Pascal Beucker, langjähriger TAZ-Redakteur in NRW und aktuell in Berlin, Vorstandsmitglied der “Tageszeitung”, hat vergangenen Sonntag sein kluges, gleichnamiges Buch beim “Radikaldemokratischen Frühschoppen” vorgestellt. Der findet als Videokonferenz alle vier Wochen statt, wurde von ehemaligen Jungdemokrat*innen ins Leben gerufen, und beweist immer wieder, dass Menschen, die vom politischen, linken Liberalismus geprägt wurden, auch wenn sie heute in unterschiedlichen Parteien aktiv sind, von FDP über Linke, Grüne, SPD bis zum BSW, nicht nur klug, sachlich und entspannt miteinander diskutieren können, sondern auch immer noch eine wundersame Anziehungskraft auf neue politisch Interessierte ausüben.
“Nur” 178 Seiten ist das bei Kohlhammer erschienene Buch Beuckers dick und ich habe selten in meinem Leben ein derart sachkundiges, gut recherchiertes, verdichtetes Stück wissenschaftlicher Recherche gelesen. Chapeau! Er handelt die Geschichte und die äußerst verschiedenen Facetten des Pazifismus ab, der sowohl in der Theorie als auch in seiner Praxis aus weitaus mehr besteht, als seiner radikalpazifistischen Variante. Der gewaltfreie, aber Verhaftung, Leiden, Folter und Tod einkalkulierende Pazifismus Ghandis gegen die Herrschaft der Briten in Indien gehört ebenso dazu, wie der Völkerrechtspazifismus des linksliberalen Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde. Angesichts der Machtübernahme der Nazis 1933 unterschied Albert Einstein zwischen einem „vernünftigen“ und einem „unvernünftigen“ Pazifismus – und hoffte vergeblich, dass die westeuropäischen Länder „nicht warten werden, bis sie angegriffen sind“.
Zwei Erkenntnisse habe ich daraus gewonnen:
Erstens, dass Pazifisten keine naiven Dödel sind, die stets, wenn sie auf die linke Wange gehauen werden, auch noch die rechte hinhalten, oder sich auf den Rücken werfen und die Halsschlagader feilbieten. Das gibt es nur in der Bibel oder im Wolfsrudel, und die sich instinktiv unterwerfenden Wölfe haben einen Gewaltkonflikt verloren und sind keine Pazifisten.
Zweitens, dass selbst in meinem Unterbewusstsein als linker Politiker und Kriegsdienstverweigerer ein Dr. Heiner Geissler (CDU) mit seiner entsetzlichen Diffamierung der 80er Jahre, Pazifisten hätten Auschwitz erst möglich gemacht, den Pazifismus als ernstzunehmende politische Strategie grundlegend diskreditiert hat.
Debatte erwünscht und erforderlich
Deshalb lohnt es sich nicht nur, Beuckers Buch zu lesen, sondern auch darüber zu debattieren. Denn natürlich gibt es kein Patentrezept und keine Lösung, um vom wütenden Krieg zu Verhandlungen und einen Waffenstillstand zu kommen – auch nicht in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Als wichtiges Ergebnis der Diskussion kam drittens zutage, dass seit dem Überfall Putins auf die Ukraine ausschließlich militärische bis militaristische Strategien die Öffentlichkeit beherrschen, für die das martialische Wort von der “Kriegstüchtigkeit” statt etwa “Verteidigungsfähigkeit” beispielhaft steht. Dass neben der notwendigen realistischen Einschätzung der Situation eines völkerrechtswidrigen Angriffs seit Kriegsbeginn in der Öffentlichkeit eine allgemeine ideologische Aufrüstung stattfindet, die mit dem Prägen von Feindbildern einhergeht, ist unübersehbar.
