Vor einem Jahr kam es in der Nähe, in Ramstein, zu einem schweren Unglück, als ein Jet einer italienischen Flugstaffel bei einer Flugschau auf der amerikanischen Airbase brennend auf die Zuschauer stürzte. Aus Legus Familie starb ein Nachzügler-Cousin. Dessen Freundin überlebte mit schweren Verbrennungen am ganzen Körper. Eine Schadensersatzklage war noch anhängig. Etliche Psychologieinstitute leisteten in der Gegend immer noch seelischen Beistand. Das Trauma hatte auch Legu bis hinunter zum Rhein erreicht. Legu war eigentlich nicht gut auf sein Heimatkaff, in dem es nur zwei Familiennamen gab, zu sprechen. Irgendwann aber kam die Traueranzeige zum Tod des Cousins mit seinem richtigen Namen auf dem Couvert. Entweder hieß er Karlheinz oder Hans-Jürgen. Angel blickte nur auf den schwarzen Trauerrand und vermutete einen Irrläufer von der Post. Legu hatte ihr den Brief schneller aus ihrer Hand gerissen, als sie gucken konnte. Drei Tage später war er tatsächlich für fast eine Woche hinauf in den Hunsrück gefahren. Seitdem hatte er sich sehr verändert. Die Arbeit an seiner Weltgeschichte des Wetters hatte er bis zu diesem Zeitpunkt sehr ehrgeizig verfolgt und war auch regelmäßig zum Winzerstammtisch gegangen. Die Weinbauern hatten ihn akzeptiert und mochten Legu trotz seines marottigen Lebenswandels. Fast ein Jahr war er dort nicht mehr aufgekreuzt. Wenn eine F 16 im Tiefflug auf die Kaiserpfalz von Ingelheim zugeschossen kam, hörte danach sein Fluchen fast nicht mehr auf.
Damit Legu aber dennoch in seiner Bibliothek immer genau über das Wetter informiert war, hielt er sich seit Jahren schon einen ziemlich angriffslustigen Leguan. Der war aus einem nahen Tierpark ausgebüchst und hatte sich zur Republik freier Flaschenhals verirrt, wahrscheinlich, weil es an der langen Mauer um das Gehöft herum herrlich warm war. Legu fing ihn mit einer Fuchsfalle vom Nachbarwinzer ein.
Mittlerweile konnte der Leguan in der Bibliothek seine Tarnhautfarbe den Buchrücken anpassen. „Er trägt heute brockhausbraun,” witzelte Legu manchmal zum Frühstück, nachdem er das Leguanklo gesäubert hatte und ziemlich scharf roch. Wie ein Bauer, der aus dem Kuhstall kommt. Kamen dem Leguan Fremde zu nahe, schlug er mit seinem scharfen Schwanz unverhofft aus. Wem dann nur die Brille herunterfiel, der hatte Glück gehabt. Am wichtigsten aber war Legu, dass der Leguan, den er übrigens Fritz getauft hatte, ihm auf einer wetterfroschartigen Bibliotheksleiter exakte Informationen über den Luftdruck und einen damit wohlmöglich einhergehenden Wetterumsturz lieferte. Denn Leguane und besonders diese von den Osterinseln, waren die wetterfühligsten Lebewesen überhaupt. Auf der Leiter hatte Legu für Fritz neben den Sprossen Kerben eingeritzt, und die entsprechenden Millibarziffern dazugeschrieben. So war Fritz, der Leguan von Legu, das exakteste Barometer weit und breit. Eine Art Frühwarnsystem für herannahende Hagelstürme, die in wenigen Augenblicken die ganze Weinlese und Getreideernte vernichten konnten. Fritz war in der Lage, den Wetterwechsel verlässlich mindestens eine bis zwei Stunden vorauszufühlen. In dieser Zeit konnte ein Getreidefeld durchaus noch gemäht werden. Das wussten die Bauern der Gegend und ließen sich Legus Wettervorhersagen gerne auch etwas kosten. Davon lebte Legu, bescheiden zwar, aber es reichte.
Kürzlich war einer vom Funk da und hatte gemeint, Rheinland-Pfalz sei ein Agrarstaat. Wie wäre es denn, wenn er Legu immer samstags kurz vor zehn aus der Landfunksendung anrufen würde und Legu würde eine Wetterprognose für das Wochenende abgeben?
„Das von Moses geteilte Rote Meer war übrigens auch nur eine Wetterlaune,” sagte Legu jetzt etwas beiläufig, als er für Josh, Alwys, Angel und sich die hölzernen Mensch-ärgere-dich-nicht-Hütchen auf der Glasplatte über der Spielfeldintarsie aufstellte.
Josh kaute noch am letzten, jetzt nicht mehr handwarmen Langosz, spülte danach mit einem grauen Burgunder von den örtlichen Weingenossen gehörig nach. Angel tat so, als hätte sie nichts gehört und nippte etwas verlegen an ihrem Schoppenglas.
