Seinen ersten Artikel hatte Alwys am Sonntag also glücklich über die Telefonleitung an die Redaktion schicken können. Als sich das Faxgerät nach vollbrachter Dienstleistung von selbst wieder in den Empfangsmodus geschaltet hatte, war es in dem gediegen angedeuteten Rittersaal-Büro mucksmäuschenstill geworden. Jelena fühlte plötzlich an ihren Fußsohlen das Fehlen jenes leichten Rüttelns ihrer Gliedmaßen, hervorgerufen durch das Gleiten der Stahlkufen über die Spurrillen einer stark benutzten Eisfläche wie einen Phantomschmerz. Ihren recht schlanken hochgewachsenen Körper empfand sie in diesem Moment als tonnenschwer, als unüberwindliches Gebirge, hinter dem tatsächlich und vielleicht ein besseres Leben jenseits von Eislauf und wettergegerbten Paprikaerntehänden auf sie warten könnte. Nur war es noch so unendlich weit weg von ihrer jetzigen Situation in der auf engem Raum lebenden Großfamilie. Als sie dem mittlerweile nur mit sich und seinem Manuskript beschäftigten Alwys unversehens den Rücken kehrte, ein „Zieh’, bitte, die Tür hinter dir zu, wenn du gehst“ mehr in sich hinein sprach als zu ihm und sich wie eine Fata Morgana nach unverhofftem Kälteeinbruch in der Wüste verflüchtigte, hatte sie selbst das Gefühl, sie würde sich dabei mit letzter Kraft aus diesem Tag, diesem merkwürdigen Wochenende und aus ihrem alten Leben schleppen, in dem bisher alles ein Traumtanz bleiben musste, was auch nur einen Millimeter von der Routine des Tagesgeschäfts abwich.
„Aha, hier steht die Wunderwaffe! Also ist kein Morgensprint zur Post fällig, wenn Billy, the Writerkid, gezogen hat,“ Alwys’ Phlegma bewahrte ihn – wie so oft, so auch jetzt – vor allzu viel Einfühlung in einen anderen Menschen. “I’m a writer, not a fighter,” von Gilbert O’Sullivan sang er jetzt froh in sich hinein. Sein Faxproblem schien gelöst zu sein. Auf dem Weg zurück zum Wirtschaftsgebäude konnte er sich überhaupt nicht erklären, warum sein Blick so glasig geworden war und er für einen sehr langen Moment im leichten Wind des Frühsommerabends hinüber zu den schillernden Lichtern des Rheingaus blickte, ohne auch nur irgend etwas davon wahrzunehmen.
Die folgende Woche verstrich, irgendwie. Alwys und Josh probten jeden Abend im leicht stickigen Weinkeller der Republik freier Flaschenhals bis in die Nacht. Der Umzug hatte die Finger für die Zupfinstrumente ziemlich steif werden lassen, also musste viel geprobt werden. Josh brachte Frikadellen und Brötchen mit hinunter in den Keller, um dem Duo auch kulinarisch Bodenhaftung zu geben. Am Ende saß das Programm aus instrumentalen Titeln für den Body-Building-Abend am kommenden Samstag sehr präzise. Alle Schlüsse waren genau festgelegt worden. Josh und Alwys konnten sich ja leicht gegenüber setzen, so dass Blickkontakt ständig gegeben war. Ihre Mitbewohner, sogar Legu, auch Jelena und ein Onkel von ihr und überhaupt viele Freunde hatten sich für das Konzert auf dem weitläufigen Zitadellengelände über der Stadt Karten besorgt und wollten kommen.
Angel entpuppte sich in der Woche als perfekte Rechercheurin in Sachen Bürgermeister ausfindig machen – Hartnäckigkeit war eine ihrer zwiespältigen Eigenschaften. Der Bürgermeister von St. Goar hieß Zehner und stammte eigentlich aus dem Guldental in der Nähe von Bad Kreuznach. Er war seit Jahr und Tag der immer wieder gewählte Kandidat einer freien Wählergemeinschaft, die es sich mit allen gut halten wollte, mit den Schwarzen genauso wie mit den Sozis und ein paar versprengten Liberalen, die man sommers beim verbotenen Nacktbaden oberhalb von St. Goar an einem versteckten Badesee neben einem Schiefersteinbruch antreffen konnte.
Man nannte Zehners Amtsstil das Mittelrhein-Modell: Alle Ämter wurden, wie er fand, gerecht auf alle relevanten Parteien verteilt. Da konnte sich niemand beschweren. Bau- und Wirtschaftsdezernat gab er den Schwarzen, Kultur und Schulwesen den Roten. Die Liberalen stellten den Kämmerer und machten sich für mehr Eigenverantwortung und Autonomie in der kommunalen Verwaltung stark. Wenn hier von den Grünen die Rede war, dann meinte man damit die Polizei und nicht die gleichnamige und mit verschwindend geringen Anhängern in St. Goar vertretene Partei. Zehner war Vorsitzender des Vereinsrings, des Gewerbevereins, vor etlichen Jahren auch Schützenkönig und in grauer Vorzeit auch einmal Karnevalsprinz gewesen. „Am Rhein sind alle Zehner blau“ lautete ein Jahr nach dem Mauerbau das Motto der denkwürdigen Kampagne an der Loreley. Der 1949 von Jupp Schmitz komponierte Karnevalsschlager „Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld,“ hatte damals bis hoch nach Emmelshausen im Hunsrück und seitwärts bis Bingen und Boppard eine wunderbare Renaissance erlebt. Zehner hatte daraus quasi einen Gospel gemacht. Er sang auf dem Prunkwagen beim Umzug eben diese Verszeile „Wer soll das bezahlen? Wer hat soviel Geld?“ und die närrische Gemeinde schrie ihm dann responsorial entgegen „Der Zehner!“ Zum Spiritual wurde der Schlager nach den Umzügen in den Ortschaften ringsum ja wie von selbst.
