Veronika Grimm, Professorin für Energiesysteme und Marktdesign an der Technischen Universität Nürnberg, ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sie gehört also dem Gremium an, das medial unter der Bezeichnung »die fünf Wirtschaftsweisen« bekannt ist und einmal im Jahr mit fragwürdigen Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik an die Bundesregierung herantreten darf. Kürzlich trieb es Grimm dazu, ihre Kompetenz auch in den Fachgebieten Geopolitik, Forschung, Militär- und Nuklearstrategie zu demonstrieren. Im Zuge der von der Union begonnenen Debatte über eine Rückkehr zur Atomenergie sprach die Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ-Paywall) mit Grimm. Sie bezeichnete den Atomausstieg zunächst unter energiewirtschaftlichen Gesichtspunkten als »Fehler«. Ganz schlimm sei zum Beispiel, dass seitdem mehr Strom importiert als exportiert werde.

Wie man es von einer Ökonomin erwartet, bemühte Grimm ein paar Zahlen, um die Behauptung zu belegen, dass der Betrieb von Atomkraftwerken »deutlich billiger« sei als der Stromimport während einer sogenannten Dunkelflaute. Sprecher der Energieunternehmen dementieren dies allerdings regelmäßig. Am deutlichsten äußerte sich Joe Kaeser, der mit Grimm im Aufsichtsrat von Siemens Energy sitzt, in der Talkshow »Maischberger« Ende November dazu:

“Es gibt kein einziges Atomkraftwerk auf dieser Welt, das sich ökonomisch rechnet.”

Es wäre schon als Fortschritt zu werten, wenn diese Erkenntnis Eingang in den derzeitigen Wahlkampf fände, der weitgehend von Nukleardilettanten geführt wird. Sie müsste um weitere fundamentale Wahrheiten ergänzt werden: Die teuerste Energie ist jene, deren Brennstoff am teuersten herzustellen ist; noch teurer wird diese Energie dadurch, dass man ihre Abfallprodukte Hunderttausende Jahre lang sicher verwahren muss. Hingegen ist jene Energie am billigsten, deren »Brennstoff« umsonst vorhanden ist und nicht einmal geschürft werden muss. Solche Erkenntnisse gehören anscheinend nicht zum Vorlesungsstoff von Grimm an der TU Nürnberg.

In der FAZ beschränkte Grimm ihre Empfehlungen zur Atomkraft allerdings nicht auf die Energieversorgung, sondern gab gleich welche zur militä­rischen Aufrüstung hinzu: »In der Kosten-Nutzen-Abwägung ist es sinnvoller, nuklear nachzurüsten als ausschließlich konventionell.« Bestehende Gesetze und unterschriebene Verträge spielen bei ihrem Ausflug in die Welt der Panzer und Raketen keine Rolle. Deutschland solle ihrer Meinung nach zwar keine Atommacht werden, aber »sich technologisch und finanziell daran beteiligen, Europa in die Lage zu versetzen, zur Abschreckung eigene Kernwaffen zu entwickeln und aufzustellen«. Auch Kaeser zeigte sich bei »Maischberger« offen für Investitionen in eine deutsche Atom­infrastruktur, sollte die Regierung das als »strategisch« wichtig ansehen. Dies sei selbst dann eine Überlegung wert, wenn es sich wirtschaftlich nicht rechne.

Sollte eine künftige Bundesregierung tatsächlich Grimms Empfehlung folgen, die EU atomar aufzurüsten, wäre das ein mehrfacher Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag (NVV). Das Ziel des Vertrags ist ja die Verhinderung neuer Atommächte. Zum einen ist Frankreich als Atomwaffenstaat nach Artikel I des NVV verpflichtet, »Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt ­darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben«.

Das Verbot einer mittelbaren Weitergabe beugt allen Tricks vor, die französische force de frappe irgendwie zu europäi­sieren. Zum anderen sind alle europäischen Unterzeichner des NVV einschließlich Deutschland gemäß Artikel II verpflichtet, »Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.«

Argumente aus der Mottenkiste

Der NVV schließt eine EU-Atommacht genauso aus wie eine deutsche. »Das Fingerl ans Knopferl« (Franz Josef Strauß) bekommen die Deutschen nicht, ohne ein wichtiges internationales Vertragswerk zu zerreißen, welches bei aller Unvollkommenheit dazu beigetragen hat, die Verbreitung von Atomwaffen einzudämmen. Um den Eindruck zu vermeiden, dass sie ihre Kompetenzen hemmungslos überschreitet, bindet Grimm ihre Empfehlung zur atomaren Aufrüstung an überaus zweifelhafte Wirtschaftlichkeitsargumente aus der historischen Mottenkiste.