„Was Du nicht sagst,” hörte das Spielequartett eine lispelnde Stimme aus dem Flur zu sich herüberschallen. Harry hatte sich eingefunden – irgendwie konnten sie alle nicht voneinander lassen. Auch wenn es ständig zwischen ihnen krachte, zwischen Harry und Alwys, seltener zwischen Josh und Harry, manchmal eben zwischen Legu und Harry.
„Hock dich und halt die Klappe,” sagte Josh. Hier hast du einen Schoppen. Harry schnippte seine Kippe in den Hof durch die offene, ebenerdige Haustür und fletzte sich auf das unter dem Fenster stehende rote Plüschsofa aus dem letzten Sperrmüll. Das hatte gerade so in Joshs R 4 gepasst. Aber es hatte hineingepasst.
„Doch,” sagte Legu, „das war ein Tsunami. Weiß hier nur keiner, was das ist. Das ist ein unterirdisches Erdbeben. Und bevor der Meeresboden bebt und die Wellen häuserhoch andonnern, ziehen die sich richtig zusammen und aufs Meer zurück. Der Moses und die Israeliten müssen also genau in so einem Moment vor so einem Beben am Roten Meer angekommen sein und nutzten die Gunst der Stunde. Es war da nicht so weit bis zum anderen Ufer. Nur der Moses hatte ja bekanntlich an den Zehn Geboten ziemlich zu schleppen. Als er die, hackezu wie er war, unterm Dornbusch in den Ton gekratzt hatte, war ja auch nicht gerade eitel Sonnenschein, sondern es goss in Strömen. Dann doch lieber schnell noch ein paar Überlebensregeln aufschreiben, bevor es wegen des Unwetters zu Plünderungen und Totschlag kommt, hatte sich massimo leader Moses gedacht. Und diese recht flache Stelle im Roten Meer hat er vorher auch schon gekannt. Dass es dann so flach wurde, wie es wurde, komplett trocken, war ein günstiger Umstand. Vielleicht ausgelöst vom Flügelschlag eines Moskitos in Sibirien. Cool, Leute! Accident, wie der Engländer sagt.“
„Mir schlafen die Füße ein, Legu, wenn ich diesen Schwachsinn höre. Wonach riecht es denn hier eigentlich?” fragte Harry, der sich gerne der Fraktion Nimm zuordnete.
„Nach Langosz, das ist ein Hefegebäck von den Slowakendeutschen von gegenüber,” antwortete Angel beim sich Einwürfeln, um möglichst viele Sechser zu erzielen. Zwischen jedem Wurf, in Erwartung einer Sechs, vollführte sie eine Fingerbewegung, die Alwys zur Weißglut brachte. Wenn sie ganz konzentriert würfelte – oder verkrampft, je nach Perspektive – dann rieb sie vorher Daumen und Zeigefinger aneinander, als würde sie eine Prise Salz aufs Spielfeld streuen, ein Zaubersalz. Am aggressivsten machte es Alwys, wenn sie diese typische Handbewegung vor dem Hinauswerfen vollzog. Das Schlimme war nicht nur die Handbewegung, dieses verkrachte Salzstreuen an sich, sondern die Kausalität. Wenn Salzstreuen, dann Hinauswerfen. Die Banalität dieser Implikation, gepaart mit tiefstem Einblick in die Familienpsyche von Angel, war nicht auszuhalten. Alwys war es, als hätten schon die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter vor dem Hinauswerfen eine Salzstreubewegung mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand getätigt, nur, um über das Weitergeben dieser unsäglich blöden Familientradition jetzt imaginär sein Hirn und Herz zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerbröseln. In diesem Moment kamen ihm Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, hinaus in die Republik freier Flaschenhals zu ziehen und sich damit Angels Mensch-ärgere-dich-nicht-Standgerichtbarkeit schutzlos auszuliefern.
„Langosz, ach so, ja das kenne ich, das habe ich mal am Plattensee gegessen, das ist aber eigentlich ungarisch, wie die Palatschinken auch. Betonung liegt auf ‚die‘. Palatschinken ist Femininum. Jedenfalls kommt die auch aus Ungarn,” sprach Harry im Brustton der Überzeugung.
„Na, da werde ich mal gleich nachschlagen gehen, hier ist noch ein kleiner Branntteigkrüppel für dich, der letzte,” sagte Legu, nun schon im Spiel begriffen: „Sechs!“
Harry zog sich einen Stuhl heran und saß jetzt neben dem Küchentisch fast in der Runde.
„Lass das nicht Jelena hören, die ist überzeugte Slowakin. Sie behauptet, der Germknödel käme sogar aus ihrer Heimatstadt, dem ehemals deutschen Käsmark, fast schon an der Grenze zur Ukraine und am Fuß der hohen Tatra,” antwortete Angel.
„Ich dachte immer, die Tatra sei die Straßenbahn, die die Tschechen der DDR geschenkt haben, aus Dank dafür, dass deren Nationale Volksarmee mit den Russen zusammen 1968 bei denen einmarschiert war.“
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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