Und schon war Harry verschwunden, wie ein Spuk. Der Spuk sollte aber eigentlich jetzt erst beginnen.
„Wenn ihr mitmacht und helft, denen den Knall zu klauen, dann können wir hier zu Heilern werden. Die ganze Gegend ist krank seit Ramstein. Die sind total fertig seit dem Unglück. Die Amis hören aber nicht auf mit ihren Tiefflügen, die Deutschen üben mit denen gemeinsam. Letztens erst ist in Linz oben auf den Rheinhöhen bei Bonn eine F 16 direkt neben einem Krankenhaus eingeschlagen. Die brauchen gar nicht mehr anderen den Krieg erklären, die schaffen das auch ohne Gegner sich umzubringen und Teile der Zivilbevölkerung auch. Ich halte das nicht mehr aus, wenn die mit Mach 1 auf die Kaiserpfalz zurauschen. Die Bomber drehen dann ab, ziehen eine Kurve hinüber zum Schloss Johannisberg im Rheingau und überfliegen bis zur Loreley den Rheincanyon, wo sie dann wieder nach Südwesten Richtung Ramstein abdrehen. Und kurz vor der Loreley steigen die mit voll Karacho hoch und durchbrechen die Schallmauer. Immer nach Plan. Ich habe das schon oft verfolgt. Donnerstags fliegen die hier an, so gegen 14 Uhr. Fast vier Minuten später ist dann der Big Bang. Und dieses Jahr ist Fronleichnam, immer ein Donnerstag, fast mitten im Juni. Wir hätten also noch genug Zeit zum Planen, um aus deren Knall eine Riesenperformance zu machen, das Große Projekt, Grand Prix der Sinne, Leute. Ihr müsst mitmachen! Das alljährliche Rhein in Flammen Anfang August wird dagegen nur ein fauler Zauber sein. Und das neue Musikfest mit Hechelbarock in den Kirchen ist sowieso nur Verarsche. Als ob ein Oberweseler Zimmermann oder Bopparder Finanzbeamte von Null auf Hundert zum Klassikfreund würde, statt wie sonst bei Opus’ Live is Live mit zu gröhlen, um wenigstens etwas Gefühlsableitung zu erfahren.“
„Ja, was mitmachen?” fragte jetzt Jelena neugierig. „Was sollen wir denn machen? Bis jetzt liegt ja nur dein Geldsack auf dem Tisch und der soll ja nicht kleiner werden, hast du gesagt. Lass’ einmal nicht nur die Fünfmarkstücke, sondern auch die Katze aus dem Sack, sagt man so auf Deutsch, oder?“
Alwys fand Jelenas Vorstoß genau richtig in diesem geisterstündlichen Moment. Er wollte jetzt auch mehr Details wissen und ein Großes Projekt wollte er auch immer einmal machen. Warum also nicht hier und jetzt in seiner ersten Nacht auf dem Winzerhof Republik freier Flaschenhals von einem träumen? Wenn man umzieht, so hatte er einmal ein Sprichwort gehört, würde der Traum der ersten Nacht in der neuen Bleibe ja in Erfüllung gehen.
„Wir klauen ihnen in dem Moment, in dem die Starfighter die Schallmauer durchbrechen, ihren Knall, der rollt wie ein gewaltiger Donner und mit mächtigem Nachhall durch den Rheingraben runter nach Koblenz und bis Bingen hoch, na ja, sagen wir mal, von Boppard bis Oberwesel, bis zur Schaumburg hinauf, wo die jetzt das Romantikhotel für Fremdgänger mit Jugendherberge nebenan haben. Habt ihr denn keine Idee, was wir mit dem Knall anstellen könnten? Der ist so gewaltig, den müssen wir zweckentfremden als unseren ersten Impuls für ein Riesenspektakel auf Loreleyhöhe. St. Goar als unser Epizentrum. Hier konzentrieren wir alles, was passieren wird, aufeinander.“
„Ja, meinst du etwa, wir fünf, vielleicht dann zehn Leutchen könnten da oben alleine was reißen? Und was denn? Ist Quatsch, oder nicht, Legu? Gib zu, du hast etwas zu viel Wein getrunken. Dass du eine gute Partie bist, mit deinem Silberschatz, finde ich ja ganz vielversprechend, aber mal ehrlich, Legu, du machst jetzt mit uns einen Scherz, oder?“ Angel wollte das Ganze als Spinnerei hinstellen und auch beenden. Sie war müde und wollte aus die Maus, also Licht aus und ratzen.