Ideologische Überhöhungen und Militarisierung unbedingt vermeiden
Thomas Nielebock, Friedensforscher und Diskussionsteilnehmer erinnerte an dieser Stelle an die drei von Olaf L. Müller und im Buch von Pascal Beucker (S.79) vorgestellten epistemischen Imperative, die Ausgangspunkt pazifistischen Denkens sein könnten:
- Vermeidung der Dämonisierung der Gegenseite und damit sorgfältige Analyse der Interessen der Beteiligten.
- Beachtung von unkontrollierbaren, irreversiblen Nebenfolgen, die das eigene Handeln haben kann, insbesondere die Eskalationsgefahren bis hin zu einem Atomkrieg.
- Suche nach alternativen Lösungen zu Militäreinsatz u.a. mit viel mehr (multilateraler) Diplomatie, um auf einen Verhandlungsweg zu kommen.
Ein überraschend weitgehender Konsens, der in der Diskussion zutage trat – auch und gerade mit denjenigen, die voll hinter einer Lieferung von Waffen an die Ukraine stehen – war die Vermeidung von Eskalationsszenarien, wie der Lieferung von “Taurus”-Marschflugkörpern. Insbesondere für die überwiegende Zahl von Grünen-Mitgliedern oder den Grünen nahestehenden Diskutant*innen. So brachten einige ihre Besorgnis bis Verzweiflung über die als unbedacht und risikobehaftet eskalierend empfundene Beschlusslage der Grünen zum Ausdruck, die inzwischen ihren öffentlichen Niederschlag in der Initiative “Aufbruch zum Frieden” findet, die u.a. vom baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Herrmann, einem SPD-Mitglied und von Mitgliedern der ev. Kirche ausgeht.
Zivile Verteidigung heisst mehr als Militär, Waffen und Geheimdienste
Wer sich darauf einlässt, genauer hinzusehen, was sozialer und pazifistisch-aktiver Widerstand erreichen können, muss feststellen, dass die vorherrschende Politik weder Methoden der zivilen Verteidigung, des zivilen Ungehorsams und der Sabotage gegen einen potenziellen Angreifer umfasst – alles Erkenntnisse, die in der Friedensforschung und Friedensbewegung der 80er und 90er Jahre vorhanden waren, aber in den offiziellen Strategien zur Verteidigung heute nicht auftauchen. Dabei kann sozialer Widerstand darauf verweisen – und dafür gibt es empirische Nachweise – dass in zwei Drittel der Fälle sozialer Widerstand erfolgreich war. Für gewaltsame Aufstände liegt die Erfolgsquote nur bei einem Drittel.
Aktuelle Verteidigungsstrategie völlig unzureichend
Politisch bedeutet das für die Zukunft Europas zur nachhaltigen Friedenssicherung, dass ganz andere Strategien notwendig sind, um eine demokratische, offene Gesellschaft mit demokratischen Mitteln resistent gegen Interventionen von Autokraten wie Putin, Xi oder auch Trump zu machen. Bisher setzt die offizielle Verteidigungspolitik oder “Politik der Kriegstüchtigkeit” ausschließlich auf militärische Bewaffnung und eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft bis hin zum Irrsinn einer Rüstung in Höhe von 3% des Bruttosozialprodukts, verbunden mit massiven sozialen Einschnitten, wie sie der neue NATO-Generalsekretär Rutte ins Spiel bringt. Und sie setzt zunehmend auf Feindbilder, z. B. mit der allen Zahlen widersprechenden These, 2029 würde Russland über ein militärisches Potential verfügen, die NATO angreifen zu können. Vielmehr sind allein die europäischen NATO-Staaten Russland weit überlegen, stellt man Militärausgaben und konventionelle Rüstung gegenüber. Der polnische Außenminister spricht von einer 3:1 Überlegenheit der NATO. Dass es gerade den Grünen – auch in diesem Wahlkampf – nicht einmal in den Sinn kommt, dass diese Politik weder realistisch noch finanzierbar ist, ohne den Kampf gegen den Klimawandel und soziale Unruhen von Rechts zu verlieren, könnte zu ihrem historischen Versagen werden.
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