Brasiliens Nekropolitik während der Covid-19-Pandemie

Jair Bolsonaro, Präsident Brasiliens von 2018 bis 2022, verkündete in seinem ersten Amtsjahr in einem Interview, dass alle Favelabewohner*innen Kriminelle seien. Als die Covid-Pandemie ausbrach, war seine Politik offenbar nicht nur damit überfordert, das Überleben der eigenen Bevölkerung zu sichern, sondern schwenkte auf eine politische Linie ein, die die ärmeren Bevölkerungsgruppen bewusst dem Tod aussetzte. Diskriminierende Politik gegenüber den Favelas hat sich schon immer in Zwangsumsiedlungen und Kriminalisierung der Favelakultur (Samba, Capoeira, Funk) gezeigt. Doch spätestens seit 2020 muss die Politik gegenüber der Favela als Nekropolitik bezeichnet werden.

Brasiliens Favelas gründeten sich als Orte entlaufener Sklav*innen, die ab dem 16. Jahrhundert in der Zuckerrohrplantagenwirtschaft (später auch im Landesinneren im Goldabbau) Zwangsarbeit verrichteten. Im Laufe der Jahrhunderte stieg der Druck, die Sklaverei abzuschaffen. Schließlich lagen diese Siedlungen in der Nähe zu den Städten mit ihrem politischen Leben und die Favelas wuchsen weiter, da geflohene Sklav*innen aus den inländischen Fazendas zuzogen. Die Stimme der Abolitionist*innen, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, siegte schließlich. Im Jahr 1888 wurde in Brasilien, als letztem Land in Lateinamerika, die Sklaverei verboten. Segregierte Lebensräume und entsprechende ökonomische Verhältnisse blieben allerdings bestehen, sie sind bis heute erkennbar. Zahlen des Brasilianischen Institutes für Baurecht (Instituto Brasileiro de Direito Urbanístico) zeigen, dass Favelas den strukturellen Rassismus in Brasilien widerspiegeln: 67 Prozent der etwa 17 Millionen Favelabewohner*innen sind Schwarze (während Brasilien insgesamt 55 Prozent Schwarze Bevölkerung hat). Die Lebenssituation in den einzelnen Favelas ist unterschiedlich, aber strukturelle Probleme häufen sich hier ganz besonders. Es gibt Probleme mit der Abfallentsorgung, etwa 15 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu fließendem Wasser und fast 45 Prozent der Faveladxs leben ohne Abwasserversorgung. Gesundheitszentren waren schon vor der Pandemie überlastet.

Die erste Schwarze Infizierte war Empregada, eine Hausangestellte, die bei einer weißen Familie arbeitete. Die Familie war von einer Europareise Covid-positiv zurückgekehrt und steckte die Hausangestellte an. Während sie selbst krank war, pflegte sie die Familie und wurde schließlich (ohne getestet zu werden) heimgeschickt. Wenige Tage später erlag sie dem Covid-Virus. Die meisten Empregadas leben in Favelas und waren unmittelbar dem Infektionsrisiko ausgesetzt: auf der Arbeit, an ihrem Wohnort oder im öffentlichen Nahverkehr.

Bolsonaro und die Nicht-Politik

Eins ist klar: Der Vulnerabilität, also der Anfälligkeit eines Menschen oder einer Menschengruppe für Gefahren, kann politisch entgegengesteuert werden. Bei der Pandemie ging es darum, wie anfällig jemand ist, an Covid-19 zu erkranken, weil er*sie sich nicht schützen kann, oder um die Frage, wie wahrscheinlich es ist, aufgrund fehlender medizinischer Versorgung zu sterben.

Bolsonaro lehnte jegliche Bemühungen ab, das Ansteckungsrisiko einzudämmen und vulnerable Gruppen zu schützen. Für die Bevölkerung in den Favelas bedeutete dies oft das Todesurteil, da hier Maßnahmen wie Isolierung oder der Einsatz von Desinfektionsmitteln und Masken ohne Aufklärung und Unterstützung kaum umzusetzen waren.

Bolsonaros Kampagne „O Brasil não pode parar“ (Brasilien darf nicht stehenbleiben) dauerte zwar nur einige Tage im März 2020, sie verdeutlichte aber die Einstellung des Präsidenten im Hinblick auf die Risiken der Pandemie. 4,8 Millionen Real wurden einer Agentur (ohne Ausschreibungsverfahren) für diese Kampagne gezahlt, die dazu aufrief, weiter arbeiten zu gehen. In diesem Zeitraum breitete sich die Pandemie rasant aus. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden ignoriert, Priorität hatte die Wirtschaft. Bolsonaros Kampagne wurde bald eingestellt: Die zuständige Richterin Laura Bastos Carvalho ordnete an, dass die Regierung keine Verhaltensweisen propagieren dürfe, die gegen die Anweisungen von Gesundheitsministerium oder Epidemolog*innen verstießen. Bolsonaro überwarf sich mit Minister*innen, setzte neue ein, die mit ihm einer Meinung waren. In einer Zeit, in der 1000 Menschen pro Tag starben, schüttelte Bolsonaro Hände auf öffentlichen Großveranstaltungen und empfahl, nicht zugelassene Medikamente präventiv zu konsumieren. Kommunale und bundesstaatliche Regierungen widersprachen diesen und vielen weiteren (Nicht-)Entscheidungen der Bundesregierung. Sie folgten den Veröffentlichungen der Weltgesundheitsorganisation, schlossen Schulen und teilweise Grenzen zwischen den Bundesstaaten, schränkten den öffentlichen Nahverkehr, Tourismus und Handel ein. All dies gelang nur deswegen, weil sich die Justiz immer wieder einschaltete und Bolsonaro daran hinderte, den Bundesstaaten solche Maßnahmen zu verbieten.

