Ein merkwürdiges Interview der Financial Times, das tief blicken lässt
„Der Mensch ist manchmal seines Schicksals Meister;
Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus,
Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge.“ (Shakespeare, Julius Cäsar)
Am 4.10. 2024 gab der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg der Financial Times (FT) ein ausführliches Interview. Er war sich sicher, dass die Nato bisher „Putins Bluff“ durchschaut habe, und das gab dem Ganzen dann auch den Titel. Nur die Unterzeile schien mir zunächst ein bisschen verwirrend. Denn die FT hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass Stoltenberg ab Mitte der 80er Jahre lange bewusst mit dem KGB im Kontakt war. Über ihn gab es eine Akte und einen Vorgangsnamen in Moskau. Dies hatte Stoltenberg 2016 selbst offengelegt.
Seine Gespräche mit dem KGB-Residenten in Oslo erfolgten, so Stoltenberg gegenüber FT, auf Anraten seines Vaters, der ein sehr anerkannter und geschätzter Politiker und Diplomat war. Dieser habe ihm gesagt, dass „die einzigen Leute, mit denen man in der russischen Botschaft reden muss, die KGB-Leute (sind), weil sie die einzigen sind, die einen gewissen Einfluss haben.“ Er habe nie etwas Wichtiges gewusst, der norwegische Geheimdienst wusste Bescheid, und er habe auch nie etwas verraten.
Merkwürdigerweise las sich das in einer norwegischen Veröffentlichung über seine Biographie 2016 etwas anders. Darin beschrieb er den Rat seines Vaters wie folgt: “”Thorvald (his father) thought we should talk to everyone, that way we could understand each other better,” Stoltenberg wrote. “And he said ‘the best was to talk with the KGB. They have the smartest people, and the best contacts in Moscow.’ But you of course had to be careful about what you said.””
Übersetzung: „Thorvald (sein Vater) meinte, wir sollten mit allen reden, damit wir uns besser verstehen könnten“, schrieb Stoltenberg. „Und er sagte: ‚Das Beste wäre, mit dem KGB zu reden. Sie haben die klügsten Leute und die besten Kontakte in Moskau.‘ Aber man musste natürlich vorsichtig sein, was man sagte.“
Offenbar passte es 2024 nicht mehr in die Zeit, Gesprächsbereitschaft und wechselseitiges Verstehen hervorzuheben, so wie sich Stoltenberg gegenüber der FT auch hütete, sein im Buch festgehaltenes Loblied auf die damaligen KGBler als „die klügsten Leute“, die mit den besten Kontakten in Moskau, zu singen. Denn was soll man dann über Putin denken, der in jenen Jahren auch beim KGB war? Nur eben nicht in Oslo, sondern in Dresden. Natürlich sprach man überall in den westlichen Hauptstädten im Kalten Krieg mit dem KGB, um etwas zu erfahren oder um Botschaften anzubringen. Aber das war damals. Heute spricht man schon kaum mit den jeweiligen russischen Botschaftern, ohne einen Shitstorm zu ernten, vom russischen Staatschef ganz zu schweigen. Man spricht nur noch übereinander.
Die Nato dagegen zog es vor, über die ganze KGB-Gesprächs-Episode zu schweigen und konzentrierte sich in ihrem Portrait über den langjährigen Nato-Generalsekretär (2014 bis 2024) darauf, zu betonen, dass der umgängliche Jens (immer auf Vornamenbasis) ganz nach dem Vorbild seines Vaters ein gastfreundliches Haus praktizierte, immer bereit zum herzlichen Empfang und offenen Gespräch. Ich hätte sehr gern gewusst, wer seine Gäste waren.
Aber das blieb nicht der einzige Erkenntniszugewinn im FT-Interview mit Stoltenberg. Er beschrieb, wie sich seine privaten Planungen änderten, als sein Mandat als Generalsekretär 2023 noch einmal um ein Jahr verlängert werden sollte. Im Weißen Haus habe er Präsident Biden gegenübergesessen. Er hätte das nicht gewollt, aber Biden sagte, es ginge dabei nicht um ihn oder seine Frau, sondern um den Krieg in der Ukraine. Da sei es nicht möglich gewesen, nein zu sagen. Biden bot sogar an, Stoltenbergs Frau anzurufen, um ihr alles zu erklären.
