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Komödie des Geldes, 11. Dezember 2024: Republik freier Flaschenhals

Alwys kam nach einer halben Stunde mit Joshs R4 von Anatols Heimfahrt zurück an den Winzerhof. Der bestand aus einem stattlichen Haupthaus, rechts davon ein nur wenig kleineres Wirtschaftsgebäude mit Fachwerk am Giebel und einem ehemaligen Schweinestall dahinter. Das fast fußballfeldgroße Gehöft war von einer hohen Steinmauer aus Bruchstein eingefasst und von wilden Weinreben überwachsen.

Es gab zwischen Haupt- und Nebengebäude reichlich Platz zum Feiern und Abhängen. Das Gehölz einer zentral im Wendehammer stehenden, monumentalen Trauerweide wuchs so ausladend, dass eine an ihr aufgespannte, in Südamerika gerecht hergestellte und ohne kapitalistische Mehrwertabschöpfung entlohnte bunte Hängematte laszive Mußestunde unter den laubenartig dichten Ästen in Aussicht stellte.

Von den generationsartig wechselnden Bewohnern wurde das stattliche Weingut „Republik freier Flaschenhals“ genannt. Dafür gab es zwei Gründe: Einer lag darin, dass in dem ehemaligen Nebengebäude, in dem Josh, die anderen und ab jetzt auch Alwys wohnten, der ziemlich stark geschwefelte Rotwein der Region einstmals genossenschaftlich abgefüllt wurde. Im tiefen Gewölbekeller standen noch etliche Eichenfässer aus dieser glorreichen Zeit – bevor das Frostschutzmittel Glykol, siehe Opelkapitel, den Öchslegrad künstlich in die Höhe getrieben hatte. Der zweite Grund lag in der redundanten Paarung von Hüttendorfromantik der Brockdorfaktivisten mit längst abgewrackten Spontisprüchen aus der unseligen Startbahn-West-Gegner-Zeit. Das bei Grillfesten immer noch benutzte Klo im ehemaligen Schweinestall war davon übersät, etwa: „Als Gott den Mann erschuf, übte sie bloß“ oder „Feuer und Flamme für diesen Staat.“ Überhaupt: Es war bei den Grillfesten oft das Größte, wenn ein ehemaliger Bewohner, der direkt seine wahlverwandtschaftliche Großfamilie mitbrachte, krudes Demo-Jägerlatein von frühem Wasserwerferbeschuss und Wegtragtrophäen zum Besten gab. Das lag meist aber schon gut zehn Jahre zurück. Jeder lief auf seine Weise seiner Jugend hinterher.

Die früheren Bewohner der Republik freier Flaschenhals tauchten bei den Festen tatsächlich regelmäßig auf und konnten nur mit einigem rhetorischen Verschleiern die mittlerweile komfortable materielle Sicherheit als Lehrer oder im Öffentlichen Dienst, etwa auf dem Veterinäramt oder für diejenigen Mediziner, die kein Blut sehen konnten, als Ärzte bei der Berufsgenossenschaft, kaschieren – um sich so den jetzt Jungen irgendwie mit Lippenbekenntnissen aus dem Neuen Testament anzubiedern. Einem ganz verbiesterten Widerspruchsapostel ging grundsätzlich alles „auf den Sack.“ Sack war sein Lieblingswort. Als er einmal gefragt wurde, ob Sack eigentlich eine mittelalterliche Maßeinheit für unbestimmte Gemütszustände wäre, etwa so: Scheiße, mir geht’s heute drei Sack schlecht, hatte der einen cholerischen Anfall bekommen, von wegen, früher noch authentisch und man wusste wenigstens, wogegen man war. Oder so ähnlich. Auch waren solche menschlichen Leisetreter ziemlich stolz darauf, damals in undefinierbarem Knacken und Rauschen bei Telefongesprächen wenigstens den Verfassungsschutz als Mithörer vermuten zu dürfen – das war das Mindeste. Manchmal meinte man sogar, ein wie von ganz weit her hörendes Echo des selbst Gesprochenen wäre ein Indiz für den CIA als Zapfen an der Telefonleitung. Man war ja schließlich nicht irgendwer. Was bei einer fetten Bratwurst in der Republik freier Flaschenhals als sentimentaler Erinnerungsmix geäußert wurde, ging meist nicht über rustikale Nostalgie und Selbstbeweihräucherung als Ex-Nicaragua-Aktivist hinaus. In Nicaragua hatte die Revolution jetzt ihre Killer gewählt: Bei den ersten freien Wahlen gewannen die Konservativen und nicht die Sandinisten. Das mittelamerikanische Land befriedigte jetzt immerhin als tolles Urlaubsziel das soziale Gewissen. Wer dort seine Ferien verbrachte, tat ja auch etwas für die armen Analphabeten, die einem für Pfennigbeträge den prallvollen Gore-Tex-Rucksack im Wert eines nicaraguanischen Jahreseinkommens meilenweit durch den Dschungel schleppten.

