Am 16. November 2024 fand im Haus der Kultur die Bonner Buchmesse Migration statt. Der VS, der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller veranstaltete im Rahmen der Buchmesse eine Lesung durch acht Autorinnen und Autoren. Darunter Joshua Clausnitzer, Rainer Maria Gassen, Harald Gesterkamp, Monika Littau, Klaus Vater.
Gelesen wurde unter dem Titel: „Als die Demokratie verloren ging. Blick nach vorn, Blick zurück.“ Der Beitrag von Klaus Vater mit Einverständnis des Autors im Wortlaut:
Es hat keinen Sinn, drum herum zu reden oder zu leugnen. Denn die Wahrheit ist: In der Demokratie steckt eine für manche schreckliche Drohung. Eine Drohung, der eine vernichtende Kraft zugesprochen wird. Sie werden dies vielleicht nicht glauben; es ist aber so.
1949 war beschlossen worden, dass Wahlen in der neuen Demokratie allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim zu sein hätten. Klingt harmlos, nicht wahr?
Aber bereits die erste Bundestagswahl am 14. August 1949 verletzte die Norm. Denn geistig eingeschränkte – wie man landläufig sagt – behinderte Menschen waren von der Bundestagswahl komplett ausgeschlossen. Erst die Bundestagswahl am 26. September 2021 war die erste, die mit dieser Einschränkung brach. Nachdem das Verfassungsgericht im Februar 2019 den Wahlausschluss für verfassungswidrig erklärt hatte. Siebzig Jahre lang standen Bundestagswahlen – gemessen am Gleichheitsgrundsatz und bezogen auf eine abgegrenzte Menschengruppe – im Widerspruch zur Verfassung. So gesehen war die Demokratie bereits verloren, bevor sie richtig begonnen hatte.
Noch 2017 waren die Ausläufer dieses Denkens im Parlament präsent. Denn der Bundestag beschloss, dass geistig eingeschränkte Menschen, deren Mitteilungsfähigkeit stark verringert ist, ohne eigene Zustimmung Probanden in der medizinischen Forschung werden könnten. Ich ermuntere Sie, sich die Namen derjenigen anzuschauen, die dem im Bundestag zustimmten. Und auch die Zwangssterilisierung von Frauen ist in Deutschland nicht vollständig ausgeschlossen.
Wenn wir im vollbesetzten Kölner Stadion vom Stadionsprecher fragen lassen würden, ob Zwangssterilisierung angebracht wäre, weiß ich nicht, wie die Mehrheit votieren würde.
Und schaue ich mich in der Literatur um, finde ich nicht viel zum Thema: Doris Lessing, Colleen McCullough, Lincoln Rhyme, Petra Hammesfahr, Wally Lambe und einige andere. Es ist kein Ruhmesblatt für uns.
Eingangs habe ich von einer Drohung gesprochen. Der von mir verehrte Pädagoge Georg Feuser hat es auf den Punkt gebracht: „Der Andere hat zu sein, wie wir denken, dass er ist.“
Das ist der Kern der Drohung.
Der gilt im Antisemitismus;
der gilt im Denken der Nazis über die Polinnen und Polen, die für minderwertig erachtet wurden;
der gilt für coloured Menschen
und auch für die Differenzierung innerhalb einer Ethnie. Das kann man im Sommer-Interview des Mitteldeutschen Rundfunks 2023 mit Höcke nachlesen. Darin plädiert er dafür, nur „gesunde Kinder“ in Schulen zusammen zu bringen, damit es gesunde Schulen geben könne.
Die Drohung flammt förmlich auf in dem Satz „Euthanasie ist die Lösung“, der auf einem Ziegelstein stand, den Unbekannte am 28. Mai 2024 auf eine Einrichtung der Lebenshilfe geworfen haben.
Der Blick nach vorn fällt – mir jedenfalls – nicht leicht. Die Gegner der Demokratie greifen dieselbe dort an, wo sie am Verletzlichsten ist: Bei Kindern, Behinderten, bei denen, die sich anpassen sollen – und müssen. Für die, die Feuser meinte, stehen die Chancen nicht schlecht.
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