Am 20. Februar ist der Welttag der sozialen Gerechtigkeit. Zwar wird dieser Gedenktag kaum dazu beitragen, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, doch kann er uns zumindest daran erinnern, wie ungerecht es weltweit immer noch zugeht. 2009 hatten die Vereinten Nationen den ‘internationalen Tag der sozialen Gerechtigkeit‘ erstmals ausgerufen. Zumindest an diesem Tag soll weltweit an die bestehende soziale Ungerechtigkeit erinnert und zu ihrer Überwindung aufgerufen werden.

Allerdings wird immer wieder darüber gestritten, wie (un)gerecht es zugeht und was wir an sozialer Gerechtigkeit erwarten dürfen. Eine einheitliche und verbindliche Definition gibt es nicht. Politik und Gesellschaft diskutieren kontrovers. Es gibt lediglich einige messbare Größen, um Unterschiede und Entwicklungen nachzuvollziehen. Anhaltspunkte liefern beispielsweise die Verteilung von Einkommen und Vermögen, der Zugang zu Bildungschancen und zum Arbeitsmarkt, Alter- und Kinderarmut.

In den meisten Untersuchungen sind die Vermögenskonzentration sowie die Einkommenshöhe die zentralen Kriterien für die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft. In Deutschland summierte sich das Nettogesamtvermögen aller Privathaushalte im Jahr 2021 auf 13,2 Billionen Euro. Die untere Hälfte der erwachsenen Bevölkerung besaß davon gerade einmal 1,3 Prozent. Die wohlhabendsten zehn Prozent besaßen rund zwei Drittel des Gesamtvermögens, dem reichsten Prozent der Bevölkerung gehörten 35 Prozent. Die Gruppe der reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung besaß sogar ein Fünftel des deutschen Gesamtvermögen.

Bemerkenswert ist, dass es sogar ein international übliches Instrument zur Messung von Einkommens- und Vermögensungleichheit gibt, den Gini-Koeffizienten, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini. Dieser misst z.B., wie gleich oder ungleich das Vermögen innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verteilt ist. Es kann zwischen 0 und 1 liegen. Je näher sein Wert an der 1 liegt, umso ungleicher ist das Vermögen verteilt. Im Jahre 2020 lag Deutschland bei 0,83 und wies damit in der EU die höchste Vermögensungleichheit auf. Die USA lagen bei 0,87.

Neben dem Gini-Koeffizienten gibt es auch andere Verfahren, soziale Ungleichheit zu messen. Der von der Bertelsmann-Stiftung entwickelte ‘Social Justice Index‘ gewichtet Faktoren wie Armutsrisiko, Bildungschancen und Arbeitsmarktzugang höher als die Gini-Methode und ist dadurch differenzierter. 2019 belegte Deutschland dort unter allen OECD-Ländern Rang 10. Die TOP 5 nahmen die skandinavischen Staaten einschließlich Island ein.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich in Deutschland der Gini-Koeffizient für soziale Gerechtigkeit nicht wesentlich verändert. Die Vermögensungleichheit ist leicht rückläufig, die Einkommensungleichheit ist gestiegen. Allerdings weisen solche Berechnungen ein hohes Maß an statistischer Ungenauigkeit auf. Beispielsweise wird Vermögen, das an der Steuer vorbei angelegt wird, nicht erfasst. Rentenansprüche, die bekanntlich auch eine Art von Vermögen darstellen, werden nicht einbezogen. Ähnliches gilt für die Krankenkassen-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Hier besteht in Deutschland nur ein geringer Anlass, für solche Notlagen Vermögen zu bilden und zurückzulegen.

Weltweit sieht die Lage etwas anders aus. Obwohl die Weltbevölkerung seit 1990 von 5,3 Mrd. Menschen bis 2023 auf rund 8 Mrd. gestiegen ist, sank nach Angabe der Weltbank die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, rund drei Jahrzehnte lang, und zwar von etwa 1,9 Mrd. auf 650 Mio. Erst die Coronakrise und deren Folgen für die Weltwirtschaft haben diesen Trand unterbrochen.

Die Armutsforschung unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. Menschen in absoluter Armut leben unterhalb des Existenzminimums, sie können ihre wirtschaftlichen und sozialen Grundbedürfnisse nicht decken. Laut Definition der Weltbank sind Menschen extrem arm, wenn sie weniger als 2,15 Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Relative Armut beschreibt hingegen Armut im Verhältnis zum jeweiligen gesellschaftlichen Wohlstandsniveau eines Landes: Demnach zählt jemand dann als relativ arm, wenn sein Einkommen deutlich unter dem nationalen Durchschnitt liegt und der betroffenen Person dadurch die sozioökonomische sowie soziokulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist.

