Beueler-Extradienst

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Lächerlich

Wundersame Bahn CCIV

Nicht nur Politiker*innen (und nicht wenige Journalist*inn*en) an Wahlabenden tun es. Auch Konzernvorstände, hochbezahlt und mit angeblich leistungsorientierten Boni verwöhnt, tun es. “Details wollen die beiden Unternehmen heute auf einer Fachmesse in Berlin vorstellen.” kündigt eine dpa-Meldung im FAZ-Wirtschaftsteil und bei Spiegel-online – gleichlautend selbstverständlich – an. Ab Dezember soll ein (in Zahlen: 1) Zug von Berlin nach Paris fahren. Spannende Frage für erfahrene Bahnkunden: lässt der sich denn auch EU-weit buchen, oder für jedes durchfahrene Land einzeln?

So geschieht es nämlich einem regelmässig zwischen Beuel und Wien pendelnden Freund. Ich selbst kriege regelmässig zuviel, wenn grossspurig auf “Fachmessen” Verbindungen angepriesen werden, die vor 100, und auch vor 30-40 Jahren noch alltägliche Infrastruktur waren. Beuel-Port Bou (Barcelona) über Lyon, Beuel-Lecce (das ist ganz “unten” am Stiefelabsatz Italiens), Beuel-Rijeka, Bonn-Genua, Bonn-Firenze, Bonn-Venezia bin ich alles noch persönlich gefahren – alle Verbindungen von Dortmund kommend. Seit ca. 20 Jahren ist der gleiche Bahnhof Beuel dem Verfall preisgegeben.

In dieser Woche inkl. dem kommenden Wochenende ist noch nicht mal eine Fahrt nach Köln möglich, einen Verwandtenbesuch in Essen muss ich absagen. Die Direktverbindung von Hbf. zu Hbf. wird über drei Stunden dauern – “Schienenersatzverkehr”.

Noch in den 90ern habe ich in Köln einen (russischen) Schlafwagen ohne Reservierung nach Berlin bestiegen – ein Kurswagen, der von Paris bis Moskau verkehrte. In Berlin gibt es fussläufig zum Hauptbahnhof ein Restaurant dieses Namens, das schon existierte, als die Mauer noch stand. Der grosse Fred Zinnemann hatte 1977 einen ganzen Spielfilm um diesen Paris-Moskau-Express inszeniert, mit den grossartigen Damen Jane Fonda und Vanessa Redgrave in den Hauptrollen. Unvergesslich.

Was hat die EU seitdem für ihre Bahninfrastruktur geleistet? Der von Deutschland erzwungene neoliberale Kurs ging – ganz wie wir es heute in Deutschland “ernten” – zu Lasten aller umweltfreundlichen Verkehrsarten und förderte den Flug- und LKW-Wahnsinn, den wir heute erleiden, bis hinunter nach Lüdenscheid.

Im Bahnverkehr ist Europa seitdem nicht erschlossen, sondern niedergelegt worden. Jede Regierung betreibt einen Prestige-“Hochgeschwindigkeitszug” mit nationalistischer Technikförderung. Meistens sind sie nur sehr aufwändig kompatibel für Grenzüberfahrungen zu machen. Für europäische Reisende ist das weitgehend sinn- und nutzlos.

Aber sie hören mit ihrer fahrgastfeindlichen Strategie nicht auf. Sie machen sich weiter lächerlich – die Schweiz und ein bisschen Österreich ausgenommen. Sogar im vielgescholtenen Italien – mit einer ebenfalls neoliberalen Privatisierungsstrategie im Bahnverkehr – funktioniert der Bahnverkehr effizienter als in der deutschen SPD-/CSU-/FDP-dirigierten Verkehrspolitik – teure Nichtsnutze durch alle Parteien. Führungskräfte sind was Anderes.

Update 25.5.

Die Erinnerung kehrt zurück. Der oben bestiegene russische Schlafwagen war sensationell preisgünstig: 100 D-Mark in bar und ohne Beleg an den russischen Schlafwagenbetreuer – für 2 Personen! Die Bettwäsche war frisch gewaschen, allerdings nur schwach getrocknet. Meine Begleiterin war die spätere grüne Staatsministerin Kerstin Müller. Der Schlafwagenbetreuer verfügte – ausser über die Bettwäsche – leider über nichts. Getränke oder Imbiss Fehlanzeige. In Dortmund hatte der Zug eine halbe Stunde Aufenthalt, weil er rangiert und neu zusammengesetzt werden musste. Ich kannte dort eine nachts geöfnete Dönerbude in der Nähe des Hauptbahnhofs und deckte uns mit Lebensmitteln ein. Sie musste später dem DFB-Museum weichen. Zurück am Hbf., war der Schlafwagen nicht mehr am Bahnsteig. Ich fand ihn auf einem bahnsteigfreien Güterzuggleis. Gefährlich in nächtlicher Dunkelheit, aber die Reise konnte glücklich und verpflegt weitergehen.

Ein bisschen Verspätung beim Ausstieg in Berlin-Zoo war von Vorteil – fürs Ausschlafen. War das eine schöne Bahnwelt. Unsere Unterkunft in Westberlin war die schicke Altbauwohnung der späteren grünen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, die seinerzeit mit meinem alten Freund Albert Statz zusammenlebte, der Anfang der 80er kurze Zeit mein betreuender Redakteur bei der Tageszeitung “Die Neue” war, einer Nachläuferin des früheren Berliner Extradienstes.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Rainer Bohnet

    Ich war Aufsichtsbeamter in Bonn Hbf und habe in jeder Stunde bis zu sechs Fernzüge auf die Reise geschickt. Was aus diesem Bahnhof geworden ist, ist ein Drama.

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