Argentinien: Gespräch mit María Claudia Albornoz von La Poderosa über ein Jahr Milei
Am 10. Dezember 2023 ereignete sich in Argentinien eine Zeitenwende. Der Ultrarechte Javier Milei wurde Präsident. Er trat eine Lawine an Kürzungen, Sozialabbau und Repression los. Aktuell leben 53 Prozent der argentinischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Fast 25 Millionen (!) Personen können also ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr erfüllen. Wer schon vorher wenig hatte, ist jetzt besonders betroffen. Zum Glück gibt es Stadtteilorganisationen, die mit Gemeinschaftsküchen und anderem das größte Elend zu mildern suchen. Mittlerweile geraten auch sie an ihre Grenzen. María Claudia Albornoz, landesweite Sprecherin der sozialen Bewegung La Poderosa, erzählt im Gespräch mit der ila von ihren alltäglichen Kämpfen.
La Poderosa, „Die Mächtige“, entstand vor etwa 20 Jahren in Zavaleta, einer villa in Buenos Aires. Mittlerweile ist die Bewegung in ganz Argentinien aktiv, außerdem in Mexiko, Kolumbien, Peru, Ecuador, Paraguay, Uruguay und Brasilien. „Wir organisieren uns in Stadtteilversammlungen, einmal die Woche sprechen wir über die Politik und diskutieren Lösungen für aktuelle Probleme.“ La Poderosa versucht, über Kooperativen Einkommen zu generieren, was aktuell immer schwieriger wird. „Milei hat keine einzige politische Maßnahme ergriffen für die Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben“, stellt Albornoz fest. „Am meisten sind die comedores betroffen, die Gemeinschaftsküchen, in denen die Leute eine warme Mahlzeit am Tag bekommen.“ La Poderosa betreibt 140 Gemeinschaftsküchen im ganzen Land.
Die Vorgängerregierungen stellten Lebensmittel zur Verfügung. „Die Vorräte sind ja da“, empört sich Albornoz, „aber die Regierung rückt sie nicht raus, hat sie sogar verderben lassen.“ Bereits vier Gerichtsurteile sind dazu erlassen worden, damit die Nahrungsmittel ausgehändigt werden. Doch nichts passiert. „Damit fallen etwa 40 Prozent der benötigten Lebensmittel weg.“ Im Jahr 2023 aßen noch zehn Millionen Menschen in den comedores. „Die Leute aus unseren barrios arbeiten im informellen Sektor, die Frauen putzen, die Männer arbeiten auf dem Bau. Ihr Lohn reicht nicht, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren.“ Die Inflation tut ihr Übriges. Unter Milei ging sie zunächst weiter, zuletzt ging sie leicht zurück, befindet sich aber mit 193 Prozent im Vergleich zum Vormonat immer noch auf hohem Niveau. Preise für Bus, Gas und Mieten sind explodiert. „In Santa Fe kostet das Busticket jetzt 1200 Pesos. Eine Putzkraft verdient 1300 Pesos die Stunde. Zwei Stunden deiner Arbeit gehen jetzt für die Fahrtkosten drauf.“
Diese Probleme wirken sich auf den Bildungsbereich aus: Wer Hunger hat, kann nicht lernen. Zum Teil springen die Provinzregierungen ein und liefern, was zum Zubereiten des Essens nötig ist. . Aber: Viele Nachbarinnen, die früher beim Kochen mithalfen, müssen jetzt zum Familieneinkommen beitragen. „Wir haben weniger Köchinnen. Deshalb versuchen wir, alle, die Essen beziehen, beim Kochen einmal die Woche einzubinden.“ Es fehlt an Esswaren und an Menschen, die mit anpacken – ein ideales Einfallstor für illegale Akteure. „In Mexiko oder Kolumbien ist das längst Alltag“, bestätigt die Stadtteilaktivistin. „Die Narcos aus deinem barrio bieten Lebensmittel an, damit du kochst. Es wird immer schwerer, solche Angebote auszuschlagen. Wir wollen unsere Autonomie bewahren und lehnen das ab.“ Vor allem in Rosario, aber auch in Buenos Aires, gibt es Gemeinschaftsküchen, die von den Narcos finanziert werden. „Wenn sich die Narcos einmal etabliert haben, werden wir sie so schnell nicht wieder los“, so die Sorge von Albornoz. Die Gastronomie- oder Textilkooperativen, über die Einkünfte generiert werden können, sind das einzige Gegenmittel. „Gleichzeitig haben wir immer weniger Geld zum Ausgeben. Auch das ist ein Problem.“
Große Proteste haben seit dem Amtsantritt von Javier Milei stattgefunden: landesweite Generalstreiks im Januar und Mai, Proteste von Studierenden und Dozent*innen wegen der finanziellen Austrocknung der öffentlichen Universitäten oder vor kurzem das riesige landesweite Frauentreffen. Aber die Regierung Milei fährt fort mit ihrer Dampfwalzenpolitik. Was macht das mit den organisierten Bewegungen? „Wir sind mit einer unglaublich brutalen Polizeirepression konfrontiert“, erklärt Albornoz. Die Ministerin für Innere Sicherheit, Patricia Bullrich, will Straßenblockaden unterbinden und hat drakonische Strafen eingeführt. „Jetzt dürfen wir nur noch auf Plätzen demonstrieren. Aber selbst da verprügeln sie uns. Und wir können im Gefängnis landen. Zu Beginn von Mileis Amtszeit waren die Demos riesig, jetzt sind wir immer weniger. Weil wir Angst haben. Die Polizei ist der bewaffnete Arm Mileis.“
Gleichzeitig schauen alle, wie sie zurechtkommen, arbeiten mehr. „Darunter leidet die Gemeinschaftsarbeit.“ Also die Gemeinschaftsküchen, aber auch das Haus für Frauen und LGBTIQ, wo es Begleitung im Fall von machistischer Gewalt gibt, sowie die Hausaufgabenhilfe. „Viele Kinder in den barrios bringen die sechsjährige Grundschulzeit nicht zu Ende, ganz zu schweigen von einem Sekundarschulabschluss. So werden sie immer nur prekäre Jobs bekommen und Sklavenarbeit verrichten.“
Was motiviert die Aktiven von Organisationen wie La Poderosa, weiterzukämpfen? „Nur wenn wir uns zusammentun, können wir dem Ganzen entgegentreten. Wenn jeder für sich alleine kämpft, bringt das nichts.“ Hinzu kommen weitere Initiativen gegen den Hunger, zum Beispiel Gemüsegärten und Hühnerzuchten. Was außerdem das Ausmaß des Niedergangs zeigt: Der Fleischkonsum ist in den letzten zwölf Monaten um 28 Prozent zurückgegangen.
