Alle reden über die AfD. Wir reden über menschenfeindliche Politik
In atemberaubendem Tempo werden von der Bundesregierung Gesetzesverschärfungen etabliert, die noch vor wenigen Jahren hinsichtlich ihrer grund- und menschenrechtlichen Dimensionen undenkbar schienen. Vorgeblich, um Ereignisse wie die tödlichen Attentate in Mannheim und Solingen zu verhindern, werden Maßnahmen durchgesetzt, die ganze Personengruppen als „Terrorist*innen“ unter Generalverdacht stellen und entrechten.
Eine nichtdeutsche Nationalität wird zum zentralen Kriterium erhoben. Insbesondere schutzsuchende Afghan*innen und Syrer*innen werden dämonisiert. Doch dieser Frontalangriff auf Freiheits- und Menschenrechte wird weder Gewalttaten verhindern noch Sicherheit schaffen – im Gegenteil: Er zementiert Verhältnisse, die Entrechtung und Gewalt begünstigen.
Die Bundesregierung missbraucht die Anschläge dazu, lange Zeit nur von der extremen Rechten geforderte Ausgrenzungs- und Überwachungsfantasien in Gesetze zu gießen. Gleichzeitig werden Budgets für soziale Infrastrukturen und politische Bildung drastisch gekürzt. Diese Politik ist auf allen Ebenen desaströs.
Zweierlei Mass und schrumpfende Distanz
Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zeigen, dass das Konzept, die AfD zu imitieren, um ihr Zustimmung zu entziehen, nicht aufgeht. Das Vorgehen von Ampel und Union ist voller perfider Doppelmoral. Während sie, vorgeblich im Versuch die AfD zu schwächen, rassistische Stimmungsmache betreiben, wird menschenfeindliche Politik normalisiert. Gleichzeitig behaupten sie, sich von der AfD zu distanzieren. Dabei stellen sie sich selbst als lupenreine „Demokratinnen und Demokraten“ dar und blenden die eigene, menschenfeindliche Politik aus.
Auch die Vorgänge in der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags zeigen, wie weit die politischen Maßstäbe inzwischen verrutscht sind. Der von der AfD gestellte Alterspräsident des Landtags, Jürgen Treutler, hatte mehrfach die Annahme von Anträgen anderer Fraktionen verweigert. Die AfD hebelte damit das Selbstorganisationsrecht des Parlaments und das Demokratieprinzip aus, was zurecht massive Kritik hervorrief und Forderungen nach einem Verbot der AfD neuen Auftrieb verlieh.
Es führt also zu einem bundesweiten Aufschrei, wenn die AfD den Parlamentarismus ad absurdum führt. Dagegen werden die massiven Angriffe auf Grund- und Menschenrechte von Bundes- und Landesregierungen aus Ampel-Parteien und Union, wie zuletzt im „Sicherheitspaket“, öffentlich nur von einer Minderheit als problematisch benannt und größtenteils hingenommen. Maßnahmen, die die Menschenwürde beeinträchtigen und Freiheitsrechte und demokratische Prinzipien schädigen, scheinen dann kein Tabu zu sein, wenn sie nicht von der AfD, sondern von Parteien der „Mitte“ vorangetrieben werden.
Dieser doppelte Maßstab zeigt sich auch in der Debatte über ein Verbot der AfD. Als Grundrechtekomitee haben wir die Forderung nach einem AfD-Verbot in den letzten Monaten mehrfach problematisiert und aus radikaldemokratischer Sicht kritisiert. Die aktuelle Richtung der Verbotsdebatte bestätigt unsere Skepsis. Die Argumentation für ein AfD-Verbot fokussiert auf das (richtige) Argument, die Politik der Partei verletze die Menschenwürde. Damit die darauf basierende Verbotsforderung greift, müssen allerdings die übrigen Parteien und ihre Politik als gerade noch vertretbar dargestellt werden.
Auf diese Weise wird die fortschreitende Rechtsverschiebung einer zunehmend autoritären „Mitte“ ausgeblendet, um die AfD problematisieren zu können. Als Folge erscheint die Politik von Ampel und Union, samt ihrer sicherheits- und asylpolitischen Angriffe auf Menschenwürde und Freiheitsrechte als gemäßigt, demokratisch und human. Diese künstliche Dichotomie zwischen der Politik der AfD und den aktuellen Gesetzesverschärfungen sowie den noch darüber deutlich hinausgehenden Forderungen aus den übrigen Parteien verstellt eine klare Analyse der aktuellen Tendenzen und ihres repressiven Gehalts.
Ist Menschenwürde relativierbar?
