Wie indigene Gemeinden im ecuadorianischen Amazonasgebiet wählen
Ecuador hat gewählt und das Ergebnis hätte kaum knapper ausfallen können. Der linke Kandidat der Indigenenpartei Pachakutik, Leonidas Iza, kam nur auf gut 5 Prozent der Stimmen. Im April geht es in die Stichwahl zwischen der progressiven Luisa González und Amtsinhaber Daniel Noboa. Beim ersten Wahlgang am 9. Februar gaben fast 14 Millionen Wahlberechtigte in 24 Provinzen ihre Stimme ab. Auch in den abgelegenen indigenen Gemeinden im Amazonasgebiet, die nicht ans Straßennetz angeschlossen sind.
Es ist ein nebliger Tag, an dem die Ecuadorianer*innen ihre neue Regierung wählen, zumindest in der Regenwaldgemeinde San Victoriano, im Herzen des Amazonas. 105 indigene Siona aus drei Gemeinden sind aufgerufen, hier ihre Stimme abzugeben. Ihre Heimat, die nur per Boot erreicht werden kann, ist nicht nur räumlich ziemlich weit von der Hauptstadt Quito entfernt, wo die Politik gemacht wird. Ob die Kandidat*innen, die heute im Rennen sind, überhaupt eine Vorstellung davon haben, wie die Realität in den abgelegenen Gemeinden aussieht? Ihre Wahlkampfthemen drehen sich vor allem um Sicherheit, die Bekämpfung der Kriminalität und des Drogenhandels, die Energiekrise und die Wirtschaft.
Nicht dass diese Themen die Amazonasbewohner*innen nicht interessieren würden. Denn was in den Großstädten des Landes passiert, hat durchaus Auswirkungen auf die hiesigen Gemeinden, vor allem wenn sie, wie hier im Naturschutzgebiet Cuyabeno, hauptsächlich vom Tourismus leben. Als Ecuador Anfang 2024 weltweit Schlagzeilen machte, weil Staatspräsident Daniel Noboa Großeinsätze gegen Drogenbanden einleitete und das Land militarisierte, brach der Tourismus schlagartig zusammen. Im Regenwald bekam man zwar von den Schießereien, deren Bilder durch die Medien gingen, nichts mit, doch viele hatten Angst, durch das Land zu reisen, das wie ein Kriegsgebiet dargestellt wurde.
Tatsächlich ist die Strategie von Interimspräsident Noboa, der seit November 2023 im Amt ist, aufgegangen. Viele Ecuadorianer*innen loben ihn für seine Entschlossenheit, die Kriminalität im Land mit harter Hand zu bekämpfen. Dabei sind es eher Scheinerfolge. Zwar sank die Zahl der Morde laut Polizeiangaben von über 8000 im Jahr 2023 auf knapp 7000 im Jahr 2024, doch im Januar 2025 erreichte sie mit 731 Morden einen neuen Höchststand.
Renato Rivera von der Beobachtungsstelle für organisierte Kriminalität in Ecuador betonte gegenüber der ARD, dass die Macht der Kartelle keineswegs gebrochen sei. Es habe eine Zersplitterung der verschiedenen Gruppen stattgefunden, die die Gewalt noch weiter anheize.
Derweil lebt auch Noboa selbst nicht ungefährlich. Die Gruppen, die er als Terrororganisationen einstufte, stehen in ihrer Gewaltbereitschaft nicht hinter der der Regierung zurück. So trug Noboa bei seinen Wahlkampfveranstaltungen stets eine kugelsichere Weste, schließlich war im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen der Kandidat Fernando Villavicencio bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt Quito erschossen worden.