So also läuft die Rekrutierung innerhalb der Nato. Wenn der eigentliche Dienstherr, der US-Präsident, etwas will, kriegt er es. Gut zu wissen. Ich hätte lieber eine rührselige Geschichte gelesen, wie über 30 Staats- und Regierungschefs den Jens anflehten, seine persönlichen Karriereambitionen bzw. familiären Planungen zurückzustellen. Damit die Fata Morgana kollektiver Entscheidungen in der Nato wenigsten ein bisschen gerettet wird.
Stoltenberg sprach auch über die Zeit vor dem Ukraine-Krieg.
Im Oktober 2021 sei es ihm klar gewesen, dass eine russische Invasion kommen würde. Macron und Scholz seien aber nicht überzeugt gewesen. Egal, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, man müsse sich darauf vorbereiten, habe er, Stoltenberg, gesagt. In seiner Erzählung kommen russische Vermittlungsversuche mit den USA und der Nato gar nicht vor. Stattdessen bedauerte er, dass die Nato vor dem Krieg nicht genügend Waffen an die Ukraine geliefert habe. Vielleicht hätte das ja alles geändert.
Da war er im Europäischen Parlament 2023 sehr viel ehrlicher: Putin wollte eine vertragliche Zusage der Nato, sich nicht weiter zu erweitern und zum Abbau militärischer Nato-Installationen in den neuen Mitgliedstaaten. „Wir haben das natürlich nicht unterschrieben“, so Stoltenberg. Er hätte noch hinzufügen müssen: Wir waren noch nicht einmal bereit, darüber mit Russland ernsthaft zu verhandeln. Gegenüber FT machte Stoltenberg gleichzeitig sehr deutlich, dass sein Job auch darin bestand, unbedingt zu vermeiden, dass die Nato zur direkten Kriegspartei wird. Kämpfen lassen (die Ukraine) und den schmalen Grat zur direkten Kriegsbeteiligung nicht offensichtlich überschreiten, das war und bleibt der NATO-Balanceakt.
Stoltenberg äußerte sich ebenfalls zu den ersten Kriegstagen in der Ukraine. Man habe Sorge gehabt, dass Russland die Ukraine überrennt, womöglich den ukrainischen Präsidenten festsetzt oder umbringt. Mit den 150.000 bis 190.000 russischen Militärs, die ursprünglich zum Einsatz kamen? Das spricht nicht für solide militärische Analyse. Gleichzeitig hätten sie, so Stoltenberg weiter, innerhalb der Nato sehr zügig über die Moskauer „Roten Linien“ diskutiert. Wie weit die Nato gehen könne, ohne den direkten militärischen Konflikt (oder eine nukleare Eskalation) mit Russland zu riskieren. Bisher haben wir, summierte Stoltenberg, „Putins Bluff“ durchschaut.
Das war der Moment, an dem ich mich fragte, wie aus einem Mann, der in einem prominenten Elternhaus, in dem die Kultur des Dialoges und Werbens um Verständigung herrschte, ein politischer und militärischer va banque-Spieler werden konnte, der sich seiner Arroganz gar nicht mehr bewusst ist. Die Bank gewinnt bekanntlich immer. Wer für die Nato das Recht auf „Rote Linien“ in Anspruch nimmt, aber die „Roten Linien“ des Gegners zum bloßen Bluff erklärt, den man ausreizen kann, als wäre der andere nur ein Trickbetrüger, ist selbst der Spielsucht verfallen, ist nur ein Spieler in einem geostrategischen Hütchenspiel. Der Einsatz: die Existenz des ganzen Planeten. Mit Augenmaß, Verantwortung und kühlem Kopf sollte man das nicht verwechseln.