Neue Bündnispartner*ìnnen
Welche Verbündeten gibt es, wie steht es um die Gewerkschaften? „Die großen Gewerkschaften sind gelähmt, einige verhandeln gar mit der Regierung. Der einst so mächtige Verband CGT ist am Boden, ähnlich der CTA. Wir haben die Universitäten als Bündnispartnerinnen entdeckt. Unser neues Motto lautet: Bücher und Kochtöpfe.“ Die Unis hatten zuletzt ein enormes Mobilisierungspotenzial. Gegen die großen Demos der Unis ist die Milei-Regierung erstaunlicherweise nicht so repressiv vorgegangen. „Hier müssen wir Allianzen schmieden“, meint Albornoz. „Das könnten zum Beispiel offene Unterrichtsklassen sein, wofür die Studierenden zu uns in die barrios kommen. Die meisten von ihnen haben noch nie eine villa betreten, schließlich kommen sie aus der bessergestellten Mittelschicht. Nur wenige aus der Arbeiterklasse schaffen es bis zur Uni. Gerade erklären wir den Studierenden, wie wir leben. Die meisten kennen unsere Situation nur aus den Medien. Und denen sind wir ein Dorn im Auge, sie stilisieren uns zu Feinden der Nation. Die Medien behaupten, wir würden nicht arbeiten und wären faul. Dabei arbeiten wir sehr hart.“ Weil es informelle Arbeit ist, taucht die Arbeit der Menschen aus den villas in keiner Statistik auf. „Wir, die 53 Prozent verarmte Bevölkerung, wir halten dieses Land aufrecht. Was würde passieren, wenn diese mehr als 24 Millionen Menschen nicht mehr essen und auf die Straße gehen würden?“
Und wie sieht es mit dem Peronismus als möglichem Bündnispartner aus? „Auch der liegt am Boden. Früher haben einige Sektoren des Peronismus die Leute aus den ärmeren Vierteln vertreten, die stimmten dann für den Peronismus. Bei der letzten Wahl zeigte sich, dass diese Verbindung Geschichte ist, weil die Leute zu oft enttäuscht worden sind. Viele wählten nun Milei – einen Selbstdarsteller, der den Staat zerstören will. Und er macht damit Ernst. Jeden Tag werden wir mit einer neuen Maßnahme konfrontiert, die unsere erkämpften Rechte zerschlägt.“ Haben die Wähler*innen, die aus Enttäuschung Milei gewählt haben, ihre Meinung geändert angesichts des angerichteten Chaos? „Einige träumen immer noch davon, dass er sie mit einer anderen Politik, vor allem, was die Wirtschaft betrifft, retten wird. Dabei ist deutlich geworden, dass seine Politik für die Leute ganz unten nichts bringt. Im Gegenteil, er zerstört nur. Er lässt seine Wut an den sozialen Organisationen aus. Andere seiner Wähler*innen sind enttäuscht und hoffen, dass alles so schnell wie möglich vorbei geht.“
Digitaler Warfare
Javier Milei ist durch die Medien, vor allem Plattformen wie TikTok und X groß geworden. Sogenannte digitale Milizen machen mobil gegen Kritiker*innen. Welche Gegenstrategie haben die sozialen Bewegungen? „Wir haben unsere eigenen Medien namens ‚La Garganta‘, im Web und auf den Plattformen, und versuchen den rechten Influencern etwas entgegenzusetzen. Allerdings haben die wenigsten in den barrios stabilen Zugang zum Internet, während die Rechten fleißig streamen. Dabei hetzen sie gegen die sozialen Bewegungen. Wir schulen unsere Leute für die Medienarbeit und setzen uns wöchentlich zusammen, um zu überlegen: Was wird berichtet, welche Nachrichten möchten wir bringen? Wenn du allerdings den ganzen Tag arbeitest, hast du nicht die Zeit, um alle Plattformen zu beobachten.“ Milei ist besonders aktiv auf X und hetzt permanent gegen die „Zurdos“ (abwertender Begriff für Linke). „Damit beeinflusst er Medienportale wie Infobae, das mit das wichtigste in Lateinamerika ist.“
Abschließend appelliert Albornoz an die internationale Solidarität: „Wie es im Song von Charly García heißt: Sie wollen uns weiterhin unterkriegen. Deswegen steht die organisierte Bevölkerung im Fadenkreuz. Wir müssen internationale Netzwerke schaffen, die erzählen, was in Argentinien passiert. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen. Wir hatten noch nie so eine grausame Regierung. Aber wir wissen, dass wir nur gemeinsam voran kommen.“
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ila 481 Dez. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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