Olaf Scholz ist der Kragen geplatzt und er hat Christian Lindner entlassen. Mit einer ungewöhnlich emotionalen, von persönlichen Vorwürfen der Verantwortungslosigkeit in schwierigen politischen Situationen gespickten Rede hat der Bundeskanzler geschildert, dass es ihm und der Mehrheit der Regierung darum gegangen sei, zum einen die Stärkung der Verteidigung angesichts des Ukraine-Krieges und andererseits Hilfe für die schwächelnde Wirtschaft zu finanzieren. Die FDP sei ausdrücklich nicht bereit gewesen, die notwendigen Investitionen im Bundeshaushalt durch die Erklärung der Notlage wie im Haushalt 2023  oder die Modifikation der Schuldenbremse zu ermöglichen, um der Ukraine mit 3 Mrd. € vor dem bevorstehenden Winter beiszuspringen.

Dafür habe jedoch der Finanzminister trotz Angeboten aus den Koalitionsparteien, auf die FDP zuzugehen, ultimativ auf Lindners  “Papier” beharrt und keinerlei Bereitschaft gezeigt, die vier Punkte des Kanzlers und wohl auch der Grünen:

1. Verbilligung der Energie durch Senkung der Netzentgelte,

2. ein Paket zur Stärkung der Auto- und Zulieferindustrie;

3. Investitionshilfen und Steuersenkungen für die Wirtschaft und

4. Erhöhung der Unterstützung für die Ukraine

mitzutragen. Diese habe Lindner gar nicht diskutieren wollen, und das reichte denn wohl. Zu oft habe er Kompromisse wieder aufgeschnürt, öffentliche Eklats inszeniert und von vereinbarten Schritten wieder abgerückt und sich geweigert, sich zu bewegen, so der Kanzler in seltener Emotionalität.,

Unüberbrückbare Gegensätze

Die Grünen haben sich dazu differenziert erklärt: Die Entlassung von Lindner sei so folgerichtig, wie unnötig, so Wirtschaftsminister Habeck, man habe einen Haushalts- Überschreitungsbeschluss gefordert, um die äußere Sicherheit und die stabile innere Sicherheit in schwierigen Zeiten zu gewährleisten, so Außenministerin Baerbock. Lindner wiederum wiederholte seine wohl bekannten Gründe aus seinem Scheidungspapier vergangener Woche, Bürokratieabbau, Steuersenkungen, Kürzungen des Bürgergelds und Wende in der Wirtschafts- und Abstriche in der Umweltpolitik. Die Schuldenbremse wurde von Lindner zum Dogma erklärt und damit war jeder Spielraum einer Regierung angesichts der historischen Situation kriselnder Wirtschaft, eines europäischen Krieges, in dem der Ukraine die Unterstützung aus den USA verloren zu gehen droht, offensichtlich perdu.

Scheinbar anlasslose Provokation zum ungeeignetsten Zeitpunkt

Das, was sich geplant oder ungewollt am Tage des Wahlsiegs Donald Trumps entwickelte und damit zu einer beispiellosen und in ihren Folgen unabsehbaren Destabilisierung der bundesdeutschen Regierung, aber auch der EU durch die Regierungskrise ihres wirtschaftlich stärksten Landes  auswuchs, ist in der Tat verursacht durch mangelndes Verantwortungsbewusstsein eines Koalitionspartners der Bundesregierung, dem das politische Wasser bis zum Hals steht. Seit Monaten, wenn nicht mehr als einem Jahr, fragen sich auch der FDP gewogene Sympathisanten, welches Spiel Lindner und seine “Buddies” Djir-Sarai, Dürr und Buschmann in der Koalition treiben. Selbst entspannte Grüne bekennen im Gespräch “unter drei”, dass sie ja verstünden, was Lindner macht, wenn die FDP dadurch bei 9 Prozent stünde. Aber selbst altverdiente, prominente FDP-Mitglieder beklagen, dass ihre Partei in Brandenburg bei 0,9 und anderswo bei 1,2 Prozent steht – ohne Aussicht auf ein Licht am Ende des Tunnels und ohne jeden erkennbar liberalen Kurs Lindners.

