parteien auf die Straße zu gehen, rief Le Pen die Unzufriedenen einfach ­dazu auf, sie bei der nächsten Wahl zu wählen. Dann würde, versprochen, die Rente mit 60 kommen.

Allein die Stimmung zählt

Wer darauf reinfiel, der wurde dieses Jahr eines Besseren belehrt. Gleich zu Beginn des Wahlkampfs erklärte RN-Jungstar ­Bardella, aufgrund der von Macron hinterlassenen Staatsverschuldung müsse die Rente mit 60 leider auf sonnigere Tage verschoben werden. Herausgefordert, die RN-Rentenpläne genauer zu erläutern, sprach er sich gar dafür aus, das Eintrittsalter noch weiter auf 66 anzuheben! ­Womit im Übrigen die Annahme widerlegt wäre, Menschen würden die Rechtspopulisten aus rationalen sozialpolitischen Gründen wählen. Egal, wie widersprüchlich und wechselhaft ihre Versprechen sind, allein die Stimmung zählt.

Mit seinem Last-Minute-Umschwenken wollte Bardella offensichtlich die Wirtschaftswelt beruhigen, die eine Senkung des Eintrittsalters niemals akzeptieren wird. Zur weiteren „Entteufelungsstrategie“ der RN gehört zudem eine Charmeoffensive Richtung Großinvestoren und Unternehmer. Längst hat die Partei die Programmpunkte fallengelassen, den ­Frexit etwa, die sie für dieses Milieu unwählbar machten. Mit Erfolg: Zum ersten Mal hat der Arbeitgeberverband keine Bedenken gegen einen möglichen RN-Sieg geäußert. Sicherlich würden die ­meisten lieber eine mitte-liberale Regierung haben. Nach dem Scheitern ­Macrons neigen sie jedoch immer mehr dazu, notfalls für die rechtsautoritäre ­Lösung zu optieren. Trotz mancher Schönheitsfehler sei diese allemal unternehmensfreundlicher als das „extremistische“ Programm der NFP.

Zum Erfolg der rechten Propaganda hat der Milliardär Vincent Bolloré maßgeblich beigetragen. Ihm gehören mehrere TV-Sender, Radios und Zeitungen, die in ­Millionen Haushalten ihr tägliches Gift verbreiten: gegen Ausländer, Kriminelle und Muslime natürlich, außerdem gegen alle politischen Kräfte links von Macron, die wahlweise als Freunde von Islamisten, Antisemiten, Polizistenmördern oder ­Woke-Diktatoren beschimpft werden.

Vorläufig mag das linke Bündnis den Rechtsruck aufgehalten haben. Doch ist ihre knappe relative Mehrheit gegenüber jener Geld- und Medienmacht sehr zerbrechlich, die ihr Scheitern beschworen hat. Damit ein Sieg der Rechtspopulisten aufgehoben und nicht bloß aufge­schoben wird, werden größere Anstrengungen nötig sein.

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