Sicherheit in der Atomtechnik

Die Stilllegung der letzten drei Atomkraftwerke im Frühjahr 2023 ist jetzt im laufenden Wahlkampf eines der wichtigen Themen der Konservativen. Der Untersuchungsausschuss, der diesen Ausstieg untersucht, soll ihnen Argumente liefern für den Wiedereinstieg in die ebenso teure wie gefährliche Atomenergie. Recherchen zeigen, den Befürwortern schwebt ein grundlegender Umbau der Elektrizitätswirtschaft vor. Um deren Sicherheit kümmern sie sich weniger. Seit Sommer 2024 untersucht der 2. Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags die Umstände des Atomausstiegs von Februar 2022 bis Juli 2024. Die Zeugenvernehmung ist abgeschlossen, die Abgeordneten sitzen jetzt an ihren Abschlussberichten.

Die letzten drei AKWs trugen damals sechs Prozent zur einheimischen Stromproduktion bei. Der Auftrag des Ausschusses: „Sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke.“

Ohne Atomenergie gingen schon immer die Lichter aus – oder nicht?

Der Hintergrund: Unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine fürchteten Unternehmen und wirtschaftsnahe Politiker, die Energie-Versorgung sei gefährdet. Zur Erinnerung: Diejenigen, die am dringlichsten vor Stromausfällen warnten, hatten jedoch schon immer behauptet, ohne Atomenergie gingen die Lichter aus. Der politische Druck, den sie gleichwohl erzeugen konnten, veranlasste damals Bundeskanzler Olaf Scholz, den Ausstieg um ein Vierteljahr zu verschieben. Statt zum Jahresende 2022 wurden die Kraftwerke Isar-2, Emsland und Neckarwestheim-2 erst am 15. April 2023 abgeschaltet.

Ein Fehler, eine Dummheit, gar eine Verrücktheit sei das gewesen, die AKWs abzuschalten, dröhnt es nun heute im laufenden Wahlkampf aus den Reihen von CDU, CSU, AfD und FDP. Sie fordern einen Wiedereinstieg in die Atomenergie, der dann die vierte Kehrtwende der deutschen Nuklearpolitik wäre. Um diese zirkulöse, freilich für die Atomwirtschaft typische Politik mühsam zu begründen, soll ihnen der Untersuchungsausschuss Hinweise liefern, dass bei den Entscheidungen des Jahres 2022 Einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.

Das deutsche Beamtentum gedemütigt?

Ein bürokratischer Vorgang im Bundeswirtschaftsministerium war vom rechts-konservativen Monatsmagazin Cicero zum Skandal aufgeblasen worden. Demnach hatte ein Beamter einen Vermerk über den möglichen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken angefertigt, der nicht nach oben zum Minister, sondern nach unten in den Papierkorb gelangt sei. So soll eine grüne Seilschaft im Habeck-Ministerium angebliche Fachargumente unterdrückt und gegen die ideologiefreie, ergebnisoffene Meinungsbildung verstoßen haben. Nicht weniger als — eine Demütigung des deutschen Beamtentums!

Falls diese Darstellung stimmt, hat der fragliche Staatsbedienstete bestenfalls Argumente zusammengetragen, die von Experten (mit beschränkter Haftung) bereits hundertfach öffentlich heruntergebetet worden waren. Steffi Lemke und Robert Habeck, die zuständigen Bundesminister, ließen sich jedoch nicht beirren. Unter anderem trugen sie vor: Eine Laufzeitverlängerung sei auch aus Sicherheitsgründen nicht zu vertreten; so sei von den Aufsichtsbehörden die unabdingbare zehnjährige periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) der Atommeiler angesichts des nahen Betriebsendes schon 2019 ausgesetzt worden. Das Argument der Minister: Im Falle eines Weiterbetriebes müsse als erstes diese Überprüfung, die Monate dauere, nachgeholt werden. Erst danach könne verantwortlich entschieden werden, ob mit den alten Kraftwerken überhaupt noch etwas angefangen werden könne. Das Argument war überzeugend.