Stoltenberg äußerte sich ebenfalls zur Zukunft des Ukraine-Konflikts. Er sagte das, was im Augenblick in bestimmten Washingtoner Kreisen en vogue ist: Vielleicht könnte man den Konflikt einfrieren, so behandeln wie die deutsche Teilung. Mit einem Teil Ukraine drin in der Nato, ohne Beistandsgarantie für den russisch okkupierten Teil. Der muss dann auf die Wiedervereinigung warten. Auf diese Weise, aber darüber redete Stoltenberg nicht, könnte man ein bisschen Ukraine für den Westen retten und die militärische Infrastruktur der Nato noch etwas näher an Russland heranschieben. Praktisch allerdings wird so der Krieg immer tiefer in die Ukraine hineingetragen. Denn in Moskau herrschen leider keine Analphabeten, die nur russisches Staatsfernsehen sehen und der dort vorgebrachten Propaganda glauben. Anderswo in der großen weiten Welt außerhalb des westlichen Einflussraums dürfte das ähnlich sein.
Einsichten der Thorvalds dieser Welt sind nicht nachgefragt
Wer stabilen Frieden will, muss die Sicherheitsfrage in Europa inklusiv lösen. Auch für die Ukraine und mit Russland. Aber die Erfahrungen und Einsichten der Generation der Thorvalds dieser Welt sind im Moment nicht nachgefragt. Denn der Westen begreift sich als sogenannter Sieger der Geschichte des europäischen Umbruchs 1989/1991. Dass damit nicht das „Ende der Geschichte“ erreicht wurde, wie das so gerne im Westen gedacht wurde, liegt an der Uneinsichtigkeit der „anderen“, an den Autokraten, an den „Bockigen“, wie etwa Putin. Die Ukraine ist seit Kriegsbeginn auf dem unabweisbaren Weg des militärischen Verlierers. Aber die Ukraine verliert nicht allein. Alle, die der Ukraine 2022 militärisch den Rücken stärkten, an einen Siegfrieden zu glauben, und das Land hinderten, Frieden mit Russland zu machen und das bis heute tun, haben die Ukraine mindestens genauso auf dem Gewissen wie Russland.
Die Schlacht ist längst verloren. Die einzige Frage ist allein, wie kann der Verlierer (Ukraine/ Nato) das Gesicht wahren? Wie kann man aus einer militärischen Niederlage noch eine Art Sieg zaubern, der Zusammenleben stabil ermöglicht? Diese Frage richtet sich nicht nur an die westliche Seite. Dazu wird es auch der russischen Seite bedürfen. Bei diplomatischen Lösungen darf es keinen triumphalen Sieger geben.
Im FT-Interview malte Stoltenberg ebenfalls das Gespenst eines übermächtigen russischen Bären an die Wand. Die zwei Prozent Nato-Ausgaben werden nicht reichen, erklärte Stoltenberg. Europa (er meinte die europäischen Nato-Mitglieder), habe zu wenig Waffen, Kapazitäten und Truppen mit schneller Reaktionsfähigkeit. „Wir wissen, dass wir hinter (Russland) herhinken.” Weiß das auch Russland, fragte FT. „Ja, sagte Stoltenberg, leise. Die wissen es.“
“Totrüsten” nochmal erfinden?
Nun wollen wir mal nicht diese Einsicht von Stoltenberg bestreiten. Aber wie kann man dann einer Politik huldigen, die sich nicht von der alten sozialistischen Utopie: „Überholen ohne einzuholen“ unterscheidet? Wer hinterherhinkt, muss schneller laufen als der andere, der ebenfalls läuft. Gibt es etwa Leute, die glauben, man könnte das Totrüsten nochmal erfinden? Bei den hohen Energiepreisen und schwindenden Industriekapazitäten in der EU? Und woher sollen dann all die schönen Waffen für die Ukraine herkommen, die ihr versprochen wurden, „solange es eben dauert“?
Wie passt das zum hoffnungsfrohen Nato-Überschreiten von Putins „Roten Linien“, wenn die Nato doch angeblich so schwach auf dem europäischen Kontinent aufgestellt ist? Weil man doch im Hintergrund den großen Nuklear-Poker betreibt? Wieso sind die Russen noch nicht über uns hergefallen, wo wir doch so schwach sind, sondern bestreiten anhaltend, dass sie das überhaupt vorhaben?