Lange Schlangen? Nur im Dickicht, nicht vorm Wahllokal
Doch zurück nach San Victoriano. Erst seit wenigen Jahren können die Mitglieder der indigenen Gemeinden von Cuyabeno vor Ort wählen, früher mussten sie dafür ins nächste Dorf mit Straßenanbindung fahren, mehr als zwei Bootsstunden entfernt. Das Wahllokal wurde im Gemeindesaal eingerichtet, einer kleinen Holzhütte ohne Fensterscheiben, ausgestattet mit ein paar Tischen und Stühlen und bewacht von Sicherheitskräften. Nur Wahlberechtigte dürfen das Lokal betreten, das in zwei Teile geteilt ist. Auf der einen Seite wählen die Frauen, auf der anderen die Männer. Warum? „Weil das immer so ist.“
Inzwischen hat sich der Nebel verzogen und die Sonne bringt den feuchten Rasen des Fußballfeldes zum Dampfen, das sich, wie üblich, im Zentrum der kleinen Gemeinde befindet. Hühner und Hunde streunen herum und die Menschen, die schon gewählt haben, sitzen in kleinen Gruppen zusammen, scherzen und erzählen sich den neusten Tratsch, über die Nachbarin, die zwanzig Kilo abgenommen hat, die Großmutter, die sich in Quito operieren lassen musste. Politik ist auch am Wahltag nicht das Hauptthema.
In unregelmäßigen Abständen hört man Motorgeräusche näherkommen und kurz darauf legt wieder ein Boot am Gemeindesteg an. Ein paar weitere Wähler*innen trudeln ein. Wer sich an diesem Tag auf dem Fluss begegnet, ruft sich zu: „Hast du schon gewählt?“
Das Wahllokal ist von sieben Uhr morgens bis fünf Uhr abends geöffnet, wie überall im Land, nur dass sich in den Städten lange Schlangen bilden und die Stimmenzähler*innen alle Hände voll zu tun haben, während sie sich hier fast zu Tode langweilen. Viele Wähler*innen kommen gleich früh am Morgen und den Rest des Tages geht es sehr gemächlich zu. Trotzdem dürfen die Stimmenzähler*innen ihre Posten nicht verlassen. Je vier sitzen an einem der aufgebauten Tische, händigen die Wahlunterlagen aus und achten darauf, dass alles korrekt abläuft. Nach der Schließung des Wahllokals beginnt das mühsame Auszählen der Stimmen, das oft bis Mitternacht dauert. Danach der Heimweg per Boot, der zurzeit länger dauert als normal, weil der Wasserstand des Flusses so niedrig ist, dass man nur langsam vorwärtskommt. Es ist ein langer Tag, an dem weder für die Stimmenzähler*innen noch für die Beamt*innen Verpflegung zur Verfügung gestellt wird. Dem einen oder anderen bringen Verwandte einen Teller Essen von zu Hause mit. Und irgendwann beginnt jemand, Wildtrauben und andere tropische Früchte von den Bäumen zu schütteln und zu verteilen.
An diesem Tag müssen vier Stimmzettel ausgefüllt werden: einer für Staatspräsident*in und Vizepräsident*in, einer für das Nationalparlament, einer für das Provinzparlament und einer für das andine Parlament. Jeder Wahlzettel zeigt die Konterfeis der Kandidat*innen, und angekreuzt wird hinter einer Abdeckung mit den Lettern „Die Stimme ist geheim“.
Nachdem alles in die Wahlurne, eine Kartonschachtel auf dem Boden, eingeworfen wurde, müssen die Wähler*innen mit einer Unterschrift oder einem Fingerabdruck bestätigen, dass sie an der Wahl teilgenommen haben, und erhalten ihre Bestätigung, einen Zettel in der Größe einer Kreditkarte. Der ist wichtig, denn wer nicht wählen geht, muss ein Bußgeld von 60 US-Dollar zahlen
Amazonisch analog
Abends um fünf werden bereits die ersten Hochrechnungen veröffentlicht: Noboa liegt vorn, doch der Abstand zu seiner Hauptgegnerin Luisa González wird immer kleiner. Die Hoffnung, dass er auf über 50 Prozent der Stimmen kommen und damit schon im ersten Wahlgang gewinnen könnte, ist schnell zerschlagen.
Die Stimmenzähler*innen in San Victoriano werden noch ein paar Stunden lang beschäftigt sein, bis die hiesigen Resultate ausgezählt, von Hand fein säuberlich in die offiziellen Tabellen eingetragen und alle Unterlagen in versiegelte Säcke verpackt sind. Die Militärs bringen sie dann in die Stadt, wo alles online registriert wird. Und angesichts des knappen Resultats zählt praktisch jede Stimme. Am Schluss beträgt der Unterschied zwischen Noboa und González, einer Vertrauten des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007-2017), gerade mal 0,2 Prozent. Wie die Stichwahl am 13. April ausfallen wird, ist schwer vorauszusagen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 483 März 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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