Wie geht es nun weiter?

Zunächst geht es natürlich – wie beim Verrat der FDP an der sozialliberalen Koalition Helmut Schmidts 1982 – um gegenseitige Schuldzuweisungen und um die Deutungshoheit der Krise. Diese könnte aufgrund der zahlreichen Indiskretionen und Provokationem, die der aktuellen Lage vorausgegangen sind, wesentlich eindeutiger als 1982, für die SPD und Grüne als Koalitionspartner ausgehen. Aber anders als 1982 fehlen die damals sozialliberal-sensiblen Journalist*inn*en des demokratischen Bonn. Im überwiegend konservativ-reaktionären Umfeld der Berliner Journalist*inn*enblase sind Umdeutungen und Überraschungen der Schuldfrage durchaus zu erwarten. Einen Haushalt für 2025 wird es absehbar nicht geben, aber die geschäftsführende Regieung bleibt handlungsfähig im Rahmen einer prozentualen Fortschreibung des 24er Haushaltes. Aber es gibt existenzielle Gesetze, wie etwa die bereits mit der CDU/CSU ausverhandelte Verfassungsänderung zur Stärkung des Bundesverfassungsgerichts, um dieses resistent gegenüber einfachgesetzlichen Angriffen von Populisten zu machen, denen sich die Union nicht verweigern kann. Allerdings steht in den Sternen, ob noch Gesetze, die bis zur Beschlussreife gebracht worden sind, wie die Anpassung der Steuerprogression oder bestimmte EU-Anpassungen, die, würden sie nicht noch in diesem Jahr beschlossen, Strafen der EU wegen nicht-Umsetzung gemeinsamen Rechts nach sich zögen.

Wie soll es gehen und was ist noch realisierbar?

Ein wesentlicher Unterschied zu 1982 ist, dass die FDP nicht einfach den Koalitionspartner wechseln kann, weil die Mehrheiten nicht reichen. Olaf Scholz hat erklärt, am 15. Januar die Vertrauensfrage stellen und bis dahin wichtige Gesetzesvorlagen und den Haushalt 2025 noch verabschieden zu wollen. Dies ging einher mit der Ankündigung des Kanzlers, diese Fragen auch unter Beteiligung der Opposition lösen zu wollen. Für die FDP, die es verdient hätte, aber auch für die Grünen, tut sich hier eine üble Falle auf. Was, wenn Olaf Scholz hier bereits die GroKo anstrebt und probt, die nach Umfragen als einzig realistische Alternative nach Neuwahlen gemäß dem derzeitigem Stand möglich wäre? Merz’ brüske Reaktion auf die Vertrauensfrage erst im Januar zeigt, dass er genau das fürchtet. Zuviel staatspolitische Nähe zur SPD, – und damit stellt Merz wieder unter Beweis, dass es ihm nicht um politische Verantwortung geht, sondern um die Macht, – koste es, was es wolle. Dass er dabei – wie Trump – seine Agitation gegen Flüchtlinge und illegale Einwanderung weiter betreibt, damit stellt er sich auf die Seite der Populisten, die jede Chance nutzen, um an die Schalthebel der Macht zu kommen.

Die erste Minderheitsregierung in Deutschland?

In vielen Europäischen Ländern sind Minderheitsregierungen an der Tagesordnung. In Österreich, Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Spanien, Belgien, Griechenland, sogar in Frankreich keine unbekannte Regieungsform. Nur in Deutschland wird dieser Weg traditionell negativ besetzt – aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Republik mit Minderheitsregieungen, wobei verkannt wird, dass die Weimarer Verfassung und die Möglichkeit, per Notverordnung zu regieren und die Selbstauflösung des Parlaments im Grundgesetz aus guten Gründen fehlen. Deshalb ist auch die Stellung einer Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz sehr stabil: Wenn die Opposition nicht von einem konstruktiven Mißtrauensvotum zur Wahl eines neuen Kanzlers Gebrauch machen kann, wofür die CDU neben der FDP auch die AfD, Linke und BSW brauchen würde, was sie politisch nicht durchhält, könnte die Rot-Grüne Minderheitsregieung theoretisch bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleiben. Die politische Glaubwürdigkeit stünde freilich auf einem anderen Blatt.