Aus der wie eine Monstranz vor sich hergetragenen Protestleremphase waren die jetzigen Bewohner wahrlich herausgewachsen. Das Holzbrett mit den brandzeichenartig hineingekokelten Lettern „Republik freier Flaschenhals“ hatte nie jemand vom Eingangsportal zum leicht feudal und parkähnlich angelegten Anwesen entfernt.

Alwys lenkte Joshs R4 zu Gustav Mahlers Orchesterlied “Gerettet ist das edle Glied” aus dessen 8. Sinfonie „Veni, Creator Spiritus“ zwischen die rötlich sandsteinernen Eingangssäulen mit heiterer Entspannung. Schon auf dem Rückweg zum Hochhaus, bei dem sie irgendwo an der Umgehungsstraße Claudius laut fluchend aufgegabelt hatten, fand er den Plattenbaumonolithen, in dem er zwei Jahre mehr zähneknirschend als gerne gelebt hatte, fremd und abstoßend – so fremd, wie den schwarzen Monolithen in Kubricks „2001. Odyssee im Weltraum“ – oder die DDR. Irgendwie das Gleiche. „Dort hatten die staatlich verordneten Antifaschisten ihre Diktatur auf Plattenbauten errichtet,” meinte Alwys in einer sehr gewagten Gedankenbewegung.

Nie mehr Kakerlaken, nie mehr Frolic auf dem Teppichboden und nie mehr die Brumm- und Gulpfolter von Claudius: Durch diese Negation schimmerte trotz kompletten Bettverlustes verhalten ein Morgenrot – Alwys wollte ja nicht sofort übertreiben und hielt seine euphorischen Visionen von vierundzwanzigstündig verfügbarem Probenkeller bewusst im Zaum. Und ein Bett, da war er sich sicher, würde er schneller wieder zurechtgezimmert haben, als Josh es bei ihm für möglich halten würde. Es gab ja genug Paletten: „Erst Bretter nageln, dann Frau,” freute er sich diebisch.

Auf dem Schotterweg rund um die alte Trauerweide hinauf zur Neuen Bleibe frästen die durchdrehenden Vorderräder tiefe Spurrillen in den grobkörnigen Belag. Die Kiesel prasselten auratisch wie eine entfernte Gerölllawine gegen den Radkasten. Es klang wie das Schlagzeugsolo von Golden Earring in ihrem größten Hit „Radar Love,” um den live zu hören Alwys einmal nach Amsterdam in den Kifferpalast Paradiso getrampt war. Der Schlagzeuger brachte an jenem Konzertabend keinen geraden Beat auf die Reihe, und beim verkrachten Solo fielen ihm ständig die Stöcke aus der Hand, so stoned war der gewesen. Alwys war es hinterher auch.

„Wir werden bessere Zeiten erleben,” dachte er jetzt etwas melancholisch, worauf der R4 trotz gezogenen Schlüssels zweimal zustimmend aber funkenlos nachzündete.

„Schnauze, Fury!,” raunte Alwys darauf nur lakonisch.