Unterschiedliche Einkommensverluste

Im März 2021 überschritten die offiziellen Todeszahlen die 300000er-Marke. Dabei gab es signifikante Unterschiede zwischen den Todesraten der unteren Einkommensklassen und der oberen: In São Paulo starben während der ersten Welle (März bis Mai 2020) 4000 Menschen. 66 Prozent davon verdienten monatlich weniger als 3000 Real (etwa 500 €), während nur 1 Prozent der Verstorbenen über 19000 Real (etwa 3100 €) verdienten. Data Favela, eine Organisation, die Daten zum Leben in den Favelas erhebt, stellte fest, dass 72 Prozent der Favelabewohner*innen nach nur einer Woche Isolation kein Geld mehr hatten. Hier stellte sich die Frage: Entweder krank arbeiten gehen, Ansteckungen, Langzeitschäden und den Tod riskieren, dafür aber Lebensmittel kaufen können, oder Isolierung und dafür schnell an die eigenen finanziellen Grenzen geraten und das Überleben auf diese Weise gefährden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Schwarze Menschen, die vermehrt in prekären Arbeitsverhältnissen steck(t)en, in dieser schwierigen Zeit 86 Prozent und weiße „nur“ 6 Prozent ihres Einkommens verloren. In einigen Favelas starben Covid-Infizierte, ohne jemals eine Gesundheitseinrichtung erreicht, ohne staatliche Aufklärung oder Unterstützung bekommen zu haben. Wer in einer Favela wohnte, hatte also eine zehnfach höhere Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, als jene, die in besser situierten Vierteln lebten; Schwarze Menschen eine 62 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben als weiße.

Zivilgesellschaft und Nekropolitik

Während die staatliche Politik versagte, versuchte die Zivilgesellschaft den Nekropolitiken entgegenzuwirken. Zum einen gibt es Berichte über kriminelle Banden, die Ausgangssperren verhängten oder Masken und Desinfektionsmittel zur Verfügung stellten und so als eine Art parallelstaatliche Institution auftraten. Zum anderen gründeten sich NGOs wie G10, eine Organisation aus Paraisópolis (Favela in São Paulo). Sie organisierte Hygieneschulungen, richtete zwei geschlossene Schulen als Aufenthaltsorte für positiv Getestete ein und besorgte Krankenwagen mit medizinischem Personal, da die städtischen aufgrund des hohen Bedarfs selten bis gar nicht in die Favela fuhren. Außerdem startete sie ein Programm namens „Adote uma Diarista“ (Adoptiere eine*n Hausangestellte*n), das die Ernährung und hygienische Ausstattung von 1000 informellen Hausangestellten mitfinanzierte. Dieses zivilgesellschaftliche Programm hatte so viel Erfolg, dass es in 14 weiteren Staaten übernommen wurde.

Die schlechte medizinische Versorgung, die prekären Lohnarbeits- und finanziellen Verhältnisse und die hygienischen Standards, die allesamt Folge kolonialrassistischer Strukturen sind, bestanden bereits vor der Pandemie und vor dem Amtsantritt Jair Bolsonaros. Es wäre irrig, zu glauben, er sei derjenige, der Nekropolitiken in Brasilien etabliert hat. Fakt ist jedoch: Er hat sie auf ein neues Level katapultiert. Durch seine Nicht-Handlungen und das ignorante Herunterspielen des Virus hat er eine Politik des Todes über eine Gruppe von Menschen ergehen lassen, die Steuern zahlen und die mit ihrer Arbeitskraft bei den reichen Menschen die Kinderbetreuung, Reinigungsarbeiten und Lebensmittelversorgung sicherstellen. Diese Nekropolitik, die über das Leben von über 17 Millionen Brasilianer*innen hinweggeht, ist Klassismus und Rassismus „in a nutshell“. Es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Menschenleben unter einem anderen Präsidenten hätten gerettet werden können. Dass Bolsonaro die Wirtschaft vor das Leben von Millionen von Favelabewohner*innen stellte und so Tausende sterben mussten, bleibt jedoch unbestritten.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 479 Okt. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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Über Katharina Köhler / Informationsstelle Lateinamerika:

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