Bemerkenswertes Verhalten Volker Wissings

Dass Volker Wissing, einer der Architekten der Ampelkoalition, sein Ministerium weiterführt und aus der FDP austritt, ist ein durchaus bemerkenswerter Vorgang. Da zeigt jemand, der ja schon in der Vergangenheit keineswegs als rot-grüner Parteigänger bekannt ist, Rückgrat. Das ist nicht verwunderlich vor dem persönlichen Hintergrund, dass Volker Wissing als Mitinhaber einer erfolgreichen Anwaltskanzlei und vielfältiger Unternehmer materiell völlig unabhängig ist und allein nach seinem Gewissen handeln kann. Was von der FDP in Zukunft noch zu erwarten ist, wird sich vermutlich auf den Begriff ideologische Schuldenbremse und Sozialabbau nebst Steursenkungen für Unternehmen und Reiche reduzieren und sich damit Donald Trumps Wirtschaftspolitik annähern. Ob mit diesem Programm 5% der Wähler*innen zu erreichen sein werden, darf bezweifelt werden. Erfreulich für die Bürgerrechte ist, dass es nach dem Eigentor der CDU/CSU-Länder im Bundesrat keinen neuen Anlauf im Vermittlungsausschuß geben wird. Das sogenannte „Sicherheitspaket“ ist vorerst gestorben.

Völlige Neuorientierung der Grünen Bundesversammlung?

Was bedeutet das insbesondere für die Grünen? So schickte sich bisher Robert Habeck offenbar an, als Kanzlerkandidat anscheinend gegen jede Selbstachtung, monatelang gebasht von Merz und Söder, ein schwarz-grünes Abenteuer auf Bundesebene anzustreben. Die Umbildung des Parteivorstandes, dessen Sprecher*in als Bauernopfer kürzlich zurücktreten mussten, wird ihm als Initiator zugerechnet. Was wird Habeck nun dem Grünen Parteitag in Wiesbaden vom 15.-17.November als Perspektive anbieten? Etwa Merz’ und Söders Ohrfeigen von rechts auch die linke Backe hinzuwenden? Dieses Szenario könnte vor dem Hintergund der Trump-Wahl, der Unsicherheit vor einer neuen Zeitenwende in der Ukraine und den sinkenden Umfragewerten vor allem in den schwarz-grün regierten Länder so manche Basisgrüne zur Nachdenklichkeit bewegen. Spätestens bei der Analyse der Koalitionen in Hessen, Schleswig-Holstein und NRW und ihrer Bilanz zugunsten grüner Inhalte wie etwa der Bürger*innen*rechte, der Asylpolitik, der Kinderrechte sowie der Förderung sozialer Projekte deutlich negativ ausfallen.

Neubestimmung des Grünen Kurses: Grün pur muss wieder deutlich werden

Im Eigeninteresse der Grünen ist eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln dringend notwendig. Denn das Auftreten von BSW und AfD, wachsender Unzufriedenheit auch demokratischer Minderheiten mit der Politik auf Bundesebene ohne lokalen Bezug, bricht Fragen auf, die noch vor 20 Jahren von den Grünen beantwortet werden konnten. Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Initiativen, Offenheit für Nichtmitglieder, Anhörungen vor Ort, Vorgehen gegen Korruption und Vetternwirtschaft, alles Stärken der Grünen Partei! Aber auch ein klares Profil als Klimapartei, Bürgerrechtspartei, sozialer und friedenspolitisch orientierter Partei bedürfen der dringenden Neubestimmung – nicht im Sinne der Aufweichung der Ziele, sondern von der wirkungsvollen Profilierung, bis zur besserer Abstimmung unter den G-Ländern. Dass der grüne NRW-Justizminister etwa der grünen Bundestagsfraktion in der Frage der Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen in den Rücken fällt, ist ein strategisch fataler und insgesamt für die Bürgerrechte schädlicher Vorgang. Das bedarf der Diskussion, die nicht stattgefunden hat. Machen die Grünen so weiter, werden sie sehr begrenzten Erfolg haben, bleibt nicht einmal die glaubwürdige Opposition.