In Deutschland muss im Regelfall niemand hungern, daher wird hier die relative Armut erfasst. Nach EU-Definition gilt jemand als armutsgefährdet, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2022 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 15.000 Euro netto im Jahr. Laut Statistischem Bundesamt waren im vergangenen Jahr demnach 14,7 Prozent der Bevölkerung von (relativer) Armut bedroht. Die Quote bewegt sich seit längerem auf einem ähnlichen Niveau: seit 2008 lagen die Werte immer zwischen ca. 15 und 17 Prozent. 

Besonders betroffen sind ältere Menschen: bei Personen ab 65 Jahren lag der Wert mit 18,3 Prozent fast vier Prozentpunkte höher als im Gesamtdurchschnitt. Eine besondere Belastung stellen die stark gestiegenen Preise für Nahrungsmittel und Energie dar. Einer Berechnung der EU zufolge ist die Ausgabenbelastung der ärmsten zehn Prozent in Deutschland deutlich stärker gestiegen als die der reichsten zehn Prozent. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit seiner Armutsgefährdungsquote im unteren Mittelfeld. Am höchsten ist die Quote in Bulgarien, dem Baltikum und Rumänien. Besonders niedrige Werte weisen hingegen Tschechien, Slowenien und Ungarn auf.

Von hoher absoluter Armut betroffen sind vor allem afrikanische Staaten südlich der Sahara-Zone. Während der Coronakrise stiegen die Schulden dieser Staaten stark an, was zu höheren Zinsbelastungen führte. Hinzu kam die unsichere Versorgungslage mit Grundnahrungsmitteln. Daher waren nach Angaben der Welternährungsorganisation 2022 zwischen 80 und 170 Millionen Menschen mehr von Hunger betroffen als 2019. Die aktuelle Streichung der US-amerikanischen Entwicklungslungshilfeleistungen durch Donald Trump passt in diesen Trend.

Neben dem Tag der sozialen Gerechtigkeit wird noch am 17. Oktober der ‘Internationale Tag für die Beseitigung der Armut‘ begangen, der 1992 durch die UN-Vollversammlung geschaffen wurde. 2024 stand der Tag unter dem Motto „Sozialer und institutioneller Misshandlung ein Ende setzen. Gemeinsam handeln für gerechte, friedliche und inclusive Gesellschaften.“ Hintergrund ist, dass unter Armut leidende Menschen oft gegen gesellschaftliche Diskriminierung und systemtische Hindernissen zu kämpfen haben, die ihnen den Zugang zu unverzichtbaren Leistungen erschweren.

Mit diesem Gedenktag wollen die UN den Kampf gegen die weltweite Armut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Bekanntlich ist die Beendigung der Armut das Ziel 1 der ‘Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung‘: “Armut ist in allen ihren Formen und überall beenden”, verschiedet 2015. Dies bedeutet, dass bis 2030 kein Mensch auf der Welt mehr in extremer Armut – das heißt mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag – leben soll. Die Zahl der Menschen in Armut, gemessen an nationalen Definitionen, soll mindestens halbiert werden. Alle Menschen sollen durch soziale Sicherungsleistungen abgesichert sein und alle sollen gleiche Rechte und Chancen beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, Vermögen und natürlichen Ressourcen haben.

Zwei internationale Mahntage zum Thema „Soziale Gerechtigkeit“, eine    Agenda der Vereinten Nationen, bei der die Bekämpfung der Armut auf Platz 1 steht, eigentlich müsste das die internationale Gemeinschaft optimistisch stimmen. Doch der Rückschritt während der Corona-Krise, der Ukraine-Konflikt und die Energiekostensteigerung zeigen, auf welch schwachem Fundament das Streben nach sozialer Gerechtigkeit steht. Daher liegt das Ziel der Vereinten Nationen, die extreme Armut dauerhaft zu beseitigen, derzeit in weiter Ferne. Die Weltbank geht davon aus, dass im Jahr 2030 noch mehr als eine halbe Milliarde Menschen in absoluter Armut leben wird. Heute muss knapp die Hälfte der Weltbevölkerung mit weniger als 7 $ pro Tag auskommen.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.