Alwys hatte Kopfschmerzen von den blauen Gauloises. Auch schmeckte ihm das Bier mit dem Römerimage nicht. Nur in der Mischung mit vielen Zigaretten war es einigermaßen erträglich, musste aber irgendwie sein. Drei von diesem Ganze-Kerle-Pils reichten ihm, so auch heute. Bei seinem Lieblingsthema – sage mir, was du hörst und ich sage dir, was du bist: Das endete meist mit einem politisch aufgeladenen Schimpfwort aus dem Unterleibsbereich – nahm Alwys keine Rücksicht auf empfindsame Zeitgenossen. Er wusste nämlich, wie er meinte, ganz genau: Genesis-Fans hielten sich für empfindsam, und so argumentierte er an diesem fortgeschrittenen Abend in einer der karussellgondelartigen Sitzvierecke seiner Stammkneipe Break viel bissiger als sonst – denn er war eigentlich wegen etwas ganz anderem ziemlich nervös. Dieser Geschmacksgrabenkampf war heute ganz sekundär für ihn, aber er musste geführt werden, da gab es kein Pardon: „Entweder Zappa oder Genesis. Wer beides hört, ist schizophren.“
Der schlaksige Harry, Faktotum im Break, saß eine Sitzbox nebenan, bröselte sich aus den Innenfalten seines Tabakspäckchens die letzten trocken Krümel ins Papier, rollte es nach etwas linkisch wirkendem Zungenstrich an der wie immer nicht so recht klebenden Klebefläche zu einer Havanna für Arme ein und fauchte Alwys leicht lispelnd zurück:
„Echt Schwachsinn! Ein Genesis-Konzert ist ein Gesamtkunstwerk, eyh! Da geht die Post ab! Hast du mal deren Lightshow gesehen? Und die Platten, das sind Konzeptalben, Opern eigentlich, – und dem Zappa seine Scheiben sind’s vielleicht auch, OK, aber nur vielleicht: Gesamtkunstwerke.“
Der dürre Harry wirkte meist so, als sei er als gescheiterter Revolutionär Marat gerade der Peter Weißschen Badewanne entstiegen – das hätte wenigstens zu ihm gepasst als Selbstinszenierung der stets rechten, also vermeintlich linken Gesinnung. Links war Titaniclesen und Grünwählen. Umgekehrt hätte es auch gestimmt. In seinen Tageslosungen aus der Frankfurter Rundschau hatte er mitbekommen, dass es da wohl einen Musikkritiker gab, der so hieß wie die kleinen Hubwagen im Supermarkt, der nicht nur BAP, Büchner und Arno Schmidt gut fand, Letzteren fand Harry auch gut, hatte sich einen speckigen Lederjoppen und ein Kassenbrillengestell besorgt und tauchte in diesem Nachkriegs-Arno-Schmidt-Dress auf WG-Partys auf, sondern tatsächlich auch Richard Wagner und sogar die Festspiele in Bayreuth, also, wie Harry meinte, einen Fastfaschisten und den Treffpunkt von Alt- und Neu-Nazis. So ein Gefühl oder so ein ähnliches, was er gar nicht genau beschreiben konnte, hatte Harry jedenfalls beim Lesen. Über diesen Kritiker mit dem Hubwagennamen hatte er erfahren, dass Richard Wagner während der Revolution 1848 Dresdner Barrikadenbauer oder zumindest wohlwollender Zuschauer beim Barrikadenbau war – also irgendwie ein Revoluzzer – eyh!- und später ein zumindest halber Anarcho als Bakuninfreund – und immer auf der Flucht, ein Desperado, der Wagner, meinte Harry: „Wie ich!“ Seitdem war Gesamtkunstwerk Harrys Lieblingswort. Er empfand sich selbst auch als eines. Daher sprach er es immer ohne Artikel aus, wie einen Namensteil: Gesamtkunstwerk. Wie einst schon Adenauer bei Nato den Artikel einfach wegließ: Wir müssen in NATO! Das war Harry. Der blieb wie ein Fußpilz, wenn er nicht sofort behandelt wird, sprich: rausgeschmissen wurde.