Nuklearisten greifen an

Aber es dauerte nicht lange, bis die Nuklearisten ihren Gegenangriff starteten. Zwanzig Professoren veröffentlichten „unter Mitwirkung der geschätzten Kollegin Anna Veronika Wendland“ eine Stuttgarter Erklärung für den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken und sammelten dafür sagenhafte 58 477 Unterschriften. Dann packte die unermüdlich für Atomenergie werbende Publizistin Wendland ihr Gegenargument aus. Die Bundesregierung habe „nachweislich und systematisch unwahre Aussagen über den Sicherheitszustand und die Laufzeitverlängerungs-Optionen der deutschen Kernkraftwerke“ gemacht, behauptete sie; hier zitiert nach ihrer Aussage vor dem Untersuchungsausschuss. Erstens werde eine PSÜ während des laufenden Betriebs durchgeführt und zweitens sei sie auch nicht ausschlaggebend für eine Beurteilung des Ist-Zustands der AKWs. Hierfür seien die sogenannten wiederkehrenden Prüfungen vorgesehen, mit denen sicherheitsrelevante Komponenten der Kraftwerke regelmäßig überprüft würden. Der TÜV-Süd, der eine Laufzeitverlängerung für Isar-2 als unbedenklich eingestuft hatte, erklärte, die Anlagen seien „auf Herz und Nieren und ganz engmaschig“ geprüft worden. Dabei hätten sich keine nennenswerten Beanstandungen ergeben.

Angesichts solcher fachlich umstrittenen Auskünfte setzte sich in Teilen der Öffentlichkeit die Meinung durch, das atomare Aus sei im April 2023 ohne triftigen Anlass erfolgt. Und man hätte die AKWs mit neuem Brennstoff ohne weiteres noch jahrelang betreiben können.

Was stimmt? Wer lügt?

Um diese Fragen zu beantworten, ist ein genauer Blick auf diese wiederkehrenden Prüfungen notwendig: Wie oft werden sie gemacht? Was wird genau untersucht? Und wie werden die Befunde gewertet? Mit anderen Worten: Wie ist es wirklich um die sogenannte Sicherheitskultur in der Atombranche bestellt? Waren diese drei alten Meiler überhaupt noch sicher?

Es gab im Jahr 2022 einen sehr konkreten Anlass, bestimmte Kraftwerkskomponenten unverzüglich unter die Lupe zu nehmen. Denn in Frankreich waren Ende 2021 gravierende Korrosionsschäden an den Reaktoren der AKWs Civeaux und Chooz entdeckten worden. In der Folge wurde der gesamte Kraftwerkspark bei unseren Nachbarn überprüft. Und in jeder zweiten Anlage wurden die gleichen Defekte diagnostiziert. Sogenannte Spannungsrisskorrosionen betrafen die Anschlüsse von Not- und Nachkühlsystemen an den primären Kühlkreislauf. Was bedeutete dieser Befund, der aus Gründen der Genauigkeit umständlich und leider auch undurchsichtig formuliert wird? Die korrodierenden Stellen befanden sich innerhalb des Primärkreislaufs. Damit war die Kühlung des Reaktors direkt tangiert. Das erklärt die damalige Aufregung bei der französischen Atomaufsicht.

Nun lautet die entscheidende Frage: Konnte so etwas auch in deutschen Kraftwerken, die nach Alter, Leistung und Design den Anlagen von Civeaux und Chooz ähneln, passiert sein? Die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ (GRS) berichtete in einem informativen Artikel über die Probleme in Frankreich, um am Ende lapidar festzustellen, dass eine Übertragbarkeit auf deutsche Kernkraftwerke nicht gegeben sei. Der Grund: „Die deutschen Anlagen werden regelmäßig mit geeigneten Verfahren geprüft … Bei diesen Untersuchungen wurden bislang keine Risse dieser Art festgestellt.“ Bedenken ausgeräumt?

Gravierende Schäden in Frankreich

Aufgrund von schriftlichen Nachfragen bei der GRS ließ sich (vom Autor dieses Textes) zunächst klären, dass die Aufsicht bei den drei letzten deutschen Atomkraftwerken insgesamt 48 Schweißnähte hätte ansehen müssen, um zu prüfen, ob es die in Frankreich aufgetretenen Probleme auch bei den deutschen Atommeilern gibt. Wiederkehrende Ultraschallprüfungen seien in den deutschen Anlagen regelkonform durchgeführt worden, nämlich alle fünf Jahre, erklärte die GRS, die letzten 2019, 2020 und 2021. Signifikante Risse, wenn es welche gegeben hätte, wären dabei „sicher erkannt“ wordeni. Das legt nahe, dass in den drei AKWs jeweils 16 kritische Schweißnähte in den genannten Jahren überprüft worden wären. Ein Satz in der Email der GRS sagt jedoch etwas Anderes aus: „Nach unserem Kenntnisstand sind bisher im Laufe der Betriebszeit bei den drei Konvoi-Anlagen zusammen 46 der insgesamt 48 Schweißnähte geprüft worden.“ Es hört sich so an, als ob in drei Jahrzehnten jede der kritischen Schweißstellen genau einmal überprüft worden wäre und zwei von ihnen gar nicht.

