Mit einer Antwort aus – was sonst? – Österreich

In der von mir gewohnten Sachlichkeit hatte ich die öserreichische Serienproduktion “Vorstadtweiber” hier schon empfohlen. Nun bin ich gestern und vorgestern meiner eigenen Empfehlung gefolgt.

Wir Deutschen müssen wissen, dass die ingesamt 6 bisher abgedrehten Staffeln aus den Jahren 2015-22 datieren. Sie starteten also schon zwei Jahre vor dem berüchtigten Ibiza-Video (2017).

Die ganze Produktion ist natürlich keine knochenharte materialistische Analyse des real existierenden neoliberalen Kapitalismus in seiner österreichischen Variante. Obwohl: nicht wenige Elemente davon hat sie. In erster Linie handelt es sich um fiktionale Gegenwartskunst unter öffentlich-rechtlichen Produktionsverhältnissen.

Und ich frage mich immer mehr, warum, was in einem korrupten mitten in Faschismusgefahr vegetierendem Zwergstaat (halb so gross wie NEW) möglich ist, nicht im grossen, mächtigen Deutschland entsteht. Oder habe ich was übersehen?

Ich sah diese vierte Staffel mit staunendem, offenem Mund – und fast grenzenlos begeistert von derart guter amüsanter Unterhaltung über nicht die ganze, aber sehr, sehr viel gesellschaftliche Wirklichkeit.

Zum Vergleich

Die erstklassigen “Mord mit Aussicht”-Folgen (Staffeln 1-3), angesiedelt im spiessigen Eifeldörfer-Milieu, datierten, das nur zur Erinnerung, 2008-14. Was unter dem Titel derzeit läuft (Staffeln 4 ff.), ist ein saft- und kraftloses Aussaugenwollen des damaligen Quotenerfolges. Aber die neuen Folgen eignen sich besonders gut als Kontrastmittel zu den “Vorstadtweibern”. Nach einer Parallelverkostung, spätestens dann, verstehen Sie, was ich meine.

Hypothese

Österreichische Kultur- und Filmschaffende kompensieren die Faschismusgefahr mit dem in ihrem Land angelernten Sarkasmus. Sie nennen es “Schmäh”. Als 1980 der rechtsradikale Franz-Josef Strauss sich anschickte, Bundeskanzler werden zu wollen, hatte ich im heimischen Ruhrgebiet noch ein annähernd ähnliches kulturelles Sicherheitsgefühl. Die menschliche Gesellschaft dort war immun gegen Strauss. Das übertrug sich auch auf unsere seinerzeit aus Recklinghausen stammende Beueler Hausvermieterin Frau Kolbe. In jener Zeit entstanden im WDR die “Schimanski-Tatorte”. Das waren funktionierende gesunde demokratische Reflexe auf die Gefahr. Jahrzehnte später lernte ich dazu, dass etliche “Schimanski”-Erfinder (Gebrüder Gies plus etliche Drehbuchautoren) in der “Frankfurter Schule” studiert hatten. Der WDR-Möglichmacher und spätere Bavaria-Produzent war Günter Rohrbach.

Warum erzähl’ ich das? Damals funktionierte noch der kritische Blick der Kulturschaffenden auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Heute dagegen wirken sie komplett eingeschüchtert und eingebunkert. Da kommt nichts mehr. Sie lassen sich scheinbar willenlos treiben, wie die demokratischen Parteien in ihrem AfD-Ähnlichkeitswettbewerb.

Das sieht – aus der Ferne – in Österreich anders aus. Dort moderiert noch ein richtiger kritischer Journalist das wichtigste Nachrichtenmagazin (zu sehen auf 3sat um 22 h). Kommunal und landespolitisch überlebt dort nicht nur eine linke Partei, sie regiert sogar. Sogar die Sozialdemokraten – wie ist das möglich? – haben sich bei der Urwahl ihres Vorsitzenden nach links gewendet. Ob dort die FPÖ erfolgreicher abgewehrt wird, als hierzulande die AfD, muss leider bezweifelt werden. Aber wenigstens gibt es Widerstand.

Sogar in öffentlich-rechtlicher TV-Unterhaltung. Klasse. Danke.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net