Beueler-Extradienst

Meldungen und Meinungen aus Beuel und der Welt

Produkt dieses Jahres

Die Gaza-Proteste zu kritisieren ist leicht. Deutschland hat genau die Bewegung bekommen, die es verdient: Die einen schreien, weil die anderen schweigen

Lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Am Freitag wird ein ansehnliches Bündnis zivilgesellschaftlicher, humanitärer und humanistischer Kräfte vor dem Kanzleramt Forderungen vertreten, die so selbstverständlich wie unerhört sind: „Menschenleben dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Palästinensisches Leben ist genauso kostbar wie israelisches Leben.“ Und deshalb bitte keine doppelten Standards bei den Menschenrechten und im Völkerrecht.

Warum hat es fast ein Jahr gedauert, bis solche schlichten Grundsätze universellen Zusammenlebens mit Selbstbewusstsein auf einen zentralen Platz der Republik getragen werden? Weil wir ein trauriges, feiges, verlogenes Land geworden sind. Weil in diesem Jahr viele Hoffnungen zertreten wurden, nicht zuletzt die Hoffnung auf eine gelingende Einwanderungsgesellschaft. Weil wir eine defekte Demokratie sind, von oben wie von unten.

Hier also meine persönliche kleine Bilanz eines Jahres der zerronnenen Gewissheiten. Nachdem die deutsche Politik mit dem Völkermord an Juden und Jüdinnen die Unterstützung einer Kriegsführung begründen konnte, die andere Teile der Welt als Genozid betrachten, ist auf wenig mehr Verlass.

Die humanistische Substanz der offiziellen Erinnerungskultur hat sich als erschreckend dünn erwiesen. Und eine repressiv auftretende Staatsräson, der aus Mangel an Zivilcourage nur wenige widersprechen mögen, hat noch eine weitere Annahme erschüttert: nämlich den Glauben, das Gedenken an die NS-Verbrechen werde helfen, künftigem Faschismus und Autoritarismus vorzubeugen.

Noch können wir das Ausmaß der moralischen und intellektuellen Krise, die mit all dem einhergeht, kaum begreifen. Aus globaler Sicht umreißt der Historiker Enzo Traverso in seinem neuen Buch „Gaza im Auge der Geschichte“ diese Krise so: Wie die Erinnerung an den Holocaust im Gaza-Krieg missbraucht worden sei, „kann diese Erinnerung nur beleidigen und diskreditieren.“ Und er befürchtet: „Das Gedenken an den Holocaust wird seine erzieherische Kraft verlieren.“ Zahlreiche Menschen, die weltweit in der Holocaust-Education arbeiten, treibt eine ähnliche Sorge um, auch wenn sie zurückhaltender formulieren als Traverso. Warum wird diese Krise in Deutschland so wenig gespürt?

Nationales Sofa der gebildeten Schichten – Trägheit der Herzen und des Verstandes

Weil das Denksystem der Staatsräson nicht nur autoritär ist, sondern auch überaus komfortabel, eine Art nationales Sofa der gebildeten Schichten. Es erlaubt eine Trägheit der Herzen und des Verstandes, es erlaubt, sich moralisch überlegen zu fühlen, während man brennenden Fragen von Menschlichkeit aus dem Weg geht. So ist eine Mentalität vorsätzlicher Ignoranz entstanden: Als gebe es ein spezielles deutsches Recht, nicht zu wissen – nicht zu wissen, was genau in Israel, Gaza oder der Westbank vor sich geht oder wie gefährlich Israels radikale Rechte tatsächlich ist. Weil sich Deutsche in Watte packen, sich schützen müssen vor diesem Wissen. Sich bloß nicht berühren lassen, nicht herausfordern lassen, weder emotional oder intellektuell. Zu zweifeln wäre nicht mehr komfortabel.

Dies alles sind keine Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Sie zeigen eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, ein erwachsenes, reifes Gespräch mit sich selbst und der Welt zu führen. Wir sehen ein Land, das so lächerlich wie traurig Jagd auf Pappkartons mit „From the River to the Sea“-Slogans macht, anstatt eine kluge Diplomatie zu entwerfen gegenüber der politisch längst verflochtenen Realität zwischen Fluss und Meer.

Über Charlotte Wiedemann / Gastautorin:

Charlotte Wiedemann ist Autorin von Auslandsreportagen, Essays und Büchern, seit 2003 mit dem Schwerpunkt "Islamische Lebenswelten". Recherchen in etwa 30 außereuropäischen Ländern, darunter Iran, Pakistan, Ägypten, Jemen, Libyen, Saudi-Arabien, Libanon, Türkei, Syrien, Oman, Tunesien, Marokko, Usbekistan, ferner Nigeria, Swasiland, Kamerun, Senegal, Tansania, Sudan und besonders häufig Mali. Ihre hier übernommenen Texte sind zuerst in ihrer "Schlagloch"-Kolumne auf taz.de, für die sie in den 90ern als Korrespondentin in Bonn gearbeitet hat, erschienen.

Ein Kommentar

  1. Dr. Hanspeter Knirsch

    Liebe Frau Wiedemann,
    ich bin einigermaßen ratlos, warum gerade Frauen es in der Debatte um den Krieg im Gazastreifen und Israel nicht schaffen immer und unmissverständlich das Massaker vom 7. Oktober 2023 klar als das zu bezeichnen, was es war, nämlich ein Massaker mit all seinen Implikationen. Ich empfehle dazu die Lektüre von Marina Münkler in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Oktober 2024.
    Ich weiß auch nicht, worauf Sie ganz konkret den Vorwurf stützen, Deutschland rechtfertige die Art der Kriegsführung der Netanjahu Regierung mit dem Holocaust, die für jeden humanistisch gesinnten Menschen völlig inakzeptabel ist.
    Demonstrationen gemeinsam mit Anhängern der Hamas und der Hisbollah sind immer auch Demonstrationen für die Mullahs im Iran, wo Frauen bestraft werden, wenn das Kopftuch zu weit hinten sitzt. Wie man sich mit diesem Regime gemein machen kann, ist mir ein Rätsel.
    Proteste gegen die Regierung Netanjahu und deren Kriegsführung sind in jedem Fall berechtigt. Und natürlich sollte man nicht mit zweierlei Maß messen. Daran auch die Bundesregierung zu erinnern, kann nicht falsch sein. Schal wird die Kritik, wenn sie mit antisemitischen Ressentiments durchmischt ist.
    Freundliche Grüße
    Dr. Hanspeter Knirsch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© 2024 Beueler-Extradienst | Impressum | Datenschutz

Theme von Anders NorénHoch ↑