Angel berichtete weiter: Besonders stolz war Zehner auf die durchgesetzte Einrichtung der Burgruine Rheinfels als Besucherburg nebst ausgebautem Wellnesshotel sowie der Gründung des Heimatvereins „Verein zur Pflege und Erhaltung des Loreleyfelsens.“ Beim Sommer-Open-Air auf der Loreley-Bühne sprach er letzten Sommer vor dem Jethro Tull Konzert einige mahnende Worte an das auch nicht mehr ganz so junge Publikum wegen der Sauberkeit in den umliegenden Weinbergen, appellierte an deren Moral und ließ sich später mit Bandleader Ian Anderson für das Lokalblatt fotografieren. Dessen Klassiker-Rocksong „Locomotive Breath“ hatte ihm gut gefallen, irgendwie schien Zehner mit seinen Mitte fünfzig, Bauchansatz, immer leicht geröteter Gesichtshaut und kleinen Augenschlitzen äußerlich mehr dem Soldaten Schweijk zu entsprechen als dem Nachfahren eines verbürgerlichten Bauerngeschlechts vom Fuß des Hunsrücks. „Aus der Art geschlagen,“ hatten sie im Guldental über ihn gesagt. Der Zehner-Schorsch sei einfach aus der Art geschlagen. Das alles hatte Angel nach einem Besuch des Archivs beim Rheinischen Volksfreund in Bingen als Informationen mitgebracht und am Donnerstagabend beim wöchentlichen Schnitzelessen referiert.
Das klingt ja ganz vielversprechend, hatte Legu leicht erregt angemerkt, der Typ ist too old for Rock’n Roll und too young to die. Vielleicht will der noch was bewegen, der alte Monarch. Ein aufgeklärter Fürst würde wahrscheinlich wunderbar funktionieren. Wir werden zwar nicht an Voltaire heranreichen und die preußische Rheinprovinz war auch lange nach Fredericus Rex dem Zweiten, aber mit Option auf einige Volt können wir ihn vielleicht gewinnen. Zwischen Willen und Volt ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.
Tatsächlich war es bei der letzten Kommunalwahl für Zehner knapp geworden, hatte Angel heraus bekommen, weil er nach dem Tschernobyl-Unglück weiter am Atomkraftwerk Mühlheim-Kärlich im unweiten Neuwieder Becken festhielt und sich nicht den Protesten gegen den Probebetrieb angeschlossen hatte. Das hatten ihm auch seine verunsicherten Stammwähler nicht verziehen und es schien zunächst, als würde Zehner gegen den Kandidaten der Sozis verlieren. Gewann aber nur knapp und mehr aus Gewohnheit der Wähler als wegen seiner Politik. Zehner brauchte also dringend eine politische Aufwertung vor Ort, lautete Angels erstaunlich gute Analyse. Alle Achtung, dachte Alwys, soviel Scharfsinn hätte ich dem wandelnden Buchstabenbastelbogen gar nicht zugetraut.
Josh und Alwys hatten zu dem Zeitpunkt aber eigentlich nur noch ihren Auftritt im Kopf. Auf Legus Frage, ob sie denn jetzt am Sonntagmorgen nach St. Goar fahren sollten, wofür Joshs R 4 gebraucht würde, bekam er nur ein abwiegelndes, „Ja, klar, fahren wir,“ als Antwort.
„Ich habe am Dienstag übrigens den Funktypen angerufen wegen der Wettervorhersagen. Nächste Woche fahre ich den in seinem Büro besuchen. Fritz ist übrigens noch wetterfühliger geworden, habe ich beobachtet, hoffe, der hat kein Rheuma von unseren nasskalten Wintern bekommen. Der kann Unwetter jetzt schon halbe Tage im Voraus wittern. Wochenprognosen bekommen wir zusammen mühelos hin. Der Funker müsste uns dafür vielleicht 250 Mark zahlen, dachte ich mir. Die Haltungskosten für Fritz müssen ja auch irgendwie getragen werden. Der frisst doch ziemlich viel für so ein träges Leben in meiner Bibliothek, meine kleine Leseratte von den Osterinseln.“
„Zehner, das ist jedenfalls unser Mann, den kaufen wir uns! Wenn wir den um 11 nach der Kirche treffen wollen, sollten wir am Sonntag um kurz vor zehn hier losfahren. Samstag darf es nicht so lang’ werden, bei Euerem Körperkulturkonzert,“ schloss Legu mit für ihn ungewöhnlichem Redeeifer ab, während er die Panade vom Schnitzel abkratzte, was Alwys, der sein erstes Schnitzel erst mit 14 zu essen bekam, weil es bei im nur Kottelettes gab, was das ganze Heimatkaff natürlich wusste, wie eine Gotteslästerung vorkam. Als Alwys ihm dabei etwas erstaunt zuschaute, bemerkte Legu: “Ich mache es wie die Chinesen, die essen auch alles nacheinander. Habe mal welche in der Bahn im Speisewagen frühstücken gesehen. Die mampften erst die Wurst, ließen sich dann die Butter auf der Zunge zurgehen und würgten zum Schluss am trockenen Brötchen. Der Kaffee kam final zum Einsatz.”
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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