Das Break war Harrys Wohnzimmer und für ihn die beste aller möglichen Welten. Die Platten vom Blue Note Label hatten Kratzer, was bei „Take five“ einen Schluckauf verursachte, das Mobiliar zeigte das blanke Holz unter dem Schutzlack und auch die Gäste, die eher familiäre Freunde von Wirt Stefan waren, wirkten wie von gestern – ein bisschen zu viel Peru in der Pulliwolle, wie bei Harry, der Bart noch etwas zu lang, Harry hatte allerdings keinen und die Boots, na, ja, überhaupt Boots, Harry hatte welche, reichten eigentlich schon als ewiger Plusquamperfekt.
„Wenn ich einundzwanzig Grad brauche, gehe ich ab elf ins Break, wenn ich siebzehn Grad brauche, bleibe ich daheim,” lautete Harrys kategorischer Imperativ. „Das Break ist der Himmel über mir und meine Bude mein Mikrokosmos. Die Maxime meines Handelns führt mich jeden Abend ins Break. Eyh, dass muss ‘ne Weltordnung sein. Har, har, har.“
Harrys Lachen klang, als würde er Luft rachitisch einatmen.
Er hatte vor einiger Zeit nicht nur Philosophie, sondern, ach, auch Politologie studiert. Das Aufkommen der Popper-Bewegung in Deutschland Mitte der Achtziger Jahre stürzte ihn in eine massive Sinnkrise. Harry stand gerade kurz vor dem Ausfüllen der Beitrittserklärung in die SPD, gewissermaßen als spät berufener Juso mit dem festen Willen zu einem Stipendium bei der Friedrich-Ebert Stiftung, als ihn die jungen, höflichen, gescheitelten Studienanfänger, die Popper-Generation, derart irritierten, denn er las gerade Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde,“ dass er zur Rekonvaleszenz von diesem Schock ein Freisemester nahm. Das dauerte nun schon zwei Jahre – und bescherte ihm immerhin den Sozialhilfesatz, auf den er als Freisemestler einen Anspruch hatte.
Als Aufstocker verdiente er sich die Differenz zu seinem Lebensstil mittlerweile bei einem Lebensmitteldiscounter, fuhr Paletten durch die Hallen und besuchte sporadisch ein Doktorandenkolloquium an der hiesigen Universität. Einer der Professoren, ein Lateinamerikaexperte für politische Systeme im 19. Jahrhundert, der ihn beim Wochenendeinkauf in dieser schnöden Warenwelt erkannte, tippte ihm in der Fruchtsaftzeile einmal auf die Schulter und raunte Harry beim Einsortieren von Rotbäckchensaft mutmachend zu: „Wie recht Sie haben, Verehrtester, der Mensch lebt nicht vom Brot allein – bis nächsten Mittwoch dann.“ Von diesem Erkannt-Werden seiner vermeintlich wahren Existenz als Geistesmensch zehrte Harry noch immer und fühlte sich dadurch einmal mehr auf dem rechten Weg: „Ich bin auf dem Umweg, Herr Professor,” antwortete Harry damals devot. „Hegel hat einmal gesagt: Der Weg des Geistes sei der Umweg.“
Wie verabredet blickten beide nach diesem Tiefsinn auf das strahlende, blonde Mädchen mit Kopftuch auf der Rotbäckchensaftflasche und dachten das Gleiche: Das müsste verboten werden, das Kopftuch!
Meistens also brauchte Harry einundzwanzig Grad. Einundzwanzig Break, siebzehn daheim. Daheim war bei Harry ein relativer Begriff: eine Matratze und rundherum an den Wänden Regale für Taschenbücher, auf denen die Regalbretter auch auflagen, gewissermaßen ein sich selbsttragendes Regal voller RoRoRo-Erstausgaben, egal, was!
Jetzt hielt Harry seine verwachsene Selbstgedrehte zwischen Daumen und Mittelfinger, aber nicht mit dem Mundstück in der Innenhand, sondern zum Handrücken hin und zog daran, als ob er Luft für Wagners Unendliche Melodie einatmen müsste. Das sollte vielleicht verwegen aussehen, wirkte aber so tragisch wie die gesamte Figur. Den Qualm schnaubte er nach einem Wirkungsquantum für den Nikotin mit reichlich Druck aus seiner Nase und sah dabei aus wie ein schnaubender Gaul am Morgen.
