Wolfgang Lieb hat es in seinem Artikel aufgezeigt: das “Scheidungspapier” der FDP war der Versuch Lindners, seiner an die Wand gefahrenen Partei so etwas wie das Mäntelchen einer fadenscheinigen Begründung für  ihr von Anfang an  destruktives und asoziales Verhalten in der Ampelkoalition zu verschaffen. Es ist aber – im Gegensatz zum “Lanmbsdorff-Papier” 1982 – nicht in irgendeiner Weise in Einklang mit der historischen Problemstellung zu bringen. Denn diese ist im Gegensatz zu 1982 nicht so, dass der damals westdeutsche Kapitalismus für die Ankurbelung der Wirtschaft aus dem Vollen schöpfen konnte. Damals steckte hinter “Reaganomics” die schon damals falsche Annahme,  wenn die Reichen mehr hätten, ginge es automatisch auch allen besser. 

Lindner ignoriert den materiellen Zerfall jahrzehntelang kaputt gesparter Infrastruktur bei gleichzeitig exponentiell steigender Umweltzerstörung, sowie die Realität der asymmetrischen Kriege in Europa (Ukraine, demnächst vielleicht Moldavien und Georgien), im Nahen Osten (Israel, Palästina, Gaza, Libanon, Somalia und Iran) und entpuppt sich damit als Klima- und Kriegsleugner.

Christian Lindners Horizont scheint wirklich nicht weit genug zu reichen, um zu erkennen, dass eine Bundesregierung in dieser Lage alles tun müsste, um ihren Amtseid zu erfüllen, Schaden abzuwenden und dafür mssiv zu investieren. Oder um es anders auszudrücken: in Zeiten des europäischen Krieges gegen Oligarchien und der Machtergreifung eines solchen in den USA, stabile Zustände herzustellen, kann nicht aus der Portokasse finanziert werden. Hierzu bedarf es der ökonomischen und ökologischen Umbauprozesse.

  1. Der massiven Förderung von Investitionen zum klimaneutralen Umbau der Wirtschaft und Energieerzeugung, sowie der Ansiedlung von neuen Industrien und Start-Ups.
  2. Der massiven Reparatur, Modernisierung von Infrastrukturen von Schiene, Straße, digitaler Übertragungstechnik, und sämtlicher Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten.
  3. Eines massiven Wohnungsbauprogramms mit unkonventionellen Mitteln, die Umwidmung von Büroraum, Zwangsbewirtschaftung von Schrottimmobilien bis zur Enteignung.
  4. Eines klugen und arbeitsteilig mit der EU und den Europäischen NATO-Mitgliedern zu planendes und die Verteigigungsfähigkeit optimierenden Ertüchtigungs- und Investitionsprogramm, um den Frieden in Europa mittelfristig auch ohne die USA zu sichern.
  5. Eine attraktive Einwanderungsgesetzgebung, die das Problem des Arbeitskräftemangels in der EU zu beseitigen hilft.

Das kostet in der nächsten Legislaturperiode zwischen 800 Milliarden bis 1 Billion Euro, die natürlich die Aufnahme von Krediten erfordern, die aber zusätzlich nur durch eine zielgerichtete Besteuerung von Vermögen, Gewinnen und der Lenkungswirkung von Abgaben zu erreichen sind. Die Zeit der Geschenke an Oligarchen ist vorbei.

Realitätsverweigerung der FDP

Die FDP Lindners träumt von 10% für die folgende Zukunftsutopie. Zerrüttete Brücken, bröckelnde Gebäude, marode Straßen, defekte und verspätete Züge, klapprige Straßenbahnen, fehlende Busse und Fahrer, vorsintflutliches Internet und keine Ladeinfrastruktur für E-Autos – das ist es, was Lindner der Jugend als Ergebnis der Schuldenbramse hinterlassen will.

Mehr Gewinne für Konzerne, wie Volkswagen, Mercedes-Benz und BMW, die noch vor wenigen Monaten ihren Aktionär*innen Milliarden in den Rachen geworfen haben, um jetzt Gewinneinbrüche zu erklären, oder – der dreisteste Coup – dass VW nahezu Pleite sei und deshalb sparen und drei Werke in Deutschland schließen müsse. Dabei sind deren Absatzprobleme vorstandsgemacht, haben die Volks(!)wagen-Bauer dieselbe idiotische Strategie von Mercedes und BMW kopiert, und statt eines Volks-E-Wagen nur noch riesige E-SUVs der Mittel- und Oberklasse jenseits der 60.000 € gebaut. Und mit der Streichung von A-Klasse, 1-er BMW und Audi A1 gleichzeitig die junge Einsteigerklasse den Hyundais, Toyotas, Renaults und vor allem chinesischen Herstellern überlassen.

SPD und Grüne gegen Schwarz-Gelb?

Das alles ist so einfach und offensichtlich, um nicht von der Mehrheit der Bürger*innen erkannt zu werden, wenn es ihnen konsequent erklärt und Alternativen offensiv vertreten würden. Rot-Grün gegen Schwarz und nicht vorhandenes Gelb. Stehen die Grünen, die sich in der Vergangenheit für die Aufklärung in Deutschland eingesetzt und dabei durchaus um das Land verdient gemacht haben, noch auf der richtigen Seite? Eine große Zahl der Mitglieder ist zu Bellizisten geworden und übt sich außenpolitich in der Schwarz-Weiss Rhetorik von Annalena Baerbock. Viele Basismitglieder wiederum sind mit der Regierung unzufrieden, weil sie keine Kindergrundsicherung durchsetzte, aber bereit war, das Bürgergeld abzubauen – und weil sie asoziale und verfassungswidrige Asylbeschlüsse gebilligt hat, die das Problem der Flucht und Migration nicht beseitigen. Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Thema der Grünen, linksliberalen Wähler*innenschaft sind die Zustimmung zu weitergehenden Grundrechtseinschränkungen durch die derzeit gestorbenen “Sicherheitsgesetze”, bei denen NRW (Benjamin Limbach) und Baden-Württemberg (Winfried Kretschmann) den Bundesgrünen bei der Vorratsdatenspeicherung sogar in den Rücken gefallen sind.

Die Grünen stehen am Scheideweg

Die Ampelkoalition war wegen der Lindner-FDP nicht in der Lage, den dringenden Veränderungebedarf der Gesellschaft, der weiter auf eine Lösung wartet,  sozial und gerecht umzusetzen. Die FDP wanzt sich nun wieder bei der CDU an und hat kein Problem, eine rückwärts gewandte, reaktionäre Politik anzustreben, nachdem sie an der “Fortschrittskoalition” gescheitert ist. Was für eine Zukunft war das, die nach knapp drei Jahren schon vorbei ist, was für ein Fortschritt, der nach drei Jahren vor der Schuldenbremse endet? Aber die Grünen müssen sich die Frage nach ihrer Mitverantwortung stellen. Waren sie es nicht, die in den 80er und 90er Jahren in der Opposition vehement die Schuldenbremse forderten, sie – ad personam Oswald Metzger – geradezu erfanden haben?

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net