Das Bundesverfassungsgericht entwickelte in seinem Urteil zum zweiten NPD-Verbotsverfahren ein moderneres und weniger Staatsschutz-zentriertes Verständnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, das die Menschenwürde ins Zentrum stellt: „Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit“. Auf diese neuere Auslegung stützen sich viele Verbotsforderungen.
Aber wird das Prinzip elementarer Rechtsgleichheit weniger verletzt, wenn die Zurückweisung speziell syrischer Schutzsuchender an der Grenze oder die Abschiebung von als „Straftätern“ gelabelten Menschen afghanischer Herkunft in das Bürgerkriegsland Afghanistan, nicht von der AfD, sondern von Ampel-Parteien und Union gefordert und umgesetzt wird?
Ist die in Artikel 1 GG geschützte Menschenwürde dann weniger angetastet, wenn der Angriff auf sie von den etablierten Parteien verantwortet wird und nicht von der AfD? Lässt sich die Menschenwürde relativieren, je nachdem, durch wen sie verletzt wird?
Tatsächlich greift das durch Ampel-Parteien und Union am 18. Oktober beschlossene „Sicherheitspaket“ die Menschenwürde in vielfacher Weise an. Ausreisepflichtigen Asylbewerber*innen werden die Sozialleistungen gestrichen, damit werden unzählige Menschen in Illegalisierung, Wohnungslosigkeit und Verelendung getrieben. Anlasslose, verdachtsunabhängige Poliizeikontrollen werden an vielen öffentlichen Orten möglich. Dies muss als Auftrag für systematisches racial profiling verstanden werden.
Der geplante automatisierte Fotoabgleich per Gesichtserkennung und Künstlicher Intelligenz ist der Schritt hin zu dystopischen Überwachungsbefugnissen, bei der nur die konkrete Ausgestaltung noch umkämpft ist. Vereinzelt wurde innerhalb der Parteien Kritik laut und das ist zu begrüßen. Bereits Ende September verkündeten erst der Bundesvorstand der Grünen Jugend und in der Folge Vorstände mehrerer Landesverbände ihren Rücktritt und teilweise ihren Parteiaustritt. SPD-Mitglieder und vereinzelte Abgeordnete distanzierten sich vom „Sicherheitspaket“. Der begleitende Diskurs stärke „rassistische und ausgrenzende Narrative“. Dennoch: Ein Großteil der Mitglieder von Grünen und SPD folgt der Rechtsverschiebung ihrer Parteien.
Soziale und demokratische Politik
Demokratie und Menschenwürde in Europa werden heute nicht allein von der extremen Rechten bedroht. Relevante Kräfte in der AfD und in vergleichbaren europäischen Parteien wollen die liberale Demokratie zerschlagen und faschistische Führerstaaten errichten. Sie sind eine immense politische Gefahr. Doch die politischen Projekte von AfD und Co. werden durch die zunehmend antidemokratische und autoritäre Politik der anderen Parteien forciert und befördert.
Extrem rechte Parteien könnten ohne eine sie umgebende und eine sie stärkende Gesellschaft und Diskurslandschaft nicht existieren. Eine sich als antifaschistisch verstehende Linke sollte an sozialen, ökologischen und demokratischen Lösungen für die komplexe Gegenwart – welche durch eine Vielfachkrise aus Klimawandel, Verteilungskriegen und sozialen Verwerfungen gekennzeichnet ist – arbeiten und dies von allen Parteien einfordern. Stattdessen wird sich auf eine Verbotskampagne des gefährlichsten politischen Akteurs fokussiert und eine klare Trennung zwischen der autoritären „Mitte“ und extrem rechten Kräften behauptet, welche faktisch nicht länger besteht.
Von dieser Simplifizierung der Welt profitiert die AfD und die extreme Rechte allgemein. Allerdings nicht nur, weil sie vorgeblich einfache Antworten auf komplexe gegenwärtige Probleme gibt, indem sie die Migration nach Europa als zentrales Problem entwirft, sondern auch, weil alle anderen Parteien eine vergleichbare Vereinfachung betreiben. Stumpf wird eine Politik vefolgt, die die realen Widersprüche der Vielfachkrise ignoriert und das gegenwärtige, neoliberal-autoritäre Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell trotz aller Verwerfungen aufrechterhalten soll.
Die politischen Prinzipien der Menschenwürde und der Menschenrechte werden somit gegenwärtig von autoritärer und rechter Seite immer weiter entleert. Es ist an uns, den emanzipatorischen Gehalt dieser Konzepte zu verteidigen und weiterzuentwickeln und an kompromisslosen Definitionen von Menschenrechten, Menschenwürde und radikaler Demokratie festzuhalten.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von grundrechtekomitee.de, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Einige Links wurden ergänzt. Dank an Helmut Lorscheid für die Vermittlung.
Danke für die Übernahme an Martin Böttger und Danke an das Komitee für diesen wirklich guten Text.