Das Wirtschaftsgebäude betrat er von der hinteren Tür aus. Im Gegenlicht der letzten Sonnenstrahlen glich der neben dem Schweinestall abgestellte R4 dem Schattenriss eines dieser Spielgerät-Holz-LKWs auf neueren Kinderspielplätzen. Die drei Stufen im Flur neben dem Eingang zum Gewölbekeller nahm er mit einem großen Schritt, in jeder Hand eine massive Palette aus ungehobeltem Buchenholz in den Maßen 1,10 m mal 1,10 m. Das müsste für den Futon reichen. Platz für die Ablage der Bettlektüre und des AKG-Parabolkopfhörers blieb auch – oder für den Aschenbecher, falls er einmal im Bett Grund haben sollte, eine Zigarette-danach zu teilen.     Die Paletten zogen ziemlich an seinen sehr strapazierten Armen. Alwys schleppte sie dennoch fröhlich, fast schon naiv, die enge Treppe zwei Stockwerke aufwärts in das bis dato leerstehende Mansardenzimmer der Republik freier Flaschenhals. Er legte sie dahin nebeneinander, wo die Dachschräge das Zimmer am tiefsten abschloss. Den eingerollten Futon drapierte er wie einen roten Teppich auf das ungehobelte Holz. Das Fachwerk des Giebels war zwar nicht fachmännisch aber liebevoll freigelegt worden – „wahrscheinlich von einem angehenden Kunstlehrer,” mutmaßte Alwys, als er den Kopf aus dem einzigen in die Dachschräge eingelassenen Fenster in den mittlerweile dunkelblauen Abendhimmel und hinüber zum Haupthaus streckte. Da waren ungefähr 15 Erwachsene und 5 kleine Kinder vor dem Portal und sprachen in einer Sprache, die Alwys nicht kannte. Es klang wie eine Mischung aus Alemannisch und Sächsisch mit stark gerolltem R und russischer Betonung auf der zweiten Silbe. Jedenfalls ging es da munter, zuweilen lautstark zu. Als er wenig später die Stiege hinunter in die räumlich großzügige Gemeinschaftsküche direkt neben der Eingangstür hinunter schritt, verabschiedete sich gerade eine junge Frau mit einer Teigschüssel unter dem Arm von Angel, der Freundin von Josh. Alwys sah ihr kurz nach, wie sie hübsch schreitent, fast tänzelnd über den Schotter hinüber zum Haupthaus ging.   „Wer war das?,” fragte er Angel neugierig. „Das ist Jelena,” sagte Angel verhuscht wie immer mit Blick nach unten.  Angel machte, wie Josh auch, gerade (ihren) Abschluss in Grafik-Design. Im Schweinestall baute sie aus Altpapier ein dreidimensionales Alphabet in Form von bedrohlich in alle Richtungen geneigten Pappquadern. “Sprache in Gefahr” lautete der Titel und sollte an Karl Kraus erinnern. Dessen “Fackel”-Jahrgänge hatte sie sich im Bibeldünndruck von 2001 kommen lassen. Ob das auch einmal die Schablone für ein Spielgerät auf einem dieser neuen Erkenntnis-Kinderspielplätze werden sollte, oder ob damit irgendwann einmal vor einem der Frankfurter Bankentürme auf den weltweiten Analphabetismus, auch den in Deutschland, wie eine linke Tageszeitung kürzlich in einem großen Artikel schrieb, aufmerksam gemacht werden sollte? Angel wollte sich zumindest nicht mehr länger von der Politik ein X für ein U vormachen lassen. Denn trotz Glasnost und Perestroika in Russland gab es noch genügend Missstände in der Welt, gegen die sich Widerstand lohnte, sagte sie sich pseudorebellisch. Zum Beispiel gegen das Ölkartell und die französischen Atomversuche im Pazifik. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt,” war ihr Slogan. Nach der Diplomarbeit wollte sie Buchumschläge für eine Büchergilde entwerfen. Scheinbar konnte man solche schönen Stellen vererben, denn ihre Eltern arbeiteten dort das Gleiche und würden bald in den Ruhestand gehen. „Warum auch nicht,” dachte sie manchmal. In Italien war es ja auch gesetzlich erlaubt worden, Beamtenberufe der niedrigeren Laufbahn innerhalb der Familie zu vererben. Gleiches Recht für alle. Immerhin hatte sie mit 17 einmal den Aufstand gewagt, als sie sich für ein Schulfest aus zwei grobmaschigen Aufnehmern einen sehr knappen Minirock genäht hatte. Ihre Mutter wollte das zuerst nicht glauben, fand die Arbeit dann aber gelungen und gratulierte ihr zu der guten und sorgfältigen Handarbeit. Weil es Angel also auch damit nicht gelungen war, etwas zu tun, was ihre Eltern aufregen könnte, blieb sie aus Frust dem Schulfest fern und heulte in ihrem Jugendzimmer den ganzen Abend in die Kissen. Recht hatte sie, denn Pubertät bedeutet auch Krach mit den Eltern zu haben.

„Sie gehört zu den deutschstämmigen Slowaken aus dem Haupthaus und hat uns Teig für Langosz gebracht,” fügte Angel gleichförmig an.   Mit einem großen Holzlöffel nahm sie etwas Teig und tauchte ihn langsam in einen Topf mit siedendem Fett. Der halb nach Berliner und halb nach Knoblauch riechende Hefeteig wurde sofort kross und um den zackig ausbackenden Teig brodelte es sehr lebhaft wie im Tremolo heißer Quellen.   „Ist es das? Riecht wie ein deftiger Berliner,” meinte Alwys mit sofort einsetzendem Hungergefühl im Bauch.

Angel, die eigentlich Angela hieß und ihren Namen mit halbenglischem gschi ausgesprochen wissen wollte, wiederholte das Backen der Langosz bis eine große Schüssel voll damit war und stellte sie auf den mitten im Raum platzierten Küchentisch. Josh, Alwys, dann auch Angel und ein weiterer Bewohner des Wirtschaftsgebäudes, der etwas angegraute Legu, nahmen mit einer Papierserviette von oben ab und aßen die noch warmen Hefefbollen mit sichtlichem Vergnügen.   In die Tischmitte hatte Josh ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel als Intarsie hineingetischlert, als klar wurde, dass am Abend immer eine Partie fällig wurde. Aus den Boxen in der Küchenanlage erklang Jim Croces etwas traurig-beschwörender Gitarrensong „Time in a bottle.”

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

Ein Kommentar

  1. Mäzen Mäzenowitsch

    Danke für den SuperAdventsKalender (SAK). Die erste heitere AdventsZeit (AZ = Arthur Zupf ;-)) seit Polts Nikolausi! Ein echtes Best of, jedes Kapitel! Da gehen nicht nur Türchen auf, sondern einem ganze Lichter! Siehste, doch was mit Schmuhnachten zu tun.
    Weitermachen!
    Mäzen Mäzenowitsch

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