„Harry, der Säulenheilige des Break,” lästerte Alwys später auf dem Heimweg. „Dieser Klugscheißer. Die Genesis-Lightshow im Flohzirkusformat. Mehr ist es nicht. Wenn die überhaupt mal spielen. Die gibt’s sowieso nur als Torso, seitdem Peter Gabriel nicht mehr mitmacht und Steve Hackett weg ist. Das ist die Phil-Collins-Mogelpackung. Die ewige zweite Stimme singt sich nach vorne. Der braucht wohl ständig Kohle, sonst würde er nicht so oft bei Gottschalk auf der Couch sitzen für’n Halbstünder mit Gesangseinlage „Against all odds.” Hast du gesehen, wie schmächtig der neben Kohl auf der Couch aussah, der Collins? Die Fans zahlen ‘nen Fuffie für diese Genesis-Streichholzschachtelperformance. Was willst Du da viel von hinten sehen, wenn die im Müngersdorfer Stadion spielen?“
Das Wort „Sta-di-on“ sang Alwys mit verächtlicher Stimme und zog jede Silbe künstlich in die Länge. So wie sie die Kölner „Zeltinger Band“ als Refrain dieses Anti-Songs auf dem Konzert auf den Bonner Rheinauen vor ein paar Jahren gegen den Nato-Doppelbeschluss in die Länge gezogen hatten. Das fand Alwys damals schon übel.
„Ein Kommerzscheiß ist das, mehr nicht, diese Genesis. Wir woll‘n Kürbis statt Kohl. Scheiße, wie lang will der Kohl eigentlich noch regieren?“
Josh hörte ihm wie immer ruhig zu und sagte nur: „Ja? Meinst du?“
Danach hatte Alwys eine Stimmungsaufhellung, weil ihm eine Anekdote einfiel. Es fiel ihm meistens eine Anekdote von sich ein, mit der er sich selbst aufheiterte, nachdem er sich über irgendetwas aufgeregt hatte.
„Eyh Josh, habe ich Dir eigentlich mal erzählt, dass wir bei einem Freiburg-Besuch zu Collins’ „In the Air tonight“ in einer heißen Sommernacht im Springbrunnen einer Verkehrsinsel geplanscht haben? Vorher waren wir nach viel Grasrauchen über eine Friedhofsmauer geklettert und haben den Löschteich getestet. Je höher, desto Platsch, sag’ ich Dir. Auf’m Rückweg hörten wir „In the Air tonight“ aus irgendeinem Fenster an dieser Kreuzung dudeln. Weißt‘ schon. Dieses trockene: da da da da, dadada. Das brachte es voll. Also nix wie rein!“
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
dazu paßt eine Geschichte aus und vom letzten Stones-Konzert im alten Müngersdorfer Stadion. wird jedenfall so erzählt. In der Pause kuckt sich eine stolze Stones-Königin, hoch toupiert, hell erblondet, faltenfreie Rückseite in den Jeans und auf Pailletten-Stiefelchen stehend um, erblickt einen staatsen Security-Man, groß, breitschultrig, Schnäuzer. Wird sofort jeschüttelt, will den Mann kennen lernen, sucht nach einem Kontakt-Türchen, stiefelt daher auf den zu, hebt das Kinn, deutet auf irgendeinen Lockenkopf in der Nähe, sagt ein wenig atemlos und etwas näselnd, “Is datt nit der Niedecken, der von BAP?” Der Schnäuzer dreht sich eröm, schaut den Lockenkopf an, dreht sich zurück zur Königin und antwortet: “Wenn der datt nit wör, dann stünd der nit do.”
So kannze als “Ko-Autor” die nächsten 23 Folgen gerne weitermachen 😉
Danke für die schöne Resonanz. Das ist auch die Intention: Einen Resonanzraum bereitzustellen, der individuell anschlußfähig ist. Hat also sofort geklappt.