„Ne, lass’ mal gut sein, Angel,” fiel Alwys ihr in ihre gouvernantische Rede. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst, Legu, du willst diese Fliegerei zwar nicht beenden, das kannst du gar nicht, du willst den Leuten aber eine neue alte Identität zurückgeben. Die sollen was gemeinschaftlich machen und sich von der seit dem Unglück so empfundenen Fremdbestimmung befreien, stimmt’s?“
„Genau,” sagte Legu, „aber ihr müsst dafür auch Ideen haben, es reicht ja nicht, zu sagen, um 14.11 Uhr knallt’s zwischen Simmern und Emmelshausen und Bacharach. Das müssen wir mit Inhalt füllen und zwar so einem, den die Leute da verstehen und am besten noch selbst beisteuern. Die müssen das eigentlich selbst machen. Die müssen da, wo sie sind, ihre Umgebung so verwandeln und verzaubern, dass daraus neue Kraft entsteht.“
Jetzt sagte Jelena etwas sehr wichtiges, was dem Großen Projekt zumindest eine Richtung gab. „Ich habe eine Idee, der Knall ist ja auch eine Energie und es wäre toll, wenn wir diese Energie, die ja von einem Jagdbomber stammt, so verwandeln können, dass aus der Kriegsenergie eine Friedensenergie für die Menschen wird.“
„Ja,” antwortete Legu nachdenklich, „Friedensenergie. Das ist ganz gut. Wie willst du das machen? Das will ich ja auch so.“
„Der Knall ist ja ein Impuls, eigentlich ein Klang. Wir halten diesen Klang so lange lebendig, bis er als die schönste Musik bei allen Menschen dort angekommen ist,” meinte Josh, der Melodiker in der ja jetzt auf Duostärke geschrumpften Band Eier and the Kartons.
„Ja, toll,” begeisterte sich Alwys für soviel Konzept zu später Stunde, „wir legen den Klang immer tiefer, wir ziehen den aus dem Himmel runter zu den Leuten, die dann selbst etwas damit machen werden. Sie werden die Besitzer des Klangs, die da leben und auch weiterleben müssen, die müssen denen zeigen, wie schön es eigentlich sein könnte, wenn das kein Kriegsgerät wäre, das Überschallflugzeug, welche wunderbare Musik man damit machen könnte. Dreizehn Flieger für die dreizehn Paukenschläge in ‚Also sprach Zarathustra‘ von Richard Strauß.“
„Das werden wir wohl nicht hinkriegen,” bremste Legu Alwys. „Die an sich bestechende Idee finde ich aber ziemlich gut, so in der Art müsste das was werden, versuchen wir das einfach. Die durchbrechen ziemlich nacheinander im Vier-Viertel-Takt die Schallmauer gleich dreizehn Mal und der von Nietzsche damit beschworene Neue Mensch sind wir dann als Gemeinschaft und werden zu Mensch-Menschen. Den Big Bang krallen wir uns, so oder so. Lass uns mal weiter sammeln – und denkt dabei bitte immer an die Leute da vor Ort. Für die machen wir das. Da gibt es ganz viele Musikvereine in den Käffern, mit denen müssten wir was anstellen können oder wie in England, Windows down an der Ampel, wenn im Radio ein guter Song kommt. So: Alle Fenster runterkurbeln und aufreißen und Zarathustra aus allen Kompaktanlagen, Musiktruhen und Autoradios mit Endstufe. Das wäre mal echt ein hinreichender Grund für eine Grundig.“
„Toll!,” rief Jelena ganz unvermittelt zwischendrein. Sie fand das Ganze immer aufregender. Angel lächelte immerhin noch einmal kurz auf. So etwas hätte es am Fuß der Hohen Tatra nie gegeben. Das wäre direkt Sabotage gewesen, wenn man auch nur daran gedacht hätte, irgendetwas mit den Aufklärungsflügen der russischen MIGs entlang der polnisch-tschechoslowakischen Grenze anfangen zu wollen.