Im Kopf des ehemaligen Nato-Generalsekretärs herrschte, das konnte man dem FT-Interview schon entnehmen, eine gewisse Widersprüchlichkeit. Das allerdings ist nicht wirklich speziell. Schon Einstein warnte:
„Die Kontraste und Widersprüche, die dauernd in einer Hirnschale friedlich nebeneinander hausen können, werfen alle Systeme der politischen Optimisten und Pessimisten über den Haufen.“
Speziell ist allenfalls, dass Stoltenberg sich dessen gar nicht bewusst ist, und die FT auch nicht nachbohrte, obwohl gerade britische Medien durchaus in der Lage sind, sehr scharfe Interviews zu führen. Immerhin traktierte FT ihn mit Afghanistan. Versprechen waren das Eine, die Realität das Andere.
Verstimmung zwischen London und Berlin
Aber am Ende fragte ich mich schon, warum die FT die KGB-Gesprächs-Episode im Leben des einstigen Nato-Generalsekretärs so prominent platzierte. Stoltenberg zu Beginn seiner Arbeit als Chef der Münchner Sicherheitskonferenz einen solchen Tritt mitzugeben, ist ein Indiz, dass zwischen London und Berlin, vorsichtig ausgedrückt, Verstimmung herrscht.
Ein weiteres Anzeichen war die unangemessene Bemerkung des deutschen Bundeskanzlers zum Tag der Deutschen Einheit in Schwerin. Statt sich international zu bedanken zog er es diesmal vor, den Akzent darauf zu legen, es habe damals „Spitz auf Knopf gestanden“ und rieb den Briten eine Bemerkung von Margaret Thatcher aus dem Jahr 1989 unter die Nase („Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen und jetzt sind sie wieder da“).
Den Briten aber sei gesagt, dass der missglückte Verweis auf Thatcher nicht der einzige faux pas in der Kanzler-Rede blieb. Er bzw. seine Redenschreiber hatten nicht die leiseste Ahnung, dass sich der Satz von Brandt vom 10. November 1989 in Berlin „Nun wächst zusammen, was zusammengehört“, nicht auf Deutschland, sondern auf Europa, den Kontinent, bezog. So uminterpretiert, musste sich Scholz natürlich nicht mit der Frage beschäftigen, welche deutschen und internationalen Versprechen es damals gegenüber der Sowjetunion gab. Gorbatschow erinnerte sich 2008 genau.
Hütchenspieler-Elite
Aber die damals im November 1989 geäußerte Hoffnung von Brandt bleibt richtig. Nur da Scholz sie nicht kennt oder missdeutet, kann er auch nichts zur Verwirklichung beitragen. Er ist Teil der Hütchenspieler-Elite, die an „Putins Bluff“ glaubt.
Fast bin ich versucht, Scholz und seinen Mitstreitern einen Rat zu geben, der wahrscheinlich auch dem alten Thorvald Stoltenberg gefallen hätte: Nicht nur die tägliche Presseschau lesen, die eine Essenz dessen ist, was man glauben soll. Auch mal selber denken. Zuhören, was andere zu sagen haben, auch sogenannten „alternativen“ Stimmen, auch mutmaßlichen Gegnern. Und sich erinnern: In der SPD galt im tiefsten Kalten Krieg (1981): Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Nun sind wir in einem hybriden Dritten Weltkrieg, knapp unterhalb der nachweislich direkten militärischen Konfrontation zwischen Nato und Russland. Realitätsverweigerung und Russenhass sind im Westen inzwischen so schlimm, dass sie das Denken lähmen.
Und doch gilt, dass nichts die Selbstauslöschung der Menschheit wert ist.
Es gibt auch Schimmer von Hoffnung. Vor kurzem brachte ein russisches Sojus-Shuttle eine amerikanische Astronautin von der Internationalen Raumstation (ISS) zurück auf die Erde. Diese Kooperation funktioniert noch. Die ISS twitterte: „Willkommen zu Hause“. Kann das bitte die deutsche Politik begreifen und der „Kriegstüchtigkeit“ abschwören?
Wir haben nur ein Zuhause, das gemeinsame Haus Erde. In dem brauchen alle Völker ihren Platz, nicht von oben verordnet, weder diktiert noch mit Waffengewalt erzwungen, sondern gemeinsam ausgehandelt. Das gefällt gewiss den Enthusiasten von Kriegen, Konflikten und Hochrüstung nicht, den Völkern aber schon.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
Schreibe einen Kommentar