Die lassen sich mit einem Blick in die unvollständigen und dennoch ­erhellenden Schätzungen über die Kosten für die US-Atomstreitkräfte, die das Congressional Budget Office erstellt, leicht entkräften. Für die Jahre 2014 bis 2023 beispielsweise wurden sie auf 350 Milliarden US-Dollar ver­anschlagt. Für den gleichen Zeitraum fünf Jahre später, also für 2019 bis 2028, schätzte die Behörde die Ausgaben auf 494 Milliarden, im Durchschnitt also 50 Milliarden jährlich. Die neueste Zehnjahresschätzung, erstellt im Sommer 2023 für den Zeitraum von 2023 bis 2032, schätzt die Ausgaben bereits auf 756 Milliarden US-Dollar. Das wären dann durchschnittlich 75 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die das US-amerikanische Atomwaffenprogramm verschlingt.

Im Verhältnis zu den gesamten bei der Plattform Statista angeführten ­Militärausgaben der USA machten die Kosten für die Atomstreitmacht vor zehn Jahren etwa fünf Prozent aus, vor fünf Jahren sieben Prozent und im vergangenen Jahr über acht Prozent. Sie verbilligen die Militärhaushalte nicht, sie schrauben sie vielmehr in die Höhe. Und diese Angaben sind noch systematisch untertrieben, denn sie sollen der Öffentlichkeit den atomaren Wahnsinn verkaufen. So ist die Subventionierung der zivilen Atomindustrie, unverzichtbare Logistik einer Atommacht, darin nicht enthalten.

Siemens stellt sich ganz vorne an

Spätestens seit dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine werden FAZ, Spiegel und Springer nicht müde, eine deutsche Atombewaffnung zu thematisieren. In Beiträgen dieser Medien zum »Undenkbaren« sind die ­Befürworter in erdrückender Mehrheit. Im Vergleich zu dieser Kampagne ­wirken Grimms Vorschläge, den Anschluss an die Atomforschung nicht zu verlieren, eher maßvoll. Wer das so sieht, muss sich die Frage gefallen lassen, mit welchem Recht wir den Iran sanktionieren, der gewöhnlich hinter ähnlichen Argumenten in Deckung geht.

Aufschlussreich ist dabei, dass solche Diskussionen offenbar auch im Aufsichtsrat von Siemens Energy geführt werden, denn die Äußerungen von ­Kaeser und Grimm sind bei genauerer Betrachtung durchaus kompatibel. Es sei daran erinnert, dass Siemens maßgeblich am Bau aller deutschen Atomkraftwerke beteiligt war und anschließend Joint Ventures mit dem franzö­sischen Unternehmen Framatome und der russischen Rosatom einging. Mit seinen globalen Ambitionen leistete der Konzern entscheidende Starthilfen für das iranische Atomprogramm.

Mit viel Ach und Weh beugte sich der Konzern dem Atomausstieg, aber nach wie vor behauptet sich das Unternehmen, jetzt Siemens Energy, im Turbinengeschäft. Siemens nimmt aus der derzeitigen Debatte offenbar vor allem eines mit: dass ein deutsches Los Alamos – oder die deutsche Filiale eines Los Alamos der EU – lukrative Auf­träge für die Privatwirtschaft abwerfen würde. Da stellt sich Siemens schon mal ganz vorne an.

Dieser Beitrag erschien auch in Jungle World und auf bruchstuecke.info, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Detlef zum Winkel / Gastautor:

Dipl.phys. Geb. 1949. 1967-1975 Studium der Physik, Diplomarbeit am Deutschen Elektronen-Synchroton (DESY); Lehrer an Hamburger Schulen; freier Autor; Arbeit in Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke und gegen die Startbahn 18 West des Frankfurter Flughafens. Antifa. Seit 1991 Informatiker.