„Wie könnte das gehen, den Klang aus dem Himmel holen?,” überlegte Alwys vergnügt. „Den kann man ja nicht mit einem Köcher einfangen… …. Der ist ja Luft.“
„Tiefflieger tieferlegen,” raunte jetzt Josh mit halbgeschlossenen Augen. „Alphörner, Jodler, wir brauchen Alphörner und Jodler, wir müssen aus der Loreley den Watzmann machen. Die Rheinhöhen werden die Alpen sein. Das müsste dem alten Vater Rhein doch bekannt vorkommen, oder? Woher kommt er denn?“
Die letzten Worte hauchte Josh nur noch, dann sank sein Kopf auf seine verschränkten Unterarme auf den Tisch und er begann tief und gleichmäßig zu atmen. Angel gefiel das gar nicht. Dass der Alte am Tisch wegsackte, dachte sie, dafür sei ihre Liebe noch etwas zu jung, wenngleich nicht so arg feurig und selbstlos, wie sie es sich aus diesen Backfischepen von Jane Austen mit siebzehn erhofft und zu dieser Zeit den Mini aus Aufnehmern genäht hatte. Sie gab Josh einen Kick in die Seite. Der schreckte sofort auf.
„Das ist gut, das ist so gut,” begeisterte sich Jelena. „Warum müssen die Jodler denn aus den Alpen kommen? In meiner Familie gleich nebenan sind auch welche aus der Tatra. Denen wurde das Jodeln sogar von der Geheimpolizei verboten, weil die glaubten, sie würden politische Botschaften in das immer schon etwas freiere Polen über die Gipfel und durch die Täler Richtung Zakopane jodeln. Also Jodler, Legu und Josh, die haben wir hier selbst. Das klingt aber anders als in eurem Fernsehen diese zwei Frauen mit den Osterhasenfrisuren und wie die immer mit dem Kopf nach links und rechts beim jodeln so mechanisch in ihren Halswirbeln einrasten. Also, so sind die nicht. Die jodeln slowakisch und das klingt dann schon wie eine Geheimsprache, doch, so etwas Ähnliches ist es ja auch.“
„Und ich kenne ein Paar Alphornbläser aus der Schweiz, die habe ich einmal im Hare Krishna Zentrum im Berner Oberland bei einer Prozession kennengelernt. Wie soll das denn gehen mit dem Jodeln, Josh? Sag’ mal,“ warf Alwys in Erinnerung an seine Taizé-Gruppe ein, die sich zu Ostern in der Schweiz getroffen hatte.
Legu wühlte in den Münzen herum, als wäre er Dagobert Duck und die Republik freier Flaschenhals Entenhausen. „Ja, sag’ mal, wie soll das gehen…? Tiefflieger tieferlegen gibt einen Extrafünfer für dich, Josh.“
„Hi Leute,” krächzte es jetzt aus dem Hof in die Küche hinein. „Mich haben sie schon tiefergelegt. Mein Quelle Standard 3-Gang Torpedo Tourenrad hat einen Platten kurz nach der Autobahnbrücke bekommen. Hab’ zurück geschoben und bitte um Asyl bis morgen. Ist noch eine Palette frei?“
„Immer,” meinte Josh, und goss dem verlorenen Sohn Harry das Glas voll. „Alles eine Frage des Timings, Legu, klar(?),” entwickelte Josh das Konzept sehr vernünftig weiter. Vernunft war ja seine Stärke und schwach wurde er eigentlich nur bei Jaco Pastorius’ singend rockigem Bassspiel in Weather Reports „Birdland“-Hit – bei Angel eher weniger, aber irgendwie wirkten die beiden einigermaßen ausgeglichen.