Außerdem und das ist entscheidend: Nach dem Bekanntwerden der französischen Rissphänomene im Jahr 2021 haben bei den deutschen Meilern gar keine Prüfungen mehr stattgefunden, jedenfalls nicht bei diesen kritischen Anschlüssen.

Was sagen die Bundesländer?

Für genauere Auskünfte verwies die GRS den Autor dieses Textes an die Aufsichtsbehörden der Länder. Folglich mussten die Umweltministerien von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen auch noch angeschrieben werden. Die Abteilung Kommunikation des Niedersächsischen Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz gab zur Auskunft, im AKW Emsland hätten die letzten Prüfungen im Jahr 2019 stattgefunden. „Hierbei wurden 2 Schweißnähte aus 2 Loops mit dafür qualifizierten Ultraschallverfahren geprüft.“ Die Pressestelle des Ministeriums für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft von Baden-Württemberg teilte mit, im AKW Neckarwestheim-2 seien im Jahr 2021 zwei der fraglichen Schweißnähte geprüft worden, davor nochmal zwei im Jahr 2017. Die Abteilung Bürgerkommunikation des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt und Verbraucherschutz antwortete, im AKW Isar-2 seien zuletzt zwei Schweißnähte geprüft worden. Dies sei während der Jahresrevision 2020 geschehen.

Mit anderen Worten: Das kerntechnische Regelwerk sieht für die betreffenden Rohrstücke vor, dass alle fünf Jahre jeweils zwei von sechzehn Schweißstellen mit Ultraschall geprüft werden. Wenn diese beiden Nähte nicht zu beanstanden sind, extrapoliert die Aufsicht den Befund auf die übrigen vierzehn.

Ob Extrapolation ein geeignetes Verfahren für die Beurteilung des Ist-Zustands einer Hochrisikotechnologie ist, muss von den Aufsichtsbehörden entschieden und vor allem verantwortet werden. Hier geht es jedoch vor allem um die Worte “wiederkehrend” und “engmaschig”, die in der Auseinandersetzung um einen Weiterbetrieb dreier Atomanlagen kämpferisch eingesetzt wurden. Sie sollten das Aussetzen der Periodischen Sicherheitsüberprüfung wettmachen und im Sinne der Atomkraft-Fans den Eindruck einer peniblen laufenden Kontrolle erwecken.

Das Gegenteil war der Fall. In dem hier erörterten Beispiel, bei dem es immerhin einen aktuellen Anlass zu einem konkreten Korrosionsverdacht gegeben hatte, fand eine Prüfung der kritischen Stellen genau einmal während der gesamten Betriebszeit statt, also weder wiederkehrend noch engmaschig. Jede und Jeder darf sich ein eigenes Urteil bilden, wer in diesem Fall von wem nachweislich getäuscht wurde.

Hat uns die umtriebige Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland an der Nase herumgeführt? Soviel Meinungsfreiheit wollen wir uns nicht herausnehmen. Es könnte freilich sein, dass sie sich in ihrem nuklearen Enthusiasmus selbst getäuscht hat.

Beweisvernichtung? Schade

Mittlerweile sind an den stillgelegten Atomkraftwerken Rückbauarbeiten im Gange. Säge und Säure werden eingesetzt, um einzelne Bestandteile herauszuschneiden und zu dekontaminieren. Dabei hätten diese Bestandteile wichtige Forschungsobjekte sein können, um Phänomene wie Spannungsrisskorrosion oder Neutronenversprödung zu ergründen. Daran haben die Nuklearisten nicht eine Sekunde lang gedacht, offensichtlich auch die vermeintlich exzellenten Professoren der Stuttgarter Erklärung nicht. Dabei ist nicht undenkbar, dass ihnen eine ergebnisoffene Nachuntersuchung vielleicht auch Recht gegeben hätte. Dafür scheint es jetzt zu spät zu sein. Mögliche Asservate sind bereits beschädigt oder zerstört. Im Schreddern macht uns keiner was vor.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei bruchstücke, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Detlef zum Winkel / Gastautor:

Dipl.phys. Geb. 1949. 1967-1975 Studium der Physik, Diplomarbeit am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY); Lehrer an Hamburger Schulen; freier Autor; Arbeit in Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke und gegen die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens. Antifa. Seit 1991 Informatiker.