Grüne Standortbestimmung nach der Ampel nötig

Das o.g. Beispiel der Bürgerrechtspolitik macht deutlich, wie essentiell eine Neubestimmung der Grünen Partei in und nach der Ampelkoalition wäre. Innerhalb von einer Woche haben sich so viele Parameter der Rahmenbedingungen für Politik geändert, dass eine solide Analyse und die Entwicklung einer wirkungsvollen Strategie für die nächsten Monate und darüber hinaus mehr als notwendig erscheint. Das Agieren der ehemaligen Koalitionspartner, das natürlichen Streben der SPD zu einer Großen Koalition, ist absehbar und offensichtlich. Es ist an den Grünen, sich von den Verirrungen schwarz-Grüner Bündnisse zu lösen, die eigenen Politikspielräume auszuloten und nicht zu vergessen, dass die Grünen eine Partei sind, die wieder mit außerparlamentarischen Bewegungen und Initiativen vor Ort zusammen arbeitet.

Was ist von der Linken und dem BSW zu erwarten?

Die von der SED bekannte, hierarchische Organisation des BSW nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“, zeigt sich derzeit durch die zentrale Steuerung der Koalitionsgespräche in den drei Ländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen durch die „Große Vorsitzende“ Sarah Wagenknecht. Ihre Interventionen in den Landesverbänden, ihre Strategie, nur handverlesene Mitglieder in die Personenkultpartei aufzunehmen, scheint zumindest im Westen nicht auf große Gegenliebe zu stoßen, denn das BSW hat in den Umfragen zwei Prozent verloren. Zudem ist das BSW trotz getöne Wagenknechts nach „sofortiger Vertrauensfrage“ noch lange nicht in allen Bundesländern durch Landesverbände vertreten, kann also zeitnah auch gar keine Listenkandidat*innen für den Bundestag aufstellen. Ein schneller Wahltermin könnte für sie nach hinten losgehen.

Ob es für die „Linke“ noch eine Perspektive gibt, ist offen. Der Parteitag hat voll auf die Möglichkeit, wieder mindestens drei Direktmandate zu gewinnen gesetzt und versucht mit dem international anerkannten und profilierten Atomwaffenexperten Jan van Aken und seiner wenig bekannten Ko-Sprecherin Iris Schwerdtner eine Rückkehr in den Bundestag. Erst kürzlich sind in Berlin der Ex-Jungdemokrat und ehemalige Kultursenator Klaus Lederer und mit ihm einige weitere Mitglieder aus der „Linken“ ausgetreten. Grund waren Meinungsverschiedenheiten über die Frage des Antisemitismus von Links.

Destabilisierung durch die AfD

Die rechtsextreme AfD hat sowohl die Wahl Donald Trumps begrüßt, als auch den Bruch der Koalition mit Häme und Genugtuung zur Kenntnis genommen. Im Wahlkampf werden die Rechtsextremisten wohl kaum Schwierigkeiten haben, ihre bekannten Fake News an den Mann und die Frau zu bringen, werden sie in Berliner Journalistenkreisen inzwischen ohne jede Scham wie die anderen demokratischen Parteien behandelt. So hat die Bundesanwaltschaft am 31.10. in Sachsen eine Terrorgruppe unter Beteiligung von drei AfD-Mitgliedern ausgehoben, die plante, nach einer gewaltsamen Übernahme der Macht in Sachsen dort eine nationalsozialistischen Staat auszurufen. Am gleichen Abend saß die AfD- Politikerin von Storch bei Bettina Maischberger vor einem Publikum von tausenden Zuschauern – ohne dass die Journalistin die Rechtsextremistin auf die Verstrickung der AfD in den Rechtsterrorismus auch nur angesprochen hätte. Es wird hart werden im Wahlkampf und die Berliner Medienblase wird das ihre dazu tun, dass Bürgerinnen und Bürger gegen selbst den Arsch huh, Zäng ussenander beommen müssen – gegen Populismus, Rassismus und einfache Antworten auf schwierige Fragen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net