„Sagen wir mal, die fliegen auch an Fronleichnam, dann hätten wir jetzt noch gut sechs Wochen Zeit um den ganzen Kram auf die Reihe zu bekommen. Fronleichnam ist da oben am Rhein sowieso der Bär los. Kannitverstan, alles klar? Da müssten wir erst einmal rausbekommen, was die selbst so mitten in der Frittenfettsaison planen. Ist da irgendwo Kirmes, gibt’s einen Umzug irgendwie usw. Letztes Jahr waren wir bei deinen Verwandten in Traben-Trabach an der Mosel, Angel, bei dem Mini-Golf Turnier. Die erste Bahn in Deutschland gab es in den 50ern in Traben-Trabach und dein Onkel hat die mit gebaut. Auf der anderen Uferseite gab es am gleichen Tag ein Fesselballontreffen, die sind in die Dämmerung hinein aufgestiegen, das war schon beeindruckend, nicht Angel? Wie die mit ihren Gasbrennern gefaucht haben wie ein Rudel Märchendrachen. So etwas machen die am Rhein auch regelmäßig.“
„Gut,” meinte Legu, „ist schon mal eine Idee und es muss dabei ja nur das Wetter mitspielen, aber dafür gibt es ja noch Fritz. Bei dem habe ich letztens festgestellt, dass sich dessen Schwanz ein zwei Tage vor einem Klimawechsel schon verfärbt. Man nimmt es kaum wahr, wenn man nicht täglich mit ihm zusammen ist. Ist aber so. Wie bei solchen Babylöffeln, mit denen man prüfen kann, ob der Brei noch zu heiß ist. Die verfärben sich dann auch. Also, so eine taggenaue Vorhersage bekomme ich mit Fritz hin. Todsicher. Aber mit den Ballons hätten die Leute nichts zu tun. Da könnten sie wieder nur in den Himmel starren und müssten alles über sich ergehen lassen. Aber lass’ uns mal sammeln. Die Jets, die Alphörner, die Jodler, die Ballons, klingt schon mal ganz gut. Das muss aber zu den Menschen kommen und die machen damit etwas, das ist ja alles noch Ouvertüre.“
„Mit 50 % Fruchtanteil,” unkte Harry dazwischen. „Ihr wolltet doch die Sause ins Tal ziehen. Dann orientiert euch doch auch am Wasser. Was hat das Wasser gemacht? Es hat mehrere Ebenen ausgewaschen. In der Devonzeit gab es vielleicht schon solche Leguane, Legu, aber da war hier ja noch alles Muschelcountry, dann kam das rheinische Schiefergebirge langsam zum Vorschein und da oben dann die Rheinterrassen. Nicht die vom Königsbacher in Koblenz, klar?“
Alwys war ganz erstaunt über Harrys Analyse, sicher aus einem Bändchen seines rororo-Erstausgabenregals auf Augenhöhe.
„Dann geht doch mit dem Rhein den Weg abwärts, erst die Wälder und Wiesen ganz oben, dann die Hänge, dann die Burgen an den Hängen und zum Schluss die Orte, die Menschen, das Wasser. Und dann könnt ihr auch wieder die Ballone aufsteigen lassen, die Friedensballone.“
„Nicht schlecht, nicht schlecht, Harry,” musterte Legu das orale Exposé. „Ist ein Weg, von oben nach unten und dann komplett vereinnahmt und verwandelt wieder nach oben zu denen, die das alles sowieso mit Wohlwollen betrachten werden, aber nicht mehr dabei sein können. Super, Onkel, bist du auch damit einverstanden?“
Legu gab dem Geldsack auf dem Tisch in Oktoberfestmanier einen deftigen Klaps an seiner rundesten Delle. Zum Glück konnte der Sack nicht zurückschlagen. Im richtigen Leben hätte er für solch einen Klaps eine Ohrfeige bekommen.
Danach ging es noch eine ziemlich lange Zeit mit Ideensammeln weiter. Alwys meinte, man müsste den Donner des Schallmauerdurchbruchs direkt umwandeln und wollte dafür die Alphornbläser ganz oben an den Waldrand postieren. Die Orte auf den oberen Rheinterrassen sollten schon mit einbezogen werden. Und die Tatra-Jodler, so schlug Jelena ganz freudig vor, würden die Klänge der Alphörner aufnehmen und von Burg zu Burg weiterjodeln. Die Jodler sollten auf den Burgzinnen stehen und die Gegend dann wirklich in ein Gebirgstal verwandeln. Auf dem Open Air Gelände der Loreley wollte Josh die Feuerwehrkapellen zusammenziehen – er war ja der einzige in der Runde, der beim Bund gewesen war – und die sollten zwischen Alphörnern und Tatra-Jodlern den Impuls zu verlängern helfen. So wurde noch eine ziemliche Weile weitergesponnen. Legu schrieb sich alles auf und brachte gegen halb drei in der Frühe den Zettel in seine Bibliothek. Als er zurückkam verblüffte er die Freunde ein letztes Mal in dieser Nacht der Träume.
„Und das alles bezahlen wir nur mit dem Klang des Geldes! Der ist genauso Luft wie der